Die politischen Verhältnisse des damaligen Russland

Werfen wir noch, bevor wir den Studenten Tolstoi endgültig verlassen, einen kurzen Blick auf den politischen Werdegang des damaligen Russland:

Der europäische Gedanke — und er zielt von vornherein auf Freiheit der Persönlichkeit: Freiheit des Gedankens und Freiheit des Gewissens — findet in Russland erst unter Katharina II. Eingang, die mit den französischen Enzyklopädisten geistvolle Briefe wechselte, für die Rechte der Menschen ,,schwärmte“ — und die Leibeigenschaft in Kleinrussland überhaupt erst einführte. Sie schickte zwar eine Anzahl junger Russen zur wissenschaftlichen Ausbildung nach Westeuropa, als aber einer von diesen, der unglückliche Raditscheff, es damit ernst nahm, ward er durch Bestrafungen und Einschüchterungen zum Selbstmord getrieben. Katharinas Sohn, Paul I., war bekanntlich verrückt, aber nicht so verrückt, um nicht in jedem Eindringen europäischen Geistes in Russland Gefahr zu wittern für sein despotisches Regiment, — soll er doch seinen Sohn und Nachfolger Alexander I., als der bereits verheiratet war, noch einmal geohrfeigt haben, als er ihn bei der Lektüre Rousseaus überraschte. Als dann Paul I. mit Wissen seines Sohnes ermordet war, atmete die russische Gesellschaft auf. Alexander I., der „Engel in Menschengestalt“, verhieß alle Freiheiten, — sogar das Freimaurertum blühte unter ihm in Russland. Wie Josef II., von dem Friedrich der Große meinte, er tue immer den zweiten Schritt vor dem ersten, wollte auch Alexander alles auf einmal machen: täglich entstanden neue Kommissionen zum Ausarbeiten aller möglichen Gesetze. Dabei zeigte es sich aber bereits, dass es Alexander nicht gar so ernst war mit seinem Liberalismus, als Napoleon in Russland einbrach. Es erfolgte damals ein mächtiger Aufschwung des nationalen Geistes. Auch ward dem Volke und das scheint nicht einmal nötig gewesen zu sein — damals außer der Aufhebung der Leibeigenschaft auch noch wie in Westeuropa eine Verfassung versprochen, — und das russische Volk wurde dabei betrogen, ganz ebenso wie die westeuropäischen Völker, nachdem sie im Kriege ihre Schuldigkeit getan hatten. Als Alexander I. nach Beendigung der Napoleonischen Kriege vom Wiener Kongress nach Russland zurückkehrte, war ihm seine europäische Rolle derart zu Kopf gestiegen, dass er sich nur noch mit ihr befasste und Russlands Schicksal dem beschränkten, brutalen Arakschejeff übertrug (der, ein ehemaliger Helfershelfer Kaiser Pauls, es nur einem Irrtum von seilen der Verschworenen verdankte, dass er am Leben geblieben war). Es brach damals in Russland eine traurige Ära jeglicher Art von Reaktion an: der Kaiser selber war seinem Volke unzugänglich — in mystischen Betrachtungen versunken und in asketischen Übungen befangen aus Reue darüber, dass er einst den Mördern seines Vaters die Hand gedrückt hatte. Gegen Ende seines Lebens erlebte er noch den Schmerz, eine gegen seine Person gerichtete Offiziersverschwörung zu entdecken. Als dann Alexander I. starb, brach der berühmte Dezemberaufstand los, jene eigenartige revolutionäre Erhebung, die halb unter der Aegide der französischen Enzyklopädisten und der französischen Revolution, halb unter dem Einflüsse eines echt russischen Mystizismus stand. Der Aufstand musste in dieser Form misslingen: es fehlten alle Vorbedingungen zu ihm im Schosse der russischen Gesellschaft. Die Aufrichtigkeit und Idealität der Dekabristen steht dabei außer allem Zweifel. Über ihren vornehmen Irrtum zu richten, steht nicht uns an. Auf die Dekabristen folgte die trübste, heilloseste Reaktionszeit. Nikolaus I., als Mensch achtbar, macht als Russlands Herrscher den Geist eines brutalen, beschränkten Unteroffiziers zum ausschlaggebenden für das Geschick seines Vaterlandes. Natürlich fehlte es nicht an Gegenbewegungen. Der Zar rüstete aber nicht ab; die Strafen wurden vielmehr immer barbarischer. Gerade in dem Jahr, als Tolstoi die Universität verließ, hat bekanntlich Dostojewski unter dem Galgen gestanden, um erst, nachdem er alle Todesängste ausgekostet hatte, durch einen Kurier des Zaren zur Zwangsarbeit in Sibirien „begnadigt“ zu werden. Und das alles deswegen, weil er einer harmlosen, vorwiegend literarischen Gesellschaft angehört hatte, deren Mitglieder sich des großen Verbrechens schuldig gemacht hatten, sich durchaus theoretisch für den Sozialismus zu begeistern. Nun ist es freilich nicht leicht zu entscheiden, ob in der letzten Regierungszeit Nikolaus I. der politische Druck im Zu- oder Abnehmen begriffen war. Mir will es so scheinen: äußerlich hatte der politische Druck nicht nachgelassen, nur hatte die russische Volksseele in ihrem elementaren Drange, sich zu äußern und selber ihre Geschicke zu lenken, endlich Wege gefunden, die der politischen Bevormundung unzugänglich waren. Zunächst machte sich ein starker Hang zu religiösem Mystizismus geltend, eine Bewegung, die anfangs von der Kirche freudig begrüßt, diese weit hinter sich ließ, und deren Anhänger aus dem Bewusstsein einer Gemeinschaft mit Gott die Furcht vor den Menschen verlernten und bald schon deutlich den Willen zu erkennen gaben, auch die Geschicke dieser Welt nach den Geboten Gottes zu ordnen.


Von hier aus setzt dann jene Selbstbesinnung des russischen Volkes ein, die zum Teil in die Öffentlichkeit trat im Panslavismus. Eine von Hause aus durchaus sittliche Bewegung (wir werden auf sie noch eingehend zu sprechen kommen, da Tolstoi mächtig von ihr beeinflusst ward), erschien sie zunächst als Stütze des Staates, um dann freilich ihre eigenen Wege zu gehen. Alles in allem genommen finden wir bereits in den letzten Regierungsjahren Nikolaus I. ein mächtig brodelndes Geistesleben in Russland, das sich aber an die äußere Form des Despotismus derart angepasst hatte, dass es der plumpen Polizeizensur kaum noch Handhabung bietet zu Gegenmaßregeln, und das, nicht mehr gebunden von ihr, im stillen mit ganzer Kraft arbeitet an der Einigung aller geistigen und sittlichen Kräfte der Nation. Tolstoi wird später in den Strudel der gesellschaftlichen Bewegung hineingerissen. Vorderhand aber gibt es für ihn nur erst ein aristokratisches Russland.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi