Die Weltanschauung des Studenten Tolstoi

Wir dürfen hier wohl auch die Frage aufwerfen, ob Tolstois Verwerfen allen historischen Denkens (wir wissen dabei nicht, ob er hier aus der Not eine Tugend macht, oder ob er umgekehrt das unhistorische Denken braucht, um Gefühlsbeunruhigungen gleichsam kosmische Beruhigung versprechen zu können) nicht auch zum Teil wenigstens von jener falschen Auffassung der Geschichte herrührt, die ihm auf der Kasaner Universität beigebracht worden war, und die er selber wohl trefflich charakterisiert hat in dem, was er oben sehr naiv als das Wesen der wissenschaftlichen Geschichte bezeichnet. Es ist im Anfang bereits darauf hingewiesen worden, dass ein Quell des russischen Nihilismus wohl darin zu suchen ist, dass den Russen die westeuropäische Wissenschaft immer nur im polizeilich zugeschnittenen Gewande verabreicht wurde, und dass die Russen von jeher in solcher Karikatur einer Wissenschaft das eigentliche Wesen der Wissenschaft erblickten. Den hohen Mut aber, der sich offenbart in einem Suchen nach Wahrheit auf jede Gefahr hin, hat kein russischer Wissenschaftsverächter je begriffen, und auch Tolstoi ist dies sein Leben lang verschlossen geblieben. Sein Wahrheitssuchen galt immer nur der Beruhigung seines Gewissens. So ist er als Denker im achtzehnten Jahrhundert, dem unhistorischen Jahrhundert, stehengeblieben und hat in Jean Jacques Rousseau für immer seinen Lehrer gefunden. Fraglich ist es aber, ob diese Verehrung für Rousseau so kritiklos geblieben wäre bei Tolstoi, wenn er das Glück gehabt hätte, mit wirklicher Wissenschaft in Berührung zu kommen und Europas Geist zu begreifen. Und der geht einem nicht auf, wenn man einige Wochen lang deutsche Volksschulen und deutsche Universitäten besucht, dort aufs freundlichste aufgenommen wird, um sich nachher in Schmähungen über beides zu ergehen. Tolstoi hat aber, wie so viele seiner Landsleute, Europas Wissenschaft wohl vor allem darum so gehasst, weil Verstümmelungen von ihr — in denen er ihr eigentliches Wesen ansprach — ihm unter Polizeiaufsicht auf Schule und Universität verabreicht wurden, und das Auswendiglernen der zusammenhanglosen Fragmente westeuropäischer Bildung im Examen über seine Zukunft entschied. Tolstoi wäre wohl kaum jemals Wissenschaftler geworden. Bei seiner sittlichen Empfindlichkeit und den nicht zu übersehenden Schäden des russischen Lebens mussten in ihm die praktischethischen Bedürfnisse überwiegen. Tolstoi wäre aber wohl, wenn über seiner Studentenzeit ein glücklicherer Stern geschwebt hätte, der Wissenschaft wenigstens nicht mit solcher Ehrfurchtslosigkeit begegnet, die ihn so bloßstellt, und uns von vornherein mit Misstrauen erfüllt. Indessen spricht es für Tolstois wissenschaftliches Gewissen, dass er auf der russischen Universität der damaligen Zeit nicht bleiben wollte. Wenn er sich auch noch einmal zum Übergangsexamen meldete und glatt durchfiel, so war das offenbar nur Formalität, Beruhigung seines Gewissens: denn er hatte sich überhaupt nicht vorbereitet. Im April 1847 reichte dann Tolstoi „wegen zerrütteter Gesundheit und häuslicher Umstände halber“ sein Entlassungsgesuch ein und erhielt ein im ganzen ehrenvolles Abgangszeugnis von der Universität ausgestellt.

Als in den neunziger Jahren Tolstois deutscher Biograph Löwenfeld den Greis frug, warum er bei seinem stets unersättlichen Wissensdurst damals die Universität verlassen habe, antwortete Tolstoi wie folgt:


„Darin bestand vielleicht gerade die Hauptursache meines Austritts aus der Universität. Mich interessierte massig, was unsere Lehrer in Kasan lehrten. Erst beschäftigte ich mich ein Jahr lang mit orientalischen Sprachen, machte aber sehr geringe Fortschritte. Ich gab mich allem mit Feuereifer hin, las eine große Menge Bücher, aber alles in ein und derselben Richtung. Wenn mich irgendeine Frage interessierte, so wich ich von ihr nicht nach rechts noch nach links, und bemühte mich, alles kennen zu lernen, was irgendwie ein Licht werfen konnte eben auf diese eine Frage. So war es mit mir auch in Kasan.“

An anderer Stelle äußert sich Tolstoi noch folgendermaßen über seinen Austritt aus der Universität:

„Die Ursachen meines Abganges von der Universität waren zweifache: Erstens, dass mein Bruder den Kurs beendigt hatte und abreiste. Zweitens, wie seltsam es auch erscheinen mag, die Arbeit über Kaiserin Katharinas ,Instruktion‘ und den ‚Geist der Gesetze‘ (ich besitze sie heute noch) eröffnete mir ein neues Gebiet selbständiger Geistesarbeit, während die Universität mit ihren Forderungen eine solche Arbeit nicht nur nicht förderte, ihr vielmehr nur im Wege stand.“

Diese bereits erwähnte Arbeit über die ,,Instruktion“ der Kaiserin Katharina hat demnach Tolstoi, mehr als alles andere, zur Überzeugung gebracht, dass für ihn auf einer russischen Universität der damaligen Zeit kein Raum sei. Tolstoi fand nämlich (und das ist für einen achtzehnjährigen Studenten der damaligen Zeit wahrhaft erstaunlich), dass in der „Instruktion“ zwei Grundsätze vorliegen: die revolutionären Ideen des damaligen Europas (sie sind ausnahmslos Montesquieu entnommen) und der Despotismus und die Ruhmsucht der Kaiserin Katharina. Letzteres Prinzip gewinnt die Oberhand. Tolstoi kommt zu dem Schluss, die ,,Instruktion“ der Kaiserin Katharina habe mehr Ruhm ihrer Verfasserin eingetragen, als Nutzen geschaffen für Russland. Natürlich wäre die Veröffentlichung eines solchen Ergebnisses unmöglich gewesen in der damaligen Zeit.

Werfen wir nunmehr noch einen flüchtigen Blick auf das Seelenleben Tolstois während der eben beschriebenen Epoche, das heißt von seinem sechzehnten bis zu seinem neunzehnten Lebensjahre. Tolstoi selber hat uns ausführlich darüber berichtet im „Jünglingsalter“. Den Übergang vom Knaben zum Jüngling kennzeichnet er dort wie folgt:

„Das Wesen meiner damaligen Weltanschauung bestand in der Überzeugung, dass die Bestimmung des Menschen im Streben nach sittlicher Vervollkommnung beruht, und dass diese Vervollkommnung leicht möglich und ewig ist. Indessen hatte ich mich bis zu dieser Zeit nur an der Entdeckung neuer Gedanken ergötzt, die aus diesen Grundüberzeugungen herausflossen, und auch an dem Aufstellen glänzender Pläne einer sittlich tätigen Zukunft. Mein Leben ging aber dabei seinen unveränderten, kleinlichen, verwöhnten und müßigen Gang. Diese Tugendgedanken . . . gefielen vorderhand nur meinem Verstande, nicht meinem Gefühle. Es kam aber eine Zeit, da stiegen diese Gedanken mir mit so frischer Kraft einer sittlichen Entdeckung in den Kopf, dass ich erschrak, wenn ich daran dachte, wieviel Zeit ich verloren hatte. Und alsogleich, noch im selben Augenblicke, wollte ich dann diese Gedanken auf das Leben anwenden, in dem festen Entschluss, ihnen schon niemals mehr untreu zu werden. Von dieser Zeit an rechne ich den Beginn meines Jünglingsalters.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi