Einfluss seiner Studentenzeit auf sein Verhältnis zur Wissenschaft

Diese Auslassungen des Achtzehnjährigen sind äußerst bemerkenswert in Hinsicht auf Tolstois spätere Stellung zur Wissenschaft. Wie sehr wir dabei die geistige Selbständigkeit des Jünglings anerkennen, und wie sehr uns andererseits seine verblüffende Ehrfurchtslosigkeit abstößt, dürfen wir doch nicht vergessen, dass Tolstoi von einer russischen Universität unter der Regierung Nikolais I. sprach, das heißt von einer polizeilich überwachten Bildungsanstalt in einem despotisch regierten Lande zur Zeit der schlimmsten Reaktion. Dabei sprach Tolstoi noch von einem Fach (die Geschichte), das als Wissenschaft an sich unmöglich unter einem despotischen Regimente, zu jener Zeit, wie wir aus gleichzeitigen Quellen wissen, in geradezu komischer Weise ad usum delphini zurechtgestutzt war. Wir werden wohl kaum fehlgehen in der Annahme, dass an Tolstois späterer, von ihm selber immer wieder betonter Wissenschaftsverachtung die Kasaner Universität der vierziger Jahre wenigstens zu einem großen Teile die Schuld trägt. Tolstoi hat da eben gar nicht tatsächliche Wissenschaft kennen gelernt, vielmehr nichts als polizeilich beschnittene Wissensbrocken. In diesem Zusammenhang ist aber auch noch zu bemerken, dass Tolstoi sich selber zu bilden anfängt in den fünfziger Jahren: zu der Zeit, als jener unselige naturwissenschaftliche Dogmatismus herrschte, der aus tüchtigen Naturwissenschaftlern miserable Weltenerklärer machte (Vogt, Büchner, Moleschott) . Ihre Weltanschauungen nahm nun Tolstoi kritiklos für das Ergebnis der Naturwissenschaft hin, während es sich hier tatsächlich um Metaphysik schlechtester Art handelt, die nur von Naturwissenschaftlern gepredigt wurde. Tolstoi, der den ,,exakten“ Aberglauben nie völlig überwand (alles, was er überhaupt an wissenschaftlicher Methode besitzt, stammt daher), ist diesen Irrtum nie losgeworden. Er hat niemals begriffen, dass metaphysischer Materialismus nicht das Ergebnis der exakten Naturwissenschaft, vielmehr allenfalls ihre Methode ist. Später, als er sich bereits bekehrt hatte, las er wissenschaftliche Bücher (sofern er solche las) von vornherein nur in der Absicht, sie zu widerlegen. Seine Methode, das heißt sein Mangel an jeglicher Methode, ist dabei bis zuletzt derselbe geblieben. So viel im voraus zum Kapitel von Tolstois Verachtung der Wissenschaft.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi