Eindruck der freien Bergvölker auf Tolstoi

Am 2. Juli 1851 schreibt Tolstoi in sein Tagebuch: „Soeben denke ich, indem ich mich aller unangenehmen Augenblicke entsinne, die, wenn ich traurig bin, mir allein in den Kopf schleichen . . .: Nein! Zu wenig Freude gibt es auf Erden, allzu fähig ist der Mensch, sich das Glück vorzustellen, und allzu häufig, um nichts und wieder nichts schlägt uns das Schicksal, und schmerzlich, allzu schmerzlich fasst es uns an unsere zarten Saiten, als dass wir das Leben noch zu lieben vermöchten. Und dann: es ist etwas ganz besonders Süßes und Erhabenes in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben — und ich weide mich an diesem Gefühl. Wie kraftvoll komme ich mir vor, allein allem gegenüber in der festen Überzeugung, dass man hier nichts zu erwarten hat außer dem Tod. — Und im selben Augenblicke denke ich auch schon mit Entzücken daran, dass ich einen Sattel bestellt habe, auf dem ich im Tscherkessenrock reiten werde, und wie ich den Kosakinnen nachstellen und in Verzweiflung sein werde, dass mein linker Schnurrbart etwas höher steht als der rechte; — und ich rücke ihn dann zwei Stunden lang vor dem Spiegel zurecht!“ Im August (1851) ist Tolstoi dann wieder in Starogladowsk, aber als ein völlig anderer. Jetzt hat er den Geist der kriegerischen, in homerischer Einfachheit lebenden Kosaken zu begreifen gelernt. Hier fand er, was er vor allem gesucht hatte: ein Volk, das sich auslebt jenseits aller gesellschaftlichen Schuld, ein Volk, in dem es keine Knechte gibt, das aber Freiheit und Leben deshalb verdient, weil es sie täglich erkämpfen muss. Tolstoi sucht die Gesellschaft dieser freien Menschen auf. Er will lernen von ihnen, vor allem vielleicht möchte er von ihnen lernen, einfach zu leben, ohne jeden inneren Zwang zu jenem selbstzersetzenden Nachdenken, das ihn selber immer wieder um die besten Augenblicke betrügt, das die Vollkraft seines Entschlusses lähmt und ihm niemals auszuruhen vergönnt bei einer reinen, einfachen, natürlichen Empfindung. Sicherlich leidet Tolstoi dabei auch noch unter der Last der unnatürlichen Gesellschaftszustände, deren Erinnerung er mit sich bringt in diese Ursprünglichkeit. (Seine soziale Schuld verlässt ihn keinen Augenblick: immer hört er das ferne Stöhnen seiner Leibeigenen.) Es ist aber doch wohl vor allem Tolstois faustische Anlage, die ihm keine Ruhe gewährt:

,,Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben.
Der unaufhaltsam in die Ferne dringt.
Und dessen übereiltes Streben
Des Lebens Freuden überspringt.“






Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi