Die Schicksale des russischen Volkes. Die Leibeigenschaft

Die bisher betrachteten Schicksale des russischen Volkes betrafen es mehr oder minder gleichmäßig in seiner Gesamtheit. Nicht so die Leibeigenschaft. Sie teilte das russische Volk in Herrschende und Geknechtete, in Befehlende und Gehorchende.

Jene seltsame Widerspruchs fülle, die das gesamte geistige Leben in Russland durchzieht, und es unmöglich macht, den russischen Geist irgendwo einheitlich zu fassen, wurzelt meines Erachtens letzten Endes darin, dass eben durch die Leibeigenschaft hundertfünfzig Jahre hindurch das russische Volk geteilt war in Leidende und Genießende, in Entrechtete und in schrankenlose Gewalt Ausübende, dass demnach jede Einwirkung, die das russische Volksganze seit Beginn der Leibeigenschaft traf, stets eine doppelte Gegenwirkung auslösen musste, und beide Gegenwirkungen dann wiederum aufeinander einzuwirken bestimmt waren. So entstand denn jene unenträtselbare Fülle der allerverschiedensten sozialen Gesichter in Russland. Die Leibeigenschaft erklärt es wohl vor allem, dass der Künstler auf Russland hinblickt in restlosem Entzücken, der Kulturforscher in ratloser Enttäuschung, und der Menschenfreund in verzweifelndem Entsetzen! Wohl konnte man die Leibeigenschaft abschaffen, und das geschah auch vor nunmehr fünfzig Jahren, man konnte aber weder dem Abkömmling ganzer Generationen von Seelenbesitzern Ehrfurcht beibringen vor dem Menschen an sich, noch vermochte man es, die Nachkommen ganzer Geschlechter von Hörigen Ehrfurcht zu lehren vor der eigenen Person! Hier liegen vielleicht die tiefsten Wurzeln von Russlands sozialen Übelständen: das freiheitliche Russland kann noch nicht durchdringen bis zur Ehrfurcht vor dem Menschen (man hat dort noch nicht die Menschenquälerei an sich selber überwunden), und es endet immer und überall wieder in peinlichen Umgehungen um den Menschen als solchen: in der Doktrin, derentwegen die tatsächlichen Menschen gequält werden wie vordem — und die Lust daran verlernt sich nicht so leicht, auch vergisst sich nicht so rasch ein anderthalb Jahrhunderte währendes Beispiel! Das einfache, schwer arbeitende russische Volk aber vermag sich noch immer nicht daran zu gewöhnen, dass es heute für sich selber zu sorgen hat, dass es nicht mehr schafft nur in Rücksicht auf einen launischen, unberechenbaren, kleinlich-selbstsüchtigen Herrn, vor dem es sich bloß durch List und Betrug zu schützen vermag.


Das Schicksal, despotisch regiert zu werden, ward durch die Leibeigenschaft gleichsam noch einmal und in unendlicher Vervielfältigung der russischen Volksseele aufgezwungen — und musste hier alle ursprünglichen Einwirkungen des despotischen Regiments noch einmal festigen und immer tiefer Wurzel fassen lassen. Noch einmal, und diesmal durch Geschlechter hindurch, und Tag für Tag, ward ein Teil des russischen Volkes vor die Frage gestellt: ,,Willst du leben, auch wenn dir jede Verfügung über dich selber genommen ist? Willst du leben, auch wenn du außerstande bleibst, deine Söhne vor Misshandlungen, deine Töchter vor Schande, und Söhne, Töchter und Gattin vor Hunger und Not zu schützen?“ Und auch hier wissen wir nicht, wieviel freie Männer den Tod der Knechtschaft vorzogen. Freilich wissen wir, dass mit Ermordung von Gutsbesitzern verbundene Hörigenaufstände niemals völlig aufhörten, solange die Leibeigenschaft bestand in Russland, und dass in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens solche Aufstände einen derartigen Umfang annahmen, dass man wohl schon dadurch zur Aufhebung der Leibeigenschaft gezwungen ward! In der Tat, es gehört die ganze, nicht auszudenkende Güte, Geduld und Dankbarkeit des russischen Bauern dazu, dass er in allem seinem Elend nicht auf den einfachen Gedanken verfiel: da es nun doch einmal für ihn keine Sicherheit im Leben gibt, so wenigstens mit seinem Untergange auch den verhassten Sklavenhalter zu vernichten. Überhaupt bleibt es eines jener großen Rätsel der russischen Volksseele — die wir uns keineswegs anmaßen, lösen zu können, vor denen wir nur in Ehrfurcht verharren — dass überhaupt die Leibeigenschaft anderthalb Jahrhunderte in Russland bestehen konnte: auf den einzelnen Seelenbesitzer kamen ja im Durchschnitt wenigstens ein halbes Hundert Hörige. Polizei und Militär war auf dem flachen Lande so gut wie gar nicht vorhanden. Die Willkür der Seelenbesitzer offenbarte sich aber dabei — in zahllosen offenkundig gewordenen Fällen — als eine über alle Begriffe hemmungslose und von viehischen Instinkten geleitete. (Über die Grausamkeiten, die an Hörigen verübt wurden, ließen sich ganze Bände füllen mit solchen Einzelheiten, dass wir Europäer für immer jeden Hochmut verlieren müssten vor den niedrigst stehenden Kannibalen des schwarzen Erdreichs.) Augenscheinlich hatte aber das russische Volk bereits von den Zeiten des Tartarenjoches her so zu leiden gelernt, und hatte es in seiner Religiosität einen solchen Trost und in seiner natürlichen Güte eine solche Kraft gefunden, in aller Knechtschaft durch liebevolle Teilnahme am Leidensgenossen sich die Achtung vor sich selber zu erhalten, dass es das gar nicht auszudenkende Elend der Leibeigenschaft zu überleben vermochte, ohne Schaden zu nehmen an seiner Seele, ohne seine hohen christlichen Tugenden einzubüssen! Und damit blieb dem russischen Volke die Fähigkeit zu jeder menschlichen Höhe. (Man lasse sich hier nicht irremachen durch gewisse Urteile über das russische Volk, die in Russland heute noch gang und gäbe sind, dabei tatsächlich aus der Leibeigenschaftszeit stammen, und augenscheinlich von Seelenbesitzern zu ihrer Rechtfertigung erfunden wurden, zum Beispiel: „Unser Volk ist nun einmal so. Es verträgt keine Güte!“ So sprechen heute noch alle Menschenquäler in Russland. Sie vergessen dabei aber nur, dass sie dem Volke überhaupt gar keine Gelegenheit geben, seinen Undank zu beweisen. Die Güte, die gelegentlich einmal von dieser Seite dem Volke wird, wird abgelehnt, weil sie nicht mehr verstanden wird als Güte im Angesichte der Fülle von Unrecht, die man von dieser Seite her sonst gewöhnt ist. Bedauerlich, dass die Herde in Russland diese Albernheiten nachschwätzt! Solche Massenverleumdungen sind dabei durchaus nicht neu, und ihr Ursprung längst schon erkannt. Grillparzer lässt seine Jüdin von Toledo zu den Juden verfolgenden Christen also sprechen: ,,Ihr lähmet uns und scheltet, dass wir hinken!“)




Dabei muss der tief religiöse Sinn dieses hochbegnadeten Volkes durch die fünf Generationen hindurch währende Gewohnheit an ein Leben, das jeder äußeren Sicherheit und jeglicher menschlichen Würde entbehrte, eine zwar fast übermenschliche Prüfung, aber auch eine gar nicht abzuschätzende Kräftigung und Vertiefung erfahren haben! Freilich ward so der Schwerpunkt des russischen Sich-Auslebens in die Verwirklichung der einfachen christlichen Tugenden verlegt. Und es eignet wohl aus dieser Zeit her dem einfachen Russen jenes geradezu instinktive Sichselber-Gleichachten jedem Menschen, auch dem Ärmsten der Armen, wovon zahllose Beispiele im russischen Alltagsleben uns immer wieder mit ergriffenem Staunen erfüllen, und was wir nicht anders, denn als rein christlich bezeichnen können. (Zum Beispiel der würdige Kaufmann in langem Barte und bis über die Knie reichendem Tuchrocke reicht seine Zigarette einem unaussprechlich verwahrlosten Bettler, lässt ihn einige Züge tun, nimmt die Zigarette wieder in Empfang, steckt sie in seinen Mund und geht weiter, als ob nichts geschehen wäre. — Der Augenzeuge einer Hinrichtung berichtet: Da an dem Galgen etwas nicht ganz in Ordnung ist — es fehlt die Seife zum Einschmieren des Stranges — und so eine kleine Verzögerung eintritt, setzt sich der Henker zu dem Verurteilten auf den unter dem Galgen stehenden Schemel, gibt ihm eine Zigarette und unterhält sich aufs unbefangenste mit ihm, bis das Zeichen zur Exekution gegeben wird. Nunmehr waltet der Henker seines Amtes, legt dem Verurteilten den Strick um den Hals und führt seinen Tod herbei, indem er denselben Schemel unter ihm wegzieht, auf dem er eben noch mit ihm zusammen saß.)

Dadurch aber, dass sie passiver Art sind, diese Tugenden des russischen Volkes, ist ihnen durchaus nicht die seelenheilende Wirkung genommen, die jeder Tugend eignet, und die wohl darin beruht, dass Tugendübung im Menschen die Selbstachtung erhält. Das vermag die Tugend aber wohl nur darum, weil sie eine tatsächliche Leistung darstellt: die Überwindung des instinktiven, des sinnlichen Ichs zur Voraussetzung hat. Und diese Überwindung muss in der Tugend des Leibeigenen eine sehr schwerwiegende sein. Man stelle sich doch nur einmal die Willkür des durch das ständige Vorbild des despotischen Regimentes zu schrankenloser Gewissenlosigkeit geradezu erzogenen russischen Seelenbesitzers vor! Und doch hat sich ganz zweifellos das einfache russische Volk die Achtung vor sich selber erhalten; wir sehen es ja seelisch ungeschwächt aus allen diesen furchtbaren Prüfungen hervorgehen und mit ungebrochener Kraft zur Nächstenliebe. Wenn somit überhaupt ein Volk in Europa den Beweis erbracht hat von einer schier unbesiegbaren sittlichen Kraft, so ist es eben das russische Volk gewesen. Das heißt nicht etwa, dass es sittlich höher steht als andere Völker, seine Sittlichkeit ist nur erprobter dadurch, dass sie sich jahrhundertelang dem Tode gegenüber behauptete.

Nun bedeutet aber jedes sittliche Tun, ob es sich handelnd oder leidend äußert, zugleich immer auch seinem innersten Wesen nach ein Unabhängigsein der Seele, ein Über-dem-Schicksal-stehen. Man hätte schon daraus folgern müssen, dass auch der leibeigene Russe sich eine gewisse geistige Unabhängigkeit bewahrt haben müsse. Leider hat man sich diese Frage kaum jemals vorgelegt. (Und das hängt wohl mit jener so bedauerlichen Lücke innerhalb unserer sozialen Erkenntnis zusammen, die dadurch entstand, dass von jeher den Sklavenbesitzer eine für ihn wohl notwendige Befangenheit im Klassengeiste nicht dazu kommen ließ, sich nach dem Seelenzustande seiner Sklaven zu fragen; die selber aber waren wohl nicht imstande, sich auszusprechen über ihr Erlebnis, sie hätten auch kein williges Ohr gefunden, oder, wenn sie sich auszudrücken vermochten — wie Epiktet — so standen sie eben bereits jenseits ihres Sklaventums.) Diese Frage aber, die Frage nach dem Geistesleben der Leibeigenen, wenigstens nachträglich als eine zu erhebende geahnt zu haben, blieb Tolstoi vorbehalten und beweist vielleicht mehr wie alles andere seine überragende Genialität. Tolstoi zeigt uns — und das zu einer Zeit, wo er noch gar nicht daran dachte, seine Leibeigenen freizulassen — in den überlegenen Kritiken, die er in seinen Dichtungen seine Leibeigenen üben lässt an dem Verhalten ihrer Seelenbesitzer (wir finden das vor allem in dem als menschliches Dokument wohl unschätzbarsten aller Tolstoischen Werke: „Dem Morgen eines Gutsbesitzers“), dass der russische Leibeigene, wenn er sich nur selber treu blieb (das heißt wenn er nicht in Trunksucht verfiel, was ihm niemand übelnehmen darf), völlig unbestechlich urteilte nach dem Maßstabe der christlichen Sittlichkeit und der gesunden Vernunft, und er sich hierbei auch gar nicht dreinreden ließ von anderen. Diese geistige Unabhängigkeit des Leibeigenen blieb unbemerkt — weil sie ungefragt die Aussprache vermied, was (wenn es auch wohl vor allem aus Klugheit geschah) doch ganz im allgemeinen ein Zeichen wahrhaft geistiger Überlegenheit darstellt: denn die verzichtet auf Beifall und Anerkennung. Und ganz augenscheinlich stehen wir auch heute noch beim einfachen russischen Volke vor einer gewissen wohl geringerer Interessiertheit entspringenden Überlegenheit. Wer wie zum Beispiel ich, jahrzehntelang mit einfachen russischen Leuten zu tun hatte, der wird durch jenen Hinweis Tolstois auf die geistige Unabhängigkeit der Leibeigenen nachträglich mancherlei verstanden haben von dem, was ihm bisher rätselhaft erschien: so bei aller äußerlichen — und uns Westeuropäern übertrieben anmutenden — Unterwürfigkeit des ganz einfachen Russen seine bisweilen blitzartig aufleuchtenden spöttischen Blicke. Und dann, so oft ich auch einen von den ganz einfachen Russen, mochte er auch die bescheidenste Tätigkeit ausüben, in irgendeiner Sache um seine Meinung frug, so musste ich jedesmal staunen über sein unerschütterliches, durch keinerlei sonst willig anerkannte Autorität seines Dienstherrn zu beeinflussendes und meist tatsächlich unanfechtbares Urteil — und das sowohl in Dingen des Gewissens, wie in Dingen des einfachen gesunden Menschenverstandes.

Man kann vielleicht zusammenfassend behaupten, dass der sittliche Selbsterhaltungstrieb so mächtig lebte im russischen Volke, dass es ungebrochen an Geist und Seele aus der Leibeigenschaft hervorging, und dabei einzig und allein der Schwerpunkt der russischen Sittlichkeit auf mehr leidende Tugenden verschoben ward, wozu übrigens schon von Hause aus der Hang vorhanden gewesen zu sein scheint im Russen, und wodurch jene passive Widerstandskraft zur Ausprägung gelangte in ihm, gegenüber allen möglichen Beeinflussungsversuchen, die heute noch von rechts und links ohne Unterlass herumreißen am russischen Bauern.

Ein offensichtlicher Mangel im Urteile des einfachen Russen scheint mir freilich auch auf die Leibeigenschaft zurückzugehen: jene bereits erwähnte, seltsame Sorglosigkeit hinsichtlich der Folgen seiner sittlich gebilligten, aus selbstlosen Motiven hervorgegangenen Taten. Was blieb dem Leibeigenen anders übrig? Wohl konnte er persönlich erlittenes Unrecht verzeihen, wohl vermochte er Leid und Not in heldenhafter Geduld zu ertragen und sich, was die eigene Person anbetrifft, auch die letzten Opfer aufzuerlegen für die Seinen — er konnte aber nicht seine halberwachsenen Töchter davor schützen, dass sie sein Seelenbesitzer zu Dirnen machte, noch konnte er seine halberwachsenen Söhne davor bewahren, dass sie dem Vaterhause entrissen, in irgendeiner Lehre zu Krüppeln geschlagen, oder dass sie gleichaltrigen Herrensöhnchen als persönliche Diener zuerteilt, von diesen verdorben und brutalisiert wurden. Dem Hörigen blieb für seine Person nichts übrig, als sich selber so weit zu überwinden, als das möglich ist. Alles andere stand in Gottes Hand. Durch solche, jahrhundertelang währende Gewöhnung des Russen an die Machtlosigkeit des selbstlosen Willens fast allem anderen außer der eigenen Person gegenüber, ist wohl auch jenes seltsame, teils ästhetisch, teils fatalistisch anmutende Moment in die russische Sittlichkeit gelangt, auf das wir bereits mehrmals hingewiesen haben: der Russe ist durchaus geneigt, anzunehmen, dass Sittlichkeit eine Sache ist, die ausschließlich für den Menschen da ist, der den Willen zu ihr erlebt. (Als innere Schönheit oder als absolutes, nach den Zusammenhängen dieser Welt überhaupt gar nicht mehr fragendes Gottesgebot? Wer weiß das?) Das Moment der Verantwortung für andere, das in unserer westeuropäischen Auffassung ein Wesentliches im sittlichen Erlebnis ausmacht, kommt für den Russen nur so nebenbei in Betracht, nur insofern sein unmittelbares Gefühl gerade erregt wird. Natürlich liegt hier die sehr große Gefahr nahe, dass das sittliche Erlebnis die Neigung beibehält, in eine Sache für die eigene Person auszuarten, in fruchtlose Askese oder kaum minder fruchtlosen Ästhetismus. Und das sehen wir ja bereits im modernen Russland auf Schritt und Tritt: die gute, das heißt die selbstlose Absicht wird hier derartig ausschliesslich bewertet in jedem Tun, dass sie endlich allen Inhalt verliert und sich verflüchtet zum bloßen Schwur auf ein Parteidogma, der dann dem so „Erprobten“ erlaubt, all sein unüberwundenes Allzumenschliches auszulassen an seinem ,,nicht überzeugten“ Mitmenschen. Es liegt überhaupt die Gefahr nahe für den sittlich Strebenden in Russland, dass er unbewusst seine Tätigkeit mehr richtet auf Befriedigung seelischer Bedürfnisse, als auf Beseitigung tatsächlicher Übelstände. Den Höhepunkt dieser Gefahr stellt Tolstoi dar. Seine Hauptlehre (dass man nicht Widerstand leisten solle gegenüber jeglicher Gewalt) entstammt zweifellos der Anschauungsweise des Leibeigenen. Es war dies überhaupt die dem Leibeigenen einzig mögliche Sittlichkeit. Tolstoi übernimmt sie aus Ehrfurcht vor dem russischen Bauern, in dem er sein menschliches Vorbild erblickt, weil er sich an ihm zumeist versündigt zu haben bewusst ist. Damit aber, mit dieser Lehre vom Nichtwiderstandleisten gegen das Übel, wälzt Tolstoi die Verantwortung für andere von sich, auch da, wo er sie noch sehr wohl zu tragen vermag. Denn Tolstoi ist nicht Leibeigener gewesen, und wir, denen er solche Weisheit predigt, sind das heute auch nicht!

Dass aber überhaupt ein starker ästhetischer Einschlag in der russischen Sittlichkeit enthalten ist, scheint mir schon daraus hervorzugehen, dass dem Russen da, wo er sich mit sich selber in Einklang fühlt, vor allem da, wo er die eigene Tat bewundert, die Neigung eignet, überhaupt nicht zu bemerken, ob und wie Außenstehende, völlig Unbeteiligte, hier betroffen werden. Die sieht er gar nicht, und wenn er sie sähe, würde er sie übersehen. So ist es zum Beispiel dem „idealistischen Studenten“ durchaus erlaubt, wenn er durch Universitätsstreik seiner Empörung über die russische Regierung Ausdruck verleihen will, alle anderen Studenten aufs brutalste am Hören der Vorlesungen zu verhindern! (Hierbei werden denn auch bisweilen durchaus liberale Professoren nicht bloß beschimpft, sie sind auch geohrfeigt worden, was aber später als „aus leicht begreiflicher Erregbarkeit geschehen“, willig verziehen wird von der liberalen Gesellschaft und von den Betroffenen selber.) Beim einfachen russischen Volke vermochte ich freilich diesen Ästhetismus im Sittlichen kaum je zu bemerken, um so mehr fiel mir gerade hier der Fatalismus auf im sittlichen Tun. Man teilt zwar ohne weiteres auch das letzte Stück Brot mit dem zufällig angetroffenen Bettler, man gibt ihm auch gelegentlich eine altchristliche Lehre, im allgemeinen aber lässt man einen jeden für sich selber sorgen, und das, nicht aus Gleichgültigkeit, vielmehr aus uralter Erfahrung, dass man im Grunde dem Nächsten doch nicht zu helfen vermag — und diese Erfahrung entstammt sicherlich vor allem der Leibeigenschaft!




Überhaupt liegt es mir durchaus fern, in Abrede zu stellen, dass die Leibeigenschaft, auch ganz abgesehen von aller unausdenkbaren, von dem Eingeweihten niemals mehr zu vergessenden Verschwendung, die sie trieb mit Menschenglück, Menschenleben und Menschenanlagen, auch unmittelbar einen sehr verderblichen Einfluss ausgeübt hat auf den russischen Volkscharakter (ich betone das ausdrücklich: Anhänger der Leibeigenschaft, und sie sind noch nicht ausgestorben in Russland, könnten mich sonst für einen Gesinnungsgenossen halten, der in der Leibeigenschaft ein von Gott gesandtes Mittel zur Veredlung der russischen Volksseele preist). Es bleibt aber ein Wahn, dass Unglück den Menschen besser macht, höchstens vermag es einen guten Menschen nicht schlechter zu machen. Das ist schon sehr viel! Und das ist auch, alles in allem genommen, der Fall gewesen beim russischen Bauern in den furchtbaren Zeiten der Leibeigenschaft. Aber auch er hat natürlich moralisch gelitten und wird lange Zeit brauchen, um sich völlig zu erholen.

Da ist zunächst die immer wieder peinlich überraschende Unehrlichkeit im russischen Volke, jener Hang zu kleinen Diebstählen und Unterschlagungen, der besonders den frisch eingewanderten Westeuropäer oft so schmerzlich berührt (weil er den, den er da als Dieb ertappt, meist schon liebgewonnen hatte — und nun in seiner europäischen Pedanterie einen „Unwürdigen“ verwöhnt zu haben glaubt, was freilich ein großer Irrtum ist). Dass hier die Leibeigenschaft in hohem Grade die Schuld trägt, steht für mich wenigstens außer allem Zweifel: einmal ward der Leibeigene meist aus drückendster Not zum Diebstahl veranlasst — (Tolstoi, der ganz offenbar seine Erfahrungen an seinen Leibeigenen gemacht hatte, berichtet, um nur ein ganz kleines Beispiel anzuführen, dass oft eine ganze Leibeigenenfamilie nur ein einziges warmes Kleidungsstück besaß, und man denke dabei an die sieben Monate Frost in Russland!) Solchen Diebstahl verzeiht sich der Russe nun immer und tut recht daran. Denn der Herrgott hat ihn nicht geschaffen zum Verhungern und Erfrieren! Hinzu kommt die im russischen Volke tatsächlich lebendige altchristliche Anschauung, dass, wer zwei Röcke hat, einen davon dem geben soll, der keinen besitzt. Das befolgt der einfache Russe meist wörtlich, und ist daher auch seinerseits gegebenen Falles durchaus geneigt, den zweiten Rock des Nächsten für sich zu beanspruchen als etwas, was ihm zukommt, ohne dass er darum zu fragen braucht! Dass überhaupt hinter sehr vielen Diebstählen in Russland ein tief eingewurzelter kommunistischer Hang steht, scheint mir zweifellos. Wie oft ward mir, wenn ich einen kleinen Diebstahl rügte, staunend geantwortet: „Es ist ja soviel davon da!“ (Und darauf ist eigentlich auch gar nichts zu entgegnen. Denn die Güter dieser Welt sind doch zweifellos dazu geschaffen, verwendet zu werden, um die Notdurft zu stillen, nicht aber dazu, aufgespeichert zu werden, um dem, der ihrer bedarf, einen möglichst hohen Preis zu entlocken!) Außerdem konnte aber auch der russische Bauer, gerade, wenn er sich seine geistige Unabhängigkeit wahrte in aller Knechtschaft, überhaupt zu keinem richtigen Begriff von persönlichem Eigentum erzogen werden. Musste er es doch hundertfünfzig Jahre lang erleben, dass das, was er erarbeitet hatte im Schweiße seines Angesichts, und das er so nötig hatte, um elementarste Notdurft zu befriedigen, dass das einfach sein Seelenbesitzer sich aneignete — um es zu verschwelgen und zu verprassen! Die Erziehung zum Eigentumsbegriff hat wohl überhaupt durch Generationen hindurch währende wirtschaftliche Selbständigkeit zur Voraussetzung, und wird naturgemäß da am nachhaltigsten sein, wo der hauptsächlichste Besitz durch persönliche Arbeit erworben wurde, und er dabei ein beschränkter ist: nur da erlebt das Volk, dass jedes Besitztum von Hause aus nur dazu da ist, damit der Besitzende sich zu erhalten vermag in voller Leistungsfähigkeit! So finden wir denn auch die höchste Ehrlichkeit in Ländern mit alteingesessenem, freien Bauerntum — und wir haben bereits Hoffnung auf ein solches in Russland!

Auf eine gewisse List und Verschlagenheit, die dem dienenden Russen eignet, sei hier nur im Vorübergehen aufmerksam gemacht. Auch das geht natürlich auf die Leibeigenschaft zurück: was blieb denn dem rechtlosen Hörigen anders als List? Und auch jener offensichtliche Leichtsinn des einfachen Russen, seine an sich glückliche, aber leider meist zum Unglück führende Sorglosigkeit in Hinsicht auf die Bedürfnisse dieser Welt hat wohl auch ihren Ursprung in den finsteren Zeiten der Leibeigenschaft, sie ist wohl entstanden damals, als der Hörige sich jeden Augenblick seines Lebens den überhaupt nicht vorauszusehenden Launen seines Seelenbesitzers wehrlos ausgesetzt sah. Da konnte keinerlei Vorsicht, keinerlei Nachdenken, keinerlei Selbstbeherrschung etwas nützen, und nur ein sorgloser Sinn, ein Nichtdenkenswollen an den morgigen Tag bewahrte vor Verzweiflung.

Das will man heute aus vielen Gründen nicht wahr haben. Auch als ich bereits längere Zeit in Russland lebte, habe ich mich dagegen gesträubt, gewisse Eigenheiten des russischen Volkes aus der Leibeigenschaft heraus zu erklären. Es schien mir das wie ein Unrecht an diesem Volke, das mir vom ersten Augenblicke meines Verweilens in Russland so liebenswert erschien, dass mir Russland als die eigentliche Heimat des Menschenherzens vorkam.

Ich konnte aber schließlich doch nicht umhin, anzuerkennen, dass die Leibeigenschaft über viele Widersprüche im russischen Volkscharakter aufzuklären vermag, und dass es durch ihre Berücksichtigung möglich wird, die treffliche Grundanlage im Russen aufrechtzuerhalten trotz seiner augenfälligen Fehler. Vergegenwärtigen wir uns: der Sklave muss erraten, muss lügen, muss schmeicheln — und das wird leicht zur Gewohnheit, weil es fast immer Vorteil, bisweilen Rettung, und meist eine gewisse innere Befriedigung gewährt. Der Sklave muss leichtsinnig sein, weil seine Lage unerträglich ist, und sein Vorausbedenken doch nichts nützt! Der Sklave, dessen Schicksal von der Laune seines Herrn abhängt — und die Laune ist auch heute noch allmählich in Russland — muss den Zufall über die eigene Tüchtigkeit stellen, und das ist dann schwer sich wieder abzugewöhnen (zumal das moderne Leben mit seinem provozierenden Luxus auf Seiten ganz offenbarer Nichtstuer diese Neigung täglich bestärken muss, und das nicht bloß im russischen Bauern). Der Sklave muss sich daran gewöhnen, sein eigenes Geschick zu vergessen, um es überhaupt ertragen zu können. Daher jene Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit und jener Leichtsinn des arbeitenden Russen, über den ausländische Meister, Techniker und Ingenieure so klagen, und denen selbst ein Tolstoi insofern recht gibt, als er — in „Anna Karenina“ — spricht von der Neigung des russischen Arbeiters, „möglichst bequem zu arbeiten, sorglos sich selber zu vergessen und über nichts nachzudenken“.




Schließlich wäre es ein schweres Unrecht am russischen Volke, wenn man nicht auch auf das Konto der Leibeigenschaft jene unselige soziale Haltlosigkeit setzen würde, die den Westeuropäer immer wieder in Staunen setzt, wenn wir zum Beispiel erleben, dass ein bisher durchaus anständiger Arbeiter oder Hausdiener plötzlich, wenn er einmal anfängt zu trinken, fast ohne jeden Übergang in ganz wenigen Tagen auf die Stufe des Bettlers und Nachtasylkunden herabsinkt und dabei einer Verwahrlosung verfällt, von der wir in Westeuropa kaum eine Vorstellung haben. Sicherlich kommt hier ein Teil der Schuld auch dem Alkoholismus an sich zu, indes muss die Schuld an ihm in weitem Masse wiederum der Leibeigenschaft zugeschrieben werden. Unsere Abstinenten — ich selber zähle mich seit Jahren zu ihnen und darf darum mitreden — sind leider wenig geneigt, den sozialen Einflüssen die ihnen in Hinsicht auf die Verführung zum Alkohol tatsächlich zukommende Rolle zuzuerkennen. Das mag aus taktischen Gründen geboten sein. Man vergisst dabei aber allzu leicht, dass der Alkoholismus in sehr hohem Masse die direkte Folge sozialen Elends ist. Darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen: darauf weist auch schon ganz unmittelbar hin die spezifische Eigenschaft des Alkohols, dem Menschen eine grundlose Zufriedenheit mit sich selber zu gewähren, ihm zudem die Hemmnisse wegzutäuschen, die das Leben ihm entgegenstellt, und ihm so Selbstbewusstsein und Unabhängigkeitsgefühl wenigstens auf Augenblicke erleben zu lassen. Und die Sehnsucht nach diesem Erlebnisse drückt dem Alkoholiker immer wieder das Glas in die Hände. Demnach hätte der Alkohol für die Leibeigenen erfunden werden müssen, wenn er nicht schon gewartet hätte auf sie. Man vergegenwärtige sich doch nur einmal, welchen Anreiz ein, wenn auch nur momentanes Vergessen der Wirklichkeit haben muss für einen Menschen, der nicht nur persönlich ununterbrochenen Demütigungen und Entwürdigungen ausgesetzt ist, nein, dem nicht einmal die Möglichkeit zukommt, für die Seinen, die er liebt, und die auf ihn angewiesen sind, eintreten zu können. Wer hat das Recht, einen Stein zu werfen auf diesen Menschen, wenn der dann zur Flasche greift? Und wer darf den armen Hörigen verachten deswegen, dass er es vorzieht, zu trinken, statt seinen Peiniger totzuschlagen oder dem eigenen Sklavenleben ein Ende zu machen? Ganz abgesehen davon, dass letzteres in sehr vielen Fällen tatsächlich geschehen ist, war es immer gegen die Pflicht: denn auch so noch, in der ganzen Unsicherheit seiner Lage, in aller seiner Machtlosigkeit vor der Willkür seines Herrn, der über ihn verfügte wie es ihm gerade einfiel, auch so noch war der leibeigene Familienvater ein Schutz für Frau und Kinder, wenigstens ein lebendiger Vorwurf dem brutalen Herrn, wenn der sich vergriff an ihnen! Und dann, wenn der leibeigene Familienvater — sein Seelenbesitzer brauchte dazu bloß das Transportgeld bis Tobolsk zu zahlen — von seinem Herrn in Fesseln nach Sibirien geschickt ward — (und der gab meist der Behörde als Grund „unerhörte Frechheit“ an, das heißt, der Leibeigene hatte sich nicht hündisch demütig erwiesen!) — so mussten ihm dem Gesetze nach wenigstens die Söhne bis zu fünf Jahren, die Töchter bis zu zehn Jahren mitgegeben werden! Und das war doch wenigstens etwas! Immerhin besser, als die völlige Verlassenheit von Frau und Kindern, die damals ja immer nur sittliche Verderbnis, Vergewaltigtwerden und frühen Untergang zur Folge hatte!

Da alles dieses Elend hundertfünfzig Jahre lang herrschte und unvermeidlich war für jeden russischen Bauern, so muss man sich viel mehr darüber wundern, dass nicht ganz Russland im Alkohol verkommen ist, als darüber, dass die Neigung zum Alkohol in weiten Kreisen des russischen Volkes durch Generationen hindurch tatsächlich vererbt wird. Und damit sind denn auch dort — wir wissen das heute ganz genau — jene oft kaum wahrnehmbaren seelisch-geistigen Minderwertigkeiten mit vererbt, die den mit ihnen behafteten Menschen bei nur ganz geringen Schwankungen in seinem Erwerbsleben den — heute noch meist unheilbaren — sozialen Krankheiten der Prostitution, des Verbrechens und des Vagabundentums in die Arme treiben. Dabei bleibt es wohl in weit höherem Grade zurückzuführen auf den jahrhundertelang während der Leibeigenschaftszeit erlittenen Zwang, als auf das heutige soziale Elend, dass es auch im Russland unserer Tage noch tatsächlich seelisch unschuldige Prostituierte gibt, und dass die allermeisten von ihnen sich selber ihr Gewerbe durchaus verzeihen. Und mit Recht! Einmal hat man die Kinder der Hörigen jahrhundertelang zur Prostitution einfach gezwungen. Sie mussten sich fügen, schon um ihrer Eltern und Geschwister wegen, die unter ihrem Trotze sehr zu leiden gehabt hätten — auch das ist vorgekommen — außerdem aber wurde ein solcher Trotz meist sehr rasch gebrochen und auf das brutalste. Mir ist ein Dokument vor Augen gekommen, in dem ein Seelenbesitzer sich rühmt, er habe jedesmal das Bauernmädchen, das er missbraucht habe, nachträglich durchprügeln lassen, damit sie sich nicht zu viel einbilde! — Und solcher Brauch soll nicht vereinzelt gewiesen sein, ganz abgesehen davon, dass es immer für eine Gnade galt, dem Herrn zu gefallen! Derartige Gewohnheiten gehen aber schließlich in Fleisch und Blut über, und so lebt denn auch heute noch auf Moskaus Strassen eine Prostitution, die man sicher entschuldigen muss, wenn man überhaupt ein Recht hätte, hier zu urteilen. Arme, vergewaltigte Menschenkinder sind das, die nur leben wollen und wissen, dass dem, der um sein Leben kämpft, vieles erlaubt ist! Man braucht bloß die meist unschuldigen, kindlichen Gesichter anzusehen! Und wenn man sich in Gespräche einlässt, wobei man kein zynisches Wort riskiert wie bei uns, so bekommt man Aussprüche, wie folgenden, zu hören: ,,Ich lebe wie ein kleines Kätzchen. Ich bin froh, wenn ich abends einen Winkel zum Schlafen habe!“

Jedenfalls ist diese Erscheinung — und wir wissen nicht, ob wir sie, die Unschuld im Laster, als eine beklagenswerte bezeichnen sollen: es liegt viel Zukunftshoffnung in ihr — der Leibeigenschaft zuzuschreiben. Dabei würde aber wohl die Prostitution in Russland keinen so überaus großen Umfang angenommen haben, würde ein alleinstehendes, halbwüchsiges Mädchen — die allermeisten Prostituierten sind Waisenkinder, die acht bis zehnjährig vom Lande in die Stadt zur Lehre abgegeben, dort irgendwie mit zwölf bis vierzehn Jahren verführt wurden — nicht so bald auf den Gedanken kommen, sich zu verkaufen, wenn nicht dem einfachen russischen Volke die geschlechtliche Demut tief im Blute läge. Die Vorstellung davon, dass der Arme sich keine Geschlechtsehre gestatten darf, dass solche vielmehr nur einen Luxus der Reichen bedeutet. Und ganz augenscheinlich würden auch wiederum die minderjährigen Prostituierten in Russland gar keinen Erwerb finden, wenn nicht die Abkömmlinge der Seelenbesitzer sich durch Generationen hindurch an einen so zügellosen Geschlechtsgenuss gewöhnt hätten, dass in ihnen gar keine Vorstellung mehr aufzukommen vermag davon, dass sie doch ein gar nicht wieder gut zu machendes Unrecht antun der Prostituierten, die sie missbrauchen: dass sie ihre Seele missgestalten für immer!

Noch niederschlagender aber und noch empörender als der Anblick der scharenweise Moskaus Boulevards überflutenden jugendlichen Prostituierten (von zwölf bis fünfzehn Jahren, vor den Badeanstalten trifft man solche von acht bis zehn Jahren) wirkt der Anblick jener unsäglich elenden Frauenspersonen, die man in der Gegend der Moskauer Nachtasyle, vor allem auf dem „Menschenmarkt“, den ganzen Tag über beobachten kann. Wer aber da überhaupt Augen hat, zu sehen, der sieht, dass diese unseligen Geschöpfe nicht schuldig sind an ihrem Los, diese noch so jungen Mädchen und Frauen, die da halb nackt, mit zerzausten Haaren, wie besinnungslos umherschwanken, hier gestoßen, dort geschlagen, hier heulend in der Gosse hockend, dort mit namenlosem Jammer im Blick an einer Mauer gelehnt vor sich hinstarrend. In den meist regelmäßigen ehrlichen Zügen der aufgedunsenen, vielfach zerschlagenen Gesichter dieser Unglücklichen kann man deutlich lesen, dass sie von ihren Müttern nicht geboren wurden zu solchem Lose, dass sie wohl alle unter normalen Verhältnissen brave Hausfrauen und treffliche Mütter ihrer Kinder geworden wären. Sie waren nur zu schwach — eine ganz kleine, ererbte Minderwertigkeit genügt da, bei dem ganz Armen — um den Kampf mit der Not aufzunehmen und mit der Gewalt, die auf die Ungeschützten überall lauert auf der weiten russischen Erde. (Überall da, wo der Mensch seine niedrigen, sinnlichen Triebe nicht im Zaume zu halten gelernt hat, da ist auch der Schwache das selbstverständliche Beutetier viehischer Appetite!) Natürlich sind an solchem Seelen-Massenselbstmord, wie man ihn in Russlands Städten ständig vor Augen hat, — und darum erfordert es auch eine so furchtbare moralische Anstrengung, in Russland zu leben, — auch die immer noch entsetzlichen sozialen Verhältnisse dort schuld, und die Hilflosigkeit ihnen gegenüber auf Seiten einer Gesellschaft, die jahrhundertelang in Vormundschaft gehalten war, und die nun der Volksnot entgegentritt mit den kleinlichen Mitteln einer oft kritiklosen und fast immer peinlich bureaukratischen Wohltätigkeit oder mit den Gedankengeschenken utopistischer Doktrinen! Wir haben dabei aber auch in der augenblicklichen russischen Volksnot ganz unzweideutig immer noch die Folgen jener systematischen Entwöhnung des arbeitenden Volkes von selbständigem Wirtschaften vor uns, die das eigentliche Wesen der Leibeigenschaft ausmachte. Die Eltern und Ureltern aller dieser hilflos verkommenen Alkoholiker, die heute als sozial Unheilbare vor den Türen der Nachtasyle herumtaumeln, sie alle hat man mit Gewalt entwöhnt, für sich selber zu sorgen, indem man ihnen einfach alles das, was sie selber erarbeiteten, mit Gewalt wegnahm, und ihnen willkürlich bemessene, zu der geleisteten Arbeit in gar keinem Verhältnis stehende und meist nicht einmal zur Befriedigung der nacktesten Notdurft ausreichende Lebensmittel zuerteilte. Die Eltern und Vorfahren aller dieser Unseligen, die heute im Halbdusel die zahllosen Kronsbranntweinbuden in Russlands Städten und Dörfern belagern vom frühen Morgen an bis in die Nacht hinein, sie alle hat man um jedes Vertrauen zu sich selber gebracht, um jeden Begriff ihrer persönlichen Würde betrogen dadurch, dass man sie unter Todesdrohungen zwang, unbeherrschte Launen ihrer Seelenbesitzer zu befriedigen! — Wir könnten hier Dinge erzählen, die das Blut in den Adern stocken lassen. Es sind Fälle beglaubigt, dass widerspenstige Leibeigene bei zwanzig Grad Frost draußen auf dem Hofe nackt ausgezogen und mit Wasser übergossen wurden, so dass sie augenblicklich zu Eisklumpen erstarrten! Jener Leibeigene, der in ein Bärenfell eingenäht, sich bekreuzigte, als der bei seinem Seelenbesitzer zur Jagd weilende Kaiser Nikolai I. auf ihn anlegte, ist eigentlich noch eine harmlose Erscheinung!

Des Menschen Seele ist aber nun einmal ein weiches, jedem Eindrucke nachgebendes Material. Nur darum sind wir ja zum Guten fähig, zum Mitleid mit des Nächsten Not — aber darum hinterlassen auch alle Vergewaltigungen Spuren in unserer Seele, und darum können auch Menschen so missgeformt werden vom Menschen, dass sie niemals mehr, solange sie am Lichte sind, zum Bewusstsein ihrer eigenen Seele gelangen, die dann irgendwo abseits für sich ihr Leben führt und leise singt ihr ewiges Lied, wenn der Mensch sich weinend im Kote windet! Und die an sich bei aller Schmiegsamkeit unendlich widerstandsfähige russische Volksseele ist missgeformt worden durch die unausdenkbaren Greuel der jahrhundertelang währenden Leibeigenschaft. Alle jene entsetzlichen Scharen sozialer Leichen — ich sah einst, als vor der Krönung des jetzigen Zaren die Moskauer Nachtasyle geräumt werden mussten, einen polizeilich eskortierten Haufen von einigen Tausenden derartiger Menschenruinen, dass die Scham darüber heute noch lebt in meiner Seele — sie alle sind nachträgliche furchtbare Anklagen gegen die Leibeigenschaft!

Die Seelenbesitzer, die Herren der Leibeigenschaft, haben dies prachtvolle Volk zwar nicht völlig missgestalten können zu fügsamen Werkzeugen ihrer Seelenblindheit, sie haben aber jene einseitig duldenden Tugenden großgezogen im russischen Volke, und sein Selbstbewusstsein in einer Weise gebrochen, und es dem Begriff der persönlichen Würde in einem Masse entfremdet, dass heute noch tausende und abertausende einfache russische Menschen — wenn sie nur ein ganz klein wenig stolperten auf dem steilen Pfade des täglichen Broterwerbs — in rettungslosem Alkoholismus und unausdenkbarem Jammer zugrunde gehen müssen, sie, die ein frohes, tätiges, nützliches Dasein hätten führen können und der einfache Russe braucht ja zu seinem Glücke bloß Nüchternheit, (betrunken ist er immer todunglücklich) ein Stückchen Brot und einen Sonnenstrahl!

Soweit sei hier nur andeutend hingewiesen auf die unermessliche, wohl weit in die Jahrhunderte hinein nachwirkende Schuld der Leibeigenschaft, die das russische Volk so furchtbar schwächte in seiner Widerstandskraft gegen die Versuchungen der Sinne dadurch, dass es unter Todesdrohungen zu hündischem Gehorsam gezwungen, alles Selbstbewusstsein verlieren musste.

Freilich ist auch für den Seelenbesitzer selber die anderthalb Jahrhunderte währende Leibeigenschaftsperiode nicht ohne schädigende Folgen geblieben. Niemand maßt sich ja persönliche Gewalt an über seinesgleichen, ohne auf die Dauer Schaden zu nehmen an der eigenen Seele. Die seelische Schädigung aber, die der Seelenbesitzer im Laufe von Generationen erlitt, ist heute noch außerordentlich deutlich bemerkbar innerhalb des fortschrittlichen Russlands (von dem aristokratischen Russland gar nicht zu reden, das spielt aber kulturell eigentlich keine Rolle mehr). Und das versteht sich eigentlich ganz von selber. Zunächst muss ja ein Mensch, dem unumschränkte Gewalt gegeben ward über seinesgleichen, mit Naturnotwendigkeit einen falschen Begriff erhalten von der eigenen Person. Denn selbstverständlich werden ihm die, denen er Böses tun kann, oder die Vorteil von ihm erwarten, auf jede Weise schmeicheln. Er aber wird ihrer Schmeichelei gegenüber schließlich die Kritik einbüssen, weil er ja tatsächlich unverstellte Dankbarkeit dort wahrnimmt, wo er nur einmal keinen Gebrauch machte von seiner Macht, Wehrlosen unrecht zu tun. So musste der Seelenbesitzer, auch wenn er sich nicht den leisesten Zwang auferlegte, wenn er nur nicht ohne Lust und ohne Zweck brutal war, sich selber für einen Ausbund von Großmut halten. Er musste sich aber auch vorkommen wie ein Muster an Geist. Denn keine seiner Entscheidungen ward ja anders, denn als höchste Weisheit hingenommen, und da er verfügen konnte über das Schicksal von Hunderten, oft von Tausenden seiner Mitmenschen, musste er leicht zu der Überzeugung gelangen, er sei auch imstande, zu wissen, was ihnen frommt. Da es ferner in der Macht des Seelenbesitzers lag, seine Sklaven erzittern oder jubeln zu machen, und da er zudem über ihr Geschick entschied, ohne sie selber zu fragen und ohne jemals zu erfahren, wieviel Unheil er anrichtete, und welche Torheiten er beging, so musste der Seelenbesitzer ganz von selber dazu kommen, sich die Fähigkeit zuzutrauen, in den Seelen der Menschen zu lesen. Seine Selbstkritik musste aber bei alledem schon dadurch, und dadurch vor allem für immer Schaden erleiden, dass er sich selbstverständlich seinen Hörigen gegenüber überlegen vorkam, ohne tatsächlich andere Vorzüge vor ihnen zu besitzen als die der Geburt. Damit aber ward der Seelenbesitzer vor unüberwindliche Hindernisse gestellt gegenüber der Erkenntnis von der seelischen Gleichheit aller Menschen — und die ist und bleibt das einzige Fundament einer normalen menschlichen Selbstkritik!

Darin beruht denn auch die freilich unbewusste Rache der Hörigen an ihrem Herrn, der ihnen die freie Verfügung genommen hatte über ihren Körper und ihrer Hände Werk, dass sie ihm auf die Dauer die freie Verfügung nahmen über seinen Geist und über seine Seele: er hielt sie körperlich in Knechtschaft, sie ihn geistig. Hier liegt ein sittlicher Ausgleich: niemand kann Sklavenbesitzer sein, ohne geistige Einbusse zu erleiden, ohne sich beschränkt stellen zu müssen und es auf die Dauer auch zu werden. Daran ist gar nicht zu zweifeln. Alle diese Herrenmenschen aus der Leibeigenschaft, wie sie uns zum Beispiel Tolstoi in seinen Meisterromanen vorführt, und deren eiserne Energie und bedeutende praktische Veranlagung er selber ganz offensichtlich bewundert, sie alle erscheinen dem nicht aus Pietät befangenen Blicke des Nicht-Abkömmlings von ganzen Generationen von Sklavenhaltern nur wie seltsam unheimliche, kaum noch Mitleid erregende Menschen-Maschinen, wie Automaten, die ihre, ihnen durch Vererbung aufgezwungene, menschlich unwürdige Rolle spielen müssen, ohne jemals des ungeheuren Selbstbetruges inne zu werden, in dem befangen sie sich und anderen das Schauspiel geistiger Freiheit und Selbstverfügung vorspielen!

Die Erziehung, welche die russische Volksseele erfuhr in den Herren der Leibeigenschaftsperiode, musste hinführen zu einem kritiklos hingenommenen Überlegenheitsgefühl, das nach keinem zureichenden Grunde mehr sucht, ferner zu der Neigung, die Gedanken, die man selber denkt, schon deshalb für wahr zu halten, weil man sie eben denkt, und endlich zu der naiven Anschauung, man sei nicht bloß imstande, in den Seelen der Mitmenschen zu lesen, man wisse auch durchaus, was allen Menschen frommt!

Von allen diesen Neigungen finden wir immer noch deutliche Spuren sowohl im persönlichen Auftreten des aufgeklärten Russen, wie in der russischen Publizistik und der russischen Wissenschaft. Denn mehr wie in jedem anderen Lande geht in Russland die Aufklärung von den besitzenden Kreisen aus, also meist von den Nachkommen von Seelenbesitzern.

Es wäre dabei aber auch wirklich erstaunlich und unbegreiflich, wenn das Selbstbewusstsein eines Abkömmlings von ganzen Geschlechtern von Seelenbesitzern sich völlig frei hielte von kritikloser Überspannung. Wir finden die denn auch selbst bei den erleuchtetsten Geistern in Russland, sofern sie altadeliger Wiege entstammen. Man vergegenwärtige sich nur Tolstois maßlose Wut über alle, die es wagen, anders zu denken als er!

Wir begreifen übrigens auch in diesem Zusammenhange, warum das bewusste, das freiheitliche Russland sich immer noch nicht zum wahren Begriff der menschlichen Freiheit aufzuschwingen vermag!

Alle heutigen Russen sind ja so oder so Abkömmlinge von Sklaven oder von Sklavenhaltern, Ersteren ward List und Schicksalsglaube angezüchtet, letzteren Hochmut und rücksichtslose Launenhaftigkeit! Freiheit unter Menschen kann aber nur darin bestehen, dass ein jeder einverstanden zu sein vermag mit dem, was er tun muss, dass er selber mitbestimmte den Zwang über die eigene Person, der ihm im Interesse aller Mitbürger geboten erscheint.

Hinweisen möchte ich schließlich noch darauf, dass auch bei den Herren der Leibeigenschaftsperiode die allen Russen wohl angeborene ästhetische Anlage noch eine ganz besondere Ausbildung und Kräftigung erfahren musste. Wo ja immer der Seelenbesitzer in die Zusammenhänge des Menschendaseins und des Weltenalls hineindachte, war er gezwungen, in weitem Masse von der Tatsächlichkeit des Lebens abzusehen, um nicht schon gleich beim ersten Schritte auf höchst unangenehme Dinge zu stoßen. Der denkende Seelenbesitzer musste sich in allen seinen außerpersönlichen Gedanken in einer Sphäre der Abstraktion, des gleichsam nur im Skelett dem Geiste vorschwebenden Lebens bewegen, um nur ja nicht auf die Erkenntnis der Unmoral seiner eigenen Lebensführung gebracht zu werden (gegen die er zudem schwer überwindliche Widerstände erlebte, vor allem wohl in Pietätsempfindungen). In diesem, demnach ganz natürlichen Hinwegsehen über die Tatsachen des Lebens bei allen Gedanken an Menschen und Menschheitsgeschick erlangte der denkende Seelenbesitzer eine solche Virtuosität, dass er imstande blieb, die allerfreiheitlichsten Gedanken rein sachlich zu beurteilen, ja, sozialistischen Ideen eine offensichtliche Sympathie entgegenzubringen, ohne dass das Bewusstsein, selber Sklaven zu halten, ihn irgendwie geniert hätte. Tatsächlich ist denn auch der freiheitliche Gedanke vor allem durch die denkenden Seelenbesitzer nach Russland hineingeflutet.

Eigenartig ist dabei der Zusammenhang, dass der Widerstand, den das Denken des Seelenbesitzers erlebte, sobald es sich um die Kritik seiner wirtschaftlichen Lage handelte, nicht nur hinführte zu jenem abstrakten ästhetischen Behandeln sozialer Fragen, das heute noch im freiheitlichen Russland so vorherrscht. Nicht nur das! Der hier erlebte Denkwiderstand lenkte zudem auch noch den forschenden Blick des Russen am Sozialen vorüber auf jenseits allen gesellschaftlichen Bedingtseins gegründete Menschenbedürfnisse und Menschenbeweggründe, wie sie ihren Urgrund nur haben können im religiösen Erlebnis! Wir sehen das namentlich bei Tolstoi. (Er ist überhaupt als Denker — vor und nach seiner Bekehrung — geradezu typisch für den denkenden Seelenbesitzer.) Wo er kritisiert, wird er — aus instinktivem Nichtsehenwollen der eigenen Lebensführung — so kindlich abstrakt, dass er zum Beispiel als Pädagoge tatsächlich glaubt, eine neue Grundlage der Erziehung und dem Unterricht geben zu können, ohne das Sozial-Wirtschaftliche — dessen Fesseln doch vor allem die Volksschule trägt — überhaupt nur zu berühren. Der Pädagoge Tolstoi schilt für die Missstände der russischen Schule den armen Schulmeister — statt an die Privilegien der eigenen Kaste zu denken, derentwegen das Volk doch wohl hauptsächlich in peinlicher Notdurft und Unbildung verharren muss! Andererseits gab aber auch wiederum dieselbe instinktive Abscheu davor, die eigene soziale Lage zu bedenken, Tolstoi früh schon jenen unerhörten Scharfblick für den religiösen Untergrund der russischen Seele. Augenscheinlich macht ja Ästhetentum (das heißt das Absehen von der Wirklichkeit als solcher und sofern sie auch für andere da ist, oder besser gesagt, die Hinnahme der Dinge lediglich um ihrer Wirkung willen auf Vorstellung und Gefühl), augenscheinlich macht Ästhetentum uns oft erst hellseherisch für die tieferen Zusammenhänge der Wirklichkeit, die sonst wohl überhaupt nicht von uns zu erfahren wären!




Wenn wir das heutige Russland auch nur einigermaßen begreifen wollen, dürfen wir keinen Augenblick die Leibeigenschaft außer acht lassen. Hier liegt die Lösung für unendlich vieles, was uns sonst unerklärlich bliebe. All jene merkwürdigen sozialen Paradoxe, die den aufrichtigen Menschenfreund nicht aus der Verzweiflung herauskommen lassen im heutigen Russland (wo man Menschen mordet aus Liebe zum Menschen, wo, wer sich für das Volk bekennt, über aller Kritik steht und auch da noch bewundert wird, wo sein Allzumenschliches allzu deutlich zutage tritt, wo der „idealen“ Jugend alles das verziehen wird, was man sonst im bürgerlichen Leben aufs schärfste verurteilt, wo man zwar keinen Augenblick Bedenken trägt, sich für ein freies Wort der Regierung gegenüber nach Sibirien schicken zu lassen, dabei aber eine unüberwindliche Furcht hegt, ein freies Wort zu äußern in dem, was die Freiheitsbewegung und ihre Helden betrifft), alle diese seltsamen Widersprüche im heutigen Russland und noch eine Menge anderer — unter anderem auch der ganze Sozialprophet Tolstoi, der Toleranz predigt und Andersdenkende in ihren Gesinnungen verdächtigt — werden überhaupt erst begreiflich, wenn man als Motto darüber schreibt: „Der reuige Edelmann“.

Seine Schuld nimmt der zum Denken erwachende Russe meist ohne weiteres auf sich (und nicht ohne Grund, denn die Aufklärung in Russland ging ja vornehmlich von den besitzenden Kreisen aus). Nun ist aber der Russe viel zu empfindlich, als dass er einer solchen Schuld ruhig und klar ins Auge zu blicken vermöchte, und diese Schuld ist auch tatsächlich zu unausdenkbar groß. Denn man mag hinblicken, wohin man will im heutigen Russland, überall, wo das Volk leidet, führt ein ganz direktes Band zur Leibeigenschaft zurück, ganz zu schweigen von dem unsagbaren Leiden, das in der Vergangenheit der Leibeigenschaft unmittelbar zur Last fällt! (Man denke zum Beispiel nur an die einwandfrei nachzuweisende und in der Sachlage als solcher nur zu sehr begründete, jeder Beschreibung spottende Säuglingssterblichkeit unter den Leibeigenen. Welche unausdenkbaren Menschenmöglichkeiten sind so für immer zugrunde gegangen!) Der reuige Edelmann will nun zwar gegenüber der Not seines Volkes alle Opfer bringen, die hier überhaupt gebracht werden können, — aber er vermag nicht, unter keinen Umständen vermag er es, seiner Schuld ruhig ins Auge zu schauen! Das veranlasst ihn zu den seltsamsten Gliederverrenkungen. Denn die Volksnot ist da in Russland, so da, wie überhaupt etwas da sein kann auf Erden; sie muss dabei zu beseitigen sein, denn sonst würde man zugrunde gehen an ihr. Wenn man aber auch tätig mitwirkt an ihrer Beseitigung, darf man auch dabei nicht der eigenen Schuld begegnen: denn das würde Verzweiflung bedeuten! So fand man denn den freilich etwas primitiven Ausweg: schuldig an der Volksnot sind die, die das Volk unmittelbar in Knechtschaft halten. Man führt demnach den Willen des Volkes aus, wenn man diese seine persönlichen Peiniger mordet — und man will dabei gar nicht einsehen, welche Anmaßung der Mensch zum Ausdruck bringt, wenn er behauptet, er verstehe den Willen seines ganzen Volkes. Und man will des weiteren auch nicht einsehen, welch unbegreifliches Unrecht man gerade mit solcher Willensdeutung einem Volke antut, das durch heldenhaftes Ausharren in unsäglichen Leiden ein in Ewigkeit leuchtendes Beispiel gab für alle Völker der Erde, wie der Mensch der Versuchung zum Morde zu entgehen vermag, auch ständiger Todesnot gegenüber! Denn das russische Volk verharrte doch jahrhundertelang in furchtbarster Knechtschaft bei seiner urchristlichen Abscheu vor jedem Menschenmorde! Das alles merkt aber der reuige Edelmann nicht. Seine Reue macht ihn blind und schreit nach Opfern. So mordet denn der frühere Peiniger seines Volkes seine jetzigen vermeintlichen Peiniger! Aber auch das nimmt nicht die Schuld von der Seele des reuigen Edelmanns, so muss er seine Schuld wenigstens mit allen teilen können, um sie dann vor allen anderen abzuwälzen. Mit Leidenschaft stürzte man sich darum auf die — aus Westeuropa kommende — Heilslehre, nach der das alles, was man bisher erlebte als ein Verbrechen am notleidenden Volke, nur geschichtliche Unabweisbarkeit bedeutet, notwendigen Übergang zu einem Reiche der Gerechtigkeit, das kommen muss! In blinder Sehnsucht danach, erlöst zu werden von peinigender Reue, begeht man dabei den gleichen Denkfehler, den Westeuropa hier beging: man verurteilt und scheltet die, die von der heutigen Lage der Dinge den größten Vorteil haben, — trotzdem sie doch nach eben dieser Lehre genau so unschuldig sind an ihrem Wohlstand, wie der Proletarier an seinem Elend — man verurteilt sie aber und nennt sie Ausbeuter, ja, man ruft Kampforganisationen ins Leben gegen sie und zur Herbeiführung jenes Reiches der Gerechtigkeit, das so wie so kommen muss. Man greift mit Feuereifer nach der Weisheit aus dem Westen, und umgibt sie in unendlichen Selbstquälereien mit ganzen Netzen von Nuancen, die man dann für Gedanken hält. Und die Anhänger der verschiedenen Nuancierungen bekämpfen sich dann untereinander derart, dass sie des leidenden Volkes darüber vergessen und die beste Gelegenheit, ihm zu helfen, ungenützt aus Händen lassen! Aber man ist wenigstens beschäftigt, man ist abgelenkt von der Reue, man ist nicht mehr schuldig vor dem eigenen Volke als der Westeuropäer vor dem seinen. Einige reuige Edelleute, Tolstoi an ihrer Spitze, gehen dabei in ihrer Verblendung so weit, zu behaupten, die heutigen Fabrikarbeiter seien eigentlich keineswegs besser daran, als die ehemaligen Hörigen. (Es gibt freilich noch andere Ablenkungsformen von der Reue für den reuigen Edelmann: eine davon ist der Panslavismus — der freilich auch auf andere Quellen zurückweist. Nach ihm hat das russische Volk geschriebene Rechte überhaupt nicht nötig, zum Beispiel keine verbriefte, wirtschaftliche Freiheit, und auch keine Konstitution. Das Verhältnis zwischen Zar und Volk, zwischen Seelenbesitzer und Hörigen beruht auf reinem Vertrauen.)

Alles in allem genommen hat die Reue des Edelmannes dem russischen Geistesleben so zahlreiche und so furchtbare Fesseln auferlegt, dass sie in ihrer Gesamtheit heute wohl viel schwerer auf ihm lasten als jemals irgendwelche Polizeizensur (die schließlich doch nur bei den russischen Publizisten einen Stil zur Ausbildung brachte, in dem man tatsächlich alles sagen kann). Da sind zunächst einmal eine Reihe von Dogmen da, auf deren Nichtanerkennung gesellschaftliche Nichtachtung steht — und die fürchtet man im freiheitlichen Russland mehr wie den Tod. Solche Dogmen sind: es gibt nur ein Ziel, das nicht selbstsüchtig und frivol ist: die Hebung der Volksnot. Es gibt aber auch bloß ein Mittel dazu: die Herbeiführung der sozialistischen Staatsordnung durch Umsturz des despotischen Regimentes. Alle menschlichen Tätigkeiten jenseits des Strebens nach Herbeiführung dieses einen Zieles sind nur Spielereien. Die Kunst ist Selbstbetrug, die Wissenschaft Eitelkeit! Solange noch ein Mensch Hunger leidet, hat niemand das Recht, andere Gedanken zu hegen als die, wie dem Hunger der Hungernden abzuhelfen sei. Mit einem Worte: der reuige Edelmann will alle Menschen auf dieser Erde festhalten mit allen ihren Gedanken und mit allen ihren Interessen!

Die Lähmung, die so auf alles Geistesleben gelegt wird, entgeht dem reuigen Edelmann — vielleicht würde ihm das auch völlig gleichgültig sein — es entgeht ihm aber auch, welche anmaßende Teilung man so vornimmt im Volke zwischen einer Masse, der nur geholfen werden muss, und den Gebildeten, die nur zu helfen haben. Wenn man aber dem einen Teile der Gesellschaft nur Rechte, dem anderen nur Pflichten auferlegt, und sich selber zu letzterem zählt, so muss man jede lebendige Fühlung mit dem Volksganzen auf die Dauer völlig verlieren. Der Begriff des Volkes verflüchtigt sich so zu einer reinen Illusion, zu der Vorstellung von etwas, das da sein muss, damit man sich für es opfern kann. Und so kommt es denn auch, dass dem wirklichen Volke, dass dem einzelnen russischen Menschen kaum mehr irgendwelche Beachtung um seiner selber willen zuteil wird innerhalb des fortschrittlichen Russlands. Man findet es da nicht nur völlig in der Ordnung, die religiösen Gefühle des Volkes zu verletzen, indem man die soziale Heilsverkündigung verbindet mit der Predigt eines metaphysischen Materialismus. Das freiheitliche Russland hat auch tatsächlich von jeher vom Volke die größten Opfer verlangt im Interesse der Befreiung, die man für das Volk will, nicht durch es!

Der reuige Edelmann spukt aber leider noch derart in Kopf und Busen des freiheitlichen Russlands, dass man dort gar nicht begreifen will, wie sehr man das Volk beleidigt durch die angemaßte — und keineswegs so viel leichter als das despotische Regiment zu ertragende — Bevormundung über es zum Zwecke seiner Befreiung! Tolstoi ist dagegen als Mann aufgetreten, er hat die Revolutionäre gefragt, woher sie denn eigentlich das Recht sich anmaßen, das christliche russische Volk zu rohen Gewalttaten aufzureizen! Derselbe Tolstoi hat aber leider selber so wenig von der Bevormundungssucht des reuigen Edelmanns über das Volk lassen können (des reuigen Edelmanns, der in aller Gewissenspein doch nicht seine einstige Herrschermacht völlig zu vergessen vermochte), dass er seinerseits an das russische Volk die seltsame Anforderung stellte, es solle den Glauben seiner Väter als einen Irrtum abschwören und sich zu seinem (Tolstois) Christentum bekennen. Er, der frühere Seelenbesitzer, glaubte eben auch noch als Prophet besser zu wissen als das Volk selber, was dem frommt!

Der reuige Edelmann ist denn auch schuld daran, dass wir in gewissen Kreisen der russischen Gesellschaft (ausgenommen sind hier die aktiven Revolutionäre und das Intelligententum) einen Begriff vom „Volk“ haben, im Gegensatz zur Gesellschaft, wie er wohl nirgends sonst in der Welt lebt. Volk ist hier das, über das man zu Tränen gerührt ist, wenn man nur an es denkt oder von ihm spricht — das man aber doch um alles in der Welt selber nicht sein möchte. Volk ist hier das, was man in seinen lebendigen Vertretern missachtet, als Begriff aber — das heißt wie man es denkt — über alles andere setzt. Volk ist hier das, was der Künstler, der in jedem Russen steckt, nötig hat als Gegenstand seiner Beglückungsträume, als gedachten Empfänger seiner Gedankengeschenke. Volk ist hier das, dessen der Russe in der Vorstellung bedarf, um vergessen zu können, wenn er in der Wirklichkeit ihm und der Arbeit für es aus dem Wege geht. Volk ist hier alles in allem genommen das, das so zu werden hat, wie seine Befreier es haben wollen. Man sucht denn auch das Volk zu „entwickeln“, so heißt der übliche Ausdruck, das heißt, es zum metaphysischen Materialismus und zu dem sozialistischen Sektenglauben zu bekehren, zu dem man sich selber in jedem Falle bekennt. Gibt sich aber der betreffende Vertreter des Volkes dazu nicht her, hat er gar, wie das gar nicht so selten vorkommt, sehr vernünftige Gegengründe anzuführen, verharrt er endlich bei seinem Kirchenglauben, so sollte man einmal die wütende Verachtung erleben, in der sich dann sein berufener Beglücker von ihm wendet! Das russische Volk in seiner Masse — (die Fabrikarbeiter, die auch schon vielfach der Bevormundung durch berufliche Volksbeglücker satt sind, und eigene Wege einzuschlagen beginnen, bilden nur einen kleinen Teil der russischen Bevölkerung, allerhöchstens fünf Prozent) — ist denn auch von der Freiheitspropaganda noch immer so gut wie unberührt geblieben. Es führt sein eigenes Leben weiter. Auch den Propheten Tolstoi lehnt das russische Volk in seiner Masse ab. Und mit Recht: auch Tolstoi war der reuige Edelmann — bis in die letzten Konsequenzen hinein. Er ist überhaupt nur so zu verstehen in allen seinen Widersprüchen. Wohl stützte er sich auf das einfache russische Volk und richtete sich auf an ihm, als er in Reue zusammenzubrechen drohte, aber schon sehr bald darauf glaubte er das russische Volk besser zu verstehen, als es sich selber versteht, und wollte ihm schließlich seine Religion aufzwingen!

So scheint es mir denn auch aus dem Betrachten des reuigen Edelmanns heraus, dass das freiheitliche Russland durchaus irrt, wenn es uns Westeuropäern deshalb Mangel an Interesse für unser Volk vorwirft, weil wir ruhig wissenschaftlichen Studien und Berufsarbeiten nachgehen. Vielleicht aber haben gerade wir die größere Achtung vor dem Volke. Wir sind vielleicht bloß bescheidener vor ihm. Wir lassen es selber seine Geschicke bestimmen. Wir maßen uns nicht an, ihm Vormünder zu sein. Wir beweisen unsere Achtung vor dem Volke dadurch, wie wir ihm persönlich begegnen, wie wir überall seine Rechte achten, und wie wir uns beruflich zu ihm verhalten. Wir glauben freilich auch gar nicht, dass einem jeden von uns ein so großer Anteil im Mitbestimmen der sozialen Weltgeschicke zukommt, wie das der aufgeklärte Russe für sich in Anspruch nimmt. Und offen gesagt, wir wollten das auch gar nicht. Wir halten uns nicht für weise genug dazu. Wir halten uns überhaupt nicht für weiser als unser Volk, und möchten auch lieber, dass unser Volk, selber seinen Weg bestimmend, seinem Verderben entgegenschritte, als dass es von uns zu seinem Heile gegängelt würde — wenn das überhaupt möglich wäre!




Es wäre über den reuigen Edelmann noch mancherlei zu sagen. Wir empfehlen ihn als einen der Wegweiser zur Lösung der russischen Probleme jedem, der sich für Russlands seltsam verschnörkeltes, widerspruchsvolles und bei alledem so wenig produktive Gedanken verratendes Gesellschaftsleben interessiert. Nun scheint es freilich uns Westeuropäern schließlich seltsam, weshalb denn der reuige Edelmann durchaus nicht die Stellung seiner Schuld gegenüber einnehmen will, die ihn allein aus allen Schwierigkeiten herauszuführen vermöchte. Ich meine, wenn er sich einfach sagte: „Wohl, ich bin tatsächlich mitschuldig daran, dass die Leibeigenschaft herrschte über das russische Volk, und dass durch sie unermessliche Möglichkeiten zu Menschenglück und Menschenschaffen vernichtet wurden auf immer, und dass unter ihren Folgen das russische Volk leidet bis in unsere Tage, und leiden wird wohl noch in die Jahrhunderte hinein! Ich weiß das — ich weiß aber auch, dass ich diese Schuld, ohne sie zu begreifen, übernahm, weil ich von ganzen Geschlechtern von Sklavenhaltern abstamme und hineingeboren und hineinerzogen ward in ihre Anschauungen! So hinderte mich schon die Liebe zu den Meinen daran, vorurteilslos nachzudenken über die Folgen meiner wirtschaftlichen Daseinsbehauptung. Sicherlich wird darum das Elend, das ich anrichtete, nicht geringer, und ich will so auch keineswegs meine Selbstsucht entschuldigen, wenn ich offen bekenne — auch ich bin nur ein Opfer der sozialen Verhältnisse und vielleicht mehr noch zu beklagen als meine Leibeigenen: ich ward ja gezwungen, unrecht zu tun, sie nur unrecht zu leiden! Jetzt aber, da ich mein Unrecht erkannt habe, oder besser gesagt, da ich erkannt habe, dass ich es niemals in vollem Umfange erkennen werde, jetzt will ich mit allen Kräften daran arbeiten, mein Unrecht in der Vergangenheit gutzumachen, soweit als das möglich ist, und in alle Zukunft hinein will ich bei allem, was ich tue und denke, die Verantwortung für mein Volk vor Augen tragen!“

Weshalb will der reuige Edelmann durchaus nicht so sprechen? Weshalb zeigt er sich mehr geneigt, sein Volk und sein eigenes Dasein durch die einengende Brille der Doktrin zu schauen und, — etwas sehr gewagt, uns alle, die wir niemals Sklaven hielten, für seine Mitschuldigen zu erklären am Volke, ja, für solche Mitschuldige, die schuldiger noch sind als er, da er doch sein ganzes Leben darauf einrichtet, sich von seiner Schuld zu befreien! (Wobei es freilich nicht unser Verdienst ist, dass wir nicht seine soziale Schuld auf dem Gewissen tragen, das bleibt aber Tatsache, und der reuige Edelmann irrt auch durchaus, wenn er auf Selbstsucht bei uns schließt daraus, dass wir seinen Heilsweg nicht gehen wollen. Dafür haben wir ganz, ganz andere Gründe.)

Weshalb zwingt sich aber nun der reuige Edelmann zu allen diesen peinlichen Ausflüchten, statt einfach einzugestehen, dass er gezwungen ward zur sozialen Sünde? Weshalb sträubt er sich gegen solche Erkenntnis und geht dabei so weit, dass zum Beispiel ein ehemaliger Sklavenhalter wie Tolstoi sich — durchaus folgerichtig — nicht scheut, auch der armen Prostituierten und dem hilflosen Alkoholiker im Moskauer Nachtasyl falsche Weltanschauung, das heißt Schuld vorzuwerfen, statt sich selber mitschuldig zu finden auch an ihrem furchtbaren Los?

Natürlich vermag ich in der Beantwortung dieser Frage bloß Vermutungen aufzustellen. Mir scheint es nun so: der aufgeklärte Russe will niemals beeinflusst gehandelt haben. Er kann keinen ungerufenen, unbewusst wirkenden Beweggrund in sich anerkennen. Der Gedanke daran, irgendwie nicht mit vollem Bewusstsein gehandelt zu haben, muss wohl dem Russen ein ganz unerträgliches Grausen einflössen! Vielleicht deshalb, weil er sich in seiner Wehrlosigkeit den Reizungen durch die Außenwelt gegenüber — rettungslos verloren vorkommen müsste, wenn er zugäbe, dass ihn auch klarste Überlegung nicht davor zu bewahren vermag, im gegebenen Falle anders zu handeln, als er es eigentlich mit Bewusstsein billigt? Oder ist dieser Widerstand im Russen gegen die Anerkennung des Unbewussten in seinem Verhalten zu seinesgleichen, gegen die Anerkennung des ihm durch Geburt, Erziehung, Umgebung Aufgezwungenen in seinen Anschauungen und Gesinnungen darauf zurückzuführen, dass, wenn er dies anerkennen würde, er dann auch nicht mehr hoffen darf auf eine in absehbarer Zeit sich vollziehende Erlösung der ganzen Menschheit, denn die hat ja die unbegrenzte Fähigkeit des Menschen zu freiwilliger Sinnesänderung zur Voraussetzung! Und der Russe braucht die Vorstellung einer bald, sehr bald möglichen Weltenerlösung, um nicht zugrunde zu gehen an der Not seines Volkes in der Gegenwart!

Ich weiß nicht, welches Motiv hier ausschlaggebend wirkt, ich betone bloß die Tatsache, dass der aufgeklärte Russe sich weigert — und das bis an die Grenze eigensinnigen Verharrens bei ganz offenbaren Widersprüchen — das Sozial-Bedingte im Menschen anzuerkennen (was freilich innig zusammenhängt mit des Russen Abneigung gegen jede geschichtliche Auffassung). Dabei weiß ich aber ganz genau, dass der Russe in verhängnisvollem Irrtum sich befindet, wenn er glaubt, ihn leite hier seine Liebe zum Menschen. Wahre Menschenliebe kann ihrem innersten Wesen nach nie und nimmer Veranlassung werden zu irgendeinem Widerstand gegenüber der Wahrheit! Ich will dabei aber auch keineswegs behaupten, dass den Russen hier unüberwundener Menschenhass leitet. Solcher findet indes zweifellos so die willkommene Gelegenheit dazu, die ihm so verführerische Maske der Menschenliebe anzulegen: wir können ja die Menschen bloß dann lieben, wenn wir sie unschuldig wissen! Und sie sind nicht schuldig vor uns, wenn wir sie und uns mit ihnen als Bedingte anerkennen!

Der reuige Edelmann will aber offenbar auch nicht die Erleichterung der eigenen Schuld, — wenn er ihretwegen den Richterstab niederlegen müsste über die Menschen! So fest sitzt noch in ihm bei aller Reue die durch Generationen hindurch ererbte Gewohnheit, zu herrschen über seinesgleichen!

Mir kommt das verdächtig vor! Die Reue ward jedenfalls noch lange nicht ausgekostet vom reuigen Edelmann! Noch hat sie nicht den Künstler in ihm überwunden. Auch sie, die Reue, bedeutet ihm noch Vorrecht vor dem Volke, wenigstens Antrieb zu endlosem Herumformen an einem erträumten Reich der Gerechtigkeit für das Volk. Noch hat die Reue den Edelmann nicht zur Demut geführt vor seinem Volke. Noch blieb er Edelmann in seiner Reue! Und darum ist seine Reue noch nicht tief genug — freilich möchten wir nicht, dass das russische Volk noch mehr leide unter dem Edelmann, damit er endlich bereue bis zur Demut, damit er sich endlich selber erkenne als Volk. Das wollen wir nicht um solchen Preis! Das ganze russische Volk steht uns weit, weit über dem reuigen Edelmann! So mag er denn selber zusehen, wie er fertig wird mit seiner Reue! Größenwahn steht ihm bevor — oder Überdruss an sich selber. Aufgeben jeder Schulmeisterei dem Volke gegenüber, einfaches Zurückkehren zu ihm, zur praktischen Tätigkeit für es, — die ja durchaus nicht selbstsüchtig zu sein braucht, dafür aber vorderhand noch die einzige Möglichkeit bietet, das Volk zu begreifen und ihm die einzigen wahrhaften Dienste zu erweisen, die man ihm zu erweisen vermag, ohne es durch angemaßte Bevormundung zu beleidigen, und die sich immer nur im Umgang von Mensch zu Mensch verwirklichen, nicht aber im Herumbosseln an dem Phantom eines Volkes, das man weder fragt, noch kennt, und von dem man sich selber ausschließt.




Zusammenfassend können wir sagen: Die anderthalb Jahrhunderte lang dauernde Leibeigenschaft hat das russische Volk geteilt in die Masse der Schwerarbeitenden, die ihr eigenes Leben leben, und die aus den Zeiten der Sklaverei nur einzelne, freilich schwer vernarbende Seelenwunden davontrugen, — und in das kleine Häuflein der freiheitlich gesinnten Gebildeten, die ihr Leben leben in Hinsicht auf das Volk, weil sie sich schuldig fühlen vor ihm, die aber darum weder lassen können davon, das Volk — so wie es in ihrer Vorstellung lebt — zu verhimmeln, noch davon, das Volk — so wie es in Wirklichkeit ist — zu schelten, wenn es sich nicht von ihnen am Gängelband führen lässt nach ihrem Wolkenreiche einer sozialen Erlösung hin, das sie ihre Reue erträumen lässt für ihr Volk!

Das eigentliche russische Volk, das arbeitet und sich selber erlebt, hat weder Zeit noch Lust dazu, sich auch noch zu denken — nur einige begnadete Dichter ahnen sein Wesen, sie können es uns aber bloß nachahnen lassen im Kunstwerk — das andere, das für das Volk lebende Russland, äußert sich darum um so lauter. Wir verwechseln es darum so oft mit dem eigentlichen Russland, es gibt uns aber gar nicht dessen Abbild: es zeigt uns Russland nur gesehen durch die Seele des reuigen Edelmannes. Mit Unrecht halten wir dies Traumbild von Russland, das späte Reue des einstigen Seelenbesitzers schuf, und in das der dazu noch alle seine unüberwundenen Herrschergelüste hineindichtete, für das eigentliche Russland! Der bisher größte Russe, Tolstoi, gestaltet als Dichter das wirkliche Russland, als Theoretiker dagegen gibt er dem Russland des reuigen Edelmannes Ausdruck.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi