Die Schicksale des russischen Volkes. Die orthodoxe Kirche.

Als zeitlich erstes und vielleicht auch als dem Range nach erstes der meiner Meinung nach für das russische Volk bestimmendsten Erlebnisse, erscheint mir seine Bekehrung zum Christentum, seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche. Natürlich bedeutet es ein sehr kühnes Unterfangen, den Einfluss der orthodoxen Kirche auf das russische Volk auch nur in größeren Umrissen feststellen zu wollen. Immerhin ergeben sich einige Momente hier ganz von selber. Zunächst möchte es freilich geboten sein, auf gewisse Vorurteile hinzuweisen, die der griechisch-katholischen Kirche gegenüber in weiten Kreisen bestehen. Gewiss! Sie ist nicht mitgegangen mit dem Fortschritt der Zeiten — wir haben aber in der Tatsache eines Beharrens im Wechsel der Zeiten eigentlich etwas dem russischen Geiste Entsprechendes erkannt. Der Russe, auch der längst nicht mehr kirchengläubige, weigert sich seinem innersten Wesen nach, historische Bedingtheit anzuerkennen (in allem, was das Menschendasein betrifft). Auch die Kirche muss demnach, wenn der Russe sich zu ihr bekennen will, ein von Ewigkeit her Feststehendes bedeuten. Es darf nichts Veränderliches in ihr sein. Selbstverständlich liegt in diesem Nichtrechnen der Kirche mit dem Fortschritt der menschlichen Erkenntnis, wenn es auch dem Volksinstinkt durchaus entspricht, doch auch wiederum ein Grund für die Gleichgültigkeit der Kirche gegenüber, für die fast traditionelle Kirchenverachtung des bewussten, aufgeklärten Russen — (auch von den Kirchen Westeuropas glaubt er, sie verharrten genau so bei längst überwundenen Weltanschauungen, wie es in der griechischen Kirche Tatsache ist). Indes muss rückhaltlos zugegeben werden, dass die griechische Kirche — bei vielen uns seltsam anmutenden Vorstellungen (so z. B. vom Verweilen der Seele im Fegefeuer, von der Unreinheit gewisser Tiere, namentlich des Hundes, und auch von der Unreinheit der Frau im Zustande der Menstruation: sie darf dann nicht zur Kirche gehen), — sich doch immer auch erwiesen hat als Hüterin der altchristlichen Sittlichkeit, der urchristlichen Tugenden. Hierin vor allem liegt auch wohl der immer noch sehr starke Einfluss der orthodoxen Kirche auf das russische Volk gegründet. Ihre tatsächliche Popularität beruht meines Erachtens viel weniger — wenn überhaupt — auf der Jenseits furcht des einfachen Russen, als vielmehr auf seinem tiefinneren Einverstandensein mit den Geboten seiner Kirche. Der einfache Russe erblickt in ihnen eine gleichsam himmlische Bestätigung dessen, was er von Hause aus als absolutes Sollen erlebt. Die von der griechischen Kirche gelehrten altchristlichen Vorschriften der duldenden Menschenliebe entsprechen so vollkommen den Anschauungen des einfachen Russen, dass man annehmen möchte, das Christentum sei hier entstanden, oder es hätte wenigstens hier entstehen müssen, so völlig in Einklang mit den Geboten der Kirche erkennen wir die wahrhaft großen Seiten des einfachen Russen: seine geradezu antike Gottergebenheit im Sterben, seine schier unerschöpfliche Kraft im Verzeihen und im Vergessenkönnen erlittener Übeltaten. Hinzu kommt, dass die tausendjährige Leidensgeschichte des russischen Volkes es an sich schon unlösbar verketten musste mit einer Religion, die den in der Zeit Leidenden auf ein besseres Jenseits vertröstet, und im Diesseits diejenigen Tugenden anbefiehlt, die auch der Geknechtete zu üben vermag, und die ihn dann erheben über die Knechtschaft des Leibes zur Freiheit der Seele. Und dass die orthodoxe Kirche das russische Volk hat erhalten können durch Jahrhunderte lang währendes unsagbares Elend hindurch in Tugend und Reinheit, das allein schon müsste uns mit Ehrfurcht erfüllen vor ihr, wenn wir auch nicht wüssten, dass in der orthodoxen Kirche solche Keime ewiger Wahrheiten enthalten sind, dass ein auf der Höhe westeuropäischen Gedankens stehender, weltenoffener Geist wie Wladimir Solowieff daran denken konnte, diese Kirche auszusöhnen mit Wissenschaft und Philosophie, sie zum Grundpfeiler zu erheben einer einheitlichen Heilslehre für die gesamte Menschheit!

Dabei gilt es denn auch, mit allem Nachdruck zu betonen, dass die orthodoxe Kirche immer nur der Gewalt weichend sich hat missbrauchen lassen zu Polizeidiensten und Staatszwecken, und nur insofern, als sie solch unchristlichem Ansinnen der despotischen Regierung keinen Widerstand entgegensetzte. Es geschah das aber immer und überall gegen den Willen und zum aufrichtigen Schmerze der edelsten Söhne der griechischen Kirche!


Wenn wir nunmehr von dem Einfluss handeln, den sie in tausendjähriger Erziehung auf die russische Volksseele ausübte, und uns dabei im besonderen klar werden wollen darüber, inwiefern die griechische Kirche die Aufnahme des Europäer-Geistes im russischen Volke beeinflusste, in welch ganz bestimmte Bahnen sie ihn von vornherein leitete, und welch ganz bestimmte Grenzen sie seinem Eindringen gegenüber aufrichtete, so sind natürlich alle meine Schlüsse hier wie überall mit größter Vorsicht aufzunehmen. Zunächst muss hier — bei aller Ehrfurcht vor der orthodoxen Kirche, und indem wir unentschieden lassen, ob sie überhaupt anders verfahren konnte, so wie sie nun einmal ist — in aller Deutlichkeit ausgesprochen werden, dass „orthodox“ rechtgläubig heißt, dass die russische Kirche ihre Bekenner lehrt, dass sie die einzigen Gläubigen, insbesondere die einzigen Christen sind, die den richtigen Glauben haben. Man könnte nun freilich demgegenüber geltend machen, dass alle Kirchen so tun; die westeuropäischen Kirchen würden indes, sofern sie solches tatsächlich lehrten — und sie lehren das denn doch nur unter ganz bestimmten Einschränkungen, — wohl kaum so wörtlich genommen werden von ihren Bekennern wie die russische Kirche, weil den Völkern Westeuropas eine reichhaltige weltliche Geisteskultur die Möglichkeit zu einer gewissen Kritik gewährt, die in Russland bis jetzt, für die große Masse wenigstens, wegfällt. Es muss demnach der an sich empfindlich geartete Russe, der jedes Wissen mit Leiden erkauft, durch diese Lehre seiner Kirche, die ihn zum Träger des einzig richtigen Glaubens macht, nur bestärkt werden in seiner natürlichen Neigung, sein Wissen für das Wissen, seine Erfahrungen für die Erfahrungen zu halten. Und eng damit zusammen hängt auch die bei dem denkenden Russen oft peinlich auffallende Unfähigkeit, in einer von der seinigen verschiedenen Anschauung etwas anderes als Unaufrichtigkeit zu erblicken (ein geistiger Mangel, der z. B. einen Tolstoi, der mit Worten stets Toleranz predigt, einfach unfähig macht, zu begreifen, was Toleranz überhaupt bedeutet). Der kritikhemmende Einfluss der russischen Kirche — die ihre Bekenner Rechtgläubige heißt — scheint mir überhaupt wohl kaum zu bestreiten zu sein, und darum hat die russische Kirche kein Recht, sich die Hände in Unschuld zu waschen gegenüber der bedenklichen Ehrfurchtslosigkeit des aufgeklärten Russen (nicht des gebildeten: gebildet sein heißt Ehrfurcht haben) vor alle dem, was nicht so ist wie er selber. Der Russe, dem seine Kirche seit über einem Jahrtausend einredet, er allein habe den rechten Christenglauben, vermag eben nur schwer zu begreifen, dass andere anders zu denken vermögen (nicht nur in kirchlichen Dingen, auch im Leben, vor allem, was Politik und sogenannte Aufklärung anbetrifft), und dabei doch von keinen schlechten Beweggründen geleitet zu sein brauchen in ihren Anschauungen. Auch die — geistig so unendlich hemmende — Abneigung des aufgeklärten Russen gegen historische Auffassung des Menschen und seiner Schicksale muss wohl durch die Kirche mindestens genährt worden sein; der Russe hatte ja in ihr ständig etwas vor Augen, was in tausend Jahren dasselbe geblieben ist (wenigstens scheinbar). Damit aber trägt die Kirche einen Teil der Schuld auch für die Abgeneigtheit des aufgeklärten Russen, einen Menschen aus seinen Verhältnissen heraus verstehen zu wollen, eine Abgeneigtheit, die vielleicht längst schon zur Unfähigkeit wurde, und die ihrerseits wiederum den Russen so oft unfähig macht zur Gerechtigkeit, außerstande, dem Nichtrussen kein Unrecht zu tun wenigstens in Gedanken. Man könnte des weiteren auch wohl noch mit einigem Rechte auf den Einfluss der orthodoxen Kirche mit ihren absoluten Geboten jene offensichtliche Abneigung des Russen zurückführen, nachzudenken über die Folgen einer von ihm sittlich gebilligten Tat auf die Mitmenschen. Der Russe hegt unausgesprochen den — der menschlichen Denkträgheit so entgegenkommenden — Aberglauben an die Allmacht des Guten, oder deutlicher gesagt, daran, dass, wenn er seine Selbstsucht einmal beherrscht, die Mitmenschen und das Weltall ihm nun auch den Gefallen tun müssen, seine Tat so ausschlagen zu lassen, wie er sie beabsichtigt hatte. Erlebtes Wohlwollen enthebt in den Augen des Russen jeder Pflicht zum Nachdenken. Daher denn auch jenes kritiklos geübte Verzeihen in Russland, wobei der Verzeihende das verziehene Übel aus der Welt geschafft zu haben glaubt, in Wirklichkeit aber nur die Missetat zu Jahren kommen lässt, weil er den Missetäter durch allzu frühes und allzu sichtbar müheloses Verzeihen um die erzieherische Kraft der Reue betrügt. Ganze Bände ließen sich schreiben über diesen wohlgemeinten — und dabei der natürlichen russischen Indolenz so entgegenkommenden — Aberglauben an eine Welt, die so geschaffen ist, dass der Selbstlose Allmacht ausübt in ihr. Auch hier ist Tolstoi typisch: auch sein Christentum baut sich auf diesem Aberglauben auf: Tolstoi hat niemals das Wagnis im Guten anerkennen wollen!

Schließlich möchten wir auch noch dem Einfluss der orthodoxen Kirche jenes merkwürdige Sträuben des denkenden Russen zuschreiben gegen jede Weltanschauung, die nicht den Menschen zum Weltenmittelpunkt hat. Die orthodoxe Kirche lehrt ja bekanntlich eine unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier — die übrigen Geschöpfe lässt sie überhaupt links liegen oder hat für sie bloß mechanische Erklärungen. Das sind Automaten, die der Höchste aufzieht — und damit ist der natürlichen Empfänglichkeit des von Hause aus gemütsweichen Russen der Tierwelt gegenüber eine geradezu peinliche Grenze gesetzt. Der Russe quält völlig gedankenlos Tiere, vor allem Pferde und Hunde. Wie oft ward mir dabei in Russland, wenn ich mich bei unerträglichen Tierquälereien einzuschreiten veranlasst sah, und den Betreffenden ersuchte, sich doch selber in die Lage des gepeinigten Tieres zu versetzen, aufrichtig erstaunt und harmlos lächelnden Mundes geantwortet: ,,Das ist ja doch ein Tier!“ So erinnere ich mich, dass einst meine sehr fromme und gutherzige Köchin einen Hund mit heißem Wasser verbrühte, weil er in die Küche gelaufen war, wo ein Heiligenbild hing! Diese Vorstellung einer absoluten Kluft zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung, wie sie die griechische Kirche lehrt, hat sich tief eingenistet in den Anschauungen auch des aufgeklärten Russlands. Der Anblick übergroßen Menschenelends mag da mitgespielt haben. (Und ihm gegenüber erscheint es tatsächlich fast frivol, sich um Tiere zu kümmern.) Wie dem aber auch sei, tatsächlich finden wir in keinem russischen Erlösungstraum — auch nicht bei Tolstoi — Platz für unsere demütigen Brüder, die Tiere, und für unsere stummen, sündlosen Schwestern, die Pflanzen. Das aufgeklärte Russland denkt streng anthropozentrisch: der heilige Franz hat nicht für es gelebt. Und das ist um so seltsamer, als das heutige Russentum eigentlich nur als ursprüngliches Künstlertum zu begreifen ist (wenn man sich nicht beschränkt verhalten will ihm gegenüber, das heißt, es einfach als unsympathisch ablehnt). Künstlertum ist aber immer auch ein Bekenntnis zum Glauben an die Allbeseeltheit, oder setzt wenigstens solchen Glauben voraus.

So viel über den Einfluss der orthodoxen Kirche auf den Charakter des russischen Volkes — im besonderen in Hinsicht auf das nicht intuitive Russland. Um alles hier zusammenzufassen, so hat die Kirche bei gar nicht abzuschätzenden Verdiensten um die Sittlichkeit in Russland (wir sind völlig außerstande, uns vorzustellen, welche entsetzlichen Rohheiten die orthodoxe Kirche tatsächlich verhütet hat im Laufe der Jahrhunderte: alle die Rohheiten, deren unbeherrschte Sinnlichkeit und völlige Gedankenlosigkeit fähig sind. Wir können davon fast in jeder russischen Zeitung Einzelheiten lesen, dass uns die Haare zu Berge stehen) — doch vor allem kritikhemmend gewirkt auf den russischen Geist, ihn bestärkend in Vorurteilen, die bereits in der gefühlsmäßigen Veranlagung des Russen vorbereitet waren. Dabei war aber die Kirche — ich werte nicht, ich spreche nur Zusammenhänge aus, die mir zweifellos erscheinen, — eine außerordentlich schützende Pflegestätte für das intuitive Russland. In ihrem Schosse konnte der einfache russische Bauer — vor unendlichen Horizonten unter grenzenlosem Himmel schwer mit seiner anspruchsvollen Erde ringend um das tägliche Brot — ungestört von allem Vorwitz des Menschengeistes, jene wortlosen Zwiegespräche führen mit dem Ewigen, die, wenn sie wohl auch in ihrer Fülle von Menschen ungehört, geradeaus in den Himmel aufsteigen — dennoch in einer gewissen Widerstrahlung, in einem Wirken, das wir zwar nicht in Worte zu fassen vermögen, aber auch nicht abzustreiten imstande sind, das ganze Leben der Nation durchdringen, sie bekräftigend in ihrem Vornehmsten, Selbstgewissheit verleihend ihrem Selbstlosesten, und große Dichter begeisternd zu unsterblichen Werken! —

Ich muss dabei offen bekennen, dass ich meinerseits die orthodoxe Kirche nicht nur, wenigstens einstweilen noch, unentbehrlich halte für Russland. Vor allem auf sie rechne ich auch, wenn ich hoffe, dass das intuitive Russland, das Russland, das erlebt wird weit abseits von den großen Städten auf Russlands unendlichen Feldern und Fluren, das Russland, das eines Geistes ist mit uns und letzten Träumen von uns Verwirklichung verheißt, sich — ungeachtet allen Umherreißens an ihm von rechts und von links — ruhig weiter entfalten wird, bis es einst die Hülle seines dumpfen Träumens durchbricht und jenes erlösende Wort spricht, das wir alle von ihm erhoffen. Und es wird kein russisches Wort sein, dieses erlösende Wort, es wird ein Wort sein aus unseres Europas Jugendzeit, das wir nur vergessen hatten, und das uns aufklären wird über die Ziele, denen wir heute zustreben nur in dunklem Drängen und auf tausendfältigem Pfade, die wir aber noch wussten, damals in unserer Jugendzeit, als unser Weg noch einfach war, und das letzte hohe Ziel noch vor uns lag im lichten Morgenrot des Glaubens! —


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi