Die Tante Jergolsky

Tatjana Alexejewna Jergolsky — sie war in einem Jahre mit Tolstois Vater geboren (1795) und auf einer Stufe mit Tolstois Tanten erzogen worden — ist von allen, die sie kannten, geliebt worden wegen ihres festen, entschlossenen, energischen und dabei doch aufopfernden Charakters. In ihrer Jugend von großer Schönheit, liebte sie Tolstois Vater, der ihre Liebe erwiderte und sie heiraten wollte. Sie aber wollte nicht dem in zerrütteten Verhältnissen mit der Sorge um Mutter und Schwestern nach dem Tode seines Vaters Zurückgebliebenen eine reiche Heirat unmöglich machen. Unter ihren nachgelassenen Papieren fand sich folgende, dem Datum nach kurze Zeit nach dem Tode von Tolstois Mutter abgefasste Tagebucheinzeichnung: ,,Nikolai (Tolstois Vater) hat mir heute einen merkwürdigen Antrag gemacht: ihn zu heiraten, seinen Kindern eine Mutter zu sein und sie niemals zu verlassen. Ich habe den ersten Vorschlag abgelehnt, aber versprochen, den zweiten zu erfüllen, solange ich lebe.“

Und das hat sie gehalten. Tolstoi sagt von ihr: ,,Ihr Hauptcharakterzug war Liebe, und wie sehr ich auch nicht möchte, dass dem so sei, die Liebe zu einem Menschen, zu meinem Vater! Nur von diesem Mittelpunkte aus ergoss sich ihre Liebe auf alle Menschen. Ich fühlte, dass sie auch uns liebte, seinetwegen, durch ihn, und dass sie alle liebte, weil ihr ganzes Leben Liebe war!“


Tolstoi, der von jeher — wir werden dem immer wieder bei ihm begegnen — die Menschen danach beurteilte, wie sie sich zu denen verhalten, die wehrlos sind von ihnen, fährt in der Charakteristik seiner Tante so fort: ,,Mit den Dienstboten war sie gut, sprach niemals zornig zu ihnen, konnte den Gedanken nicht ertragen an Prügel und Rute, aber sie glaubte, dass Leibeigene eben Leibeigene sind, und verhielt sich zu ihnen wie eine ,Gnädige‘.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi