Die Schicksale des russischen Volkes. Der politische Despotismus

Alles das, was wir soeben im russischen Volkscharakter auf die Einwirkungen des Tartarenjochs zurückführten, kann mit gleichem Rechte dem jahrhundertelang über Russland herrschenden Despotismus zugeschrieben werden, der bekanntlich die direkte Hinterlassenschaft des Tartarenjochs darstellt und im Grunde ein nur äußerlich ehrenvolleres Tartarenjoch bedeutet. Auch hier musste der Mann, der am Leben bleiben wollte, seine heiligsten Überzeugungen verbergen, Demütigungen über Demütigungen einstecken und so mehr und mehr die Achtung vor sich selber einbüssen, aus der doch vor allem die männliche Widerstandskraft hervorgeht gegenüber allen Versuchungen, die an den Menschen herantreten. Unter einem despotischen Regimente muss zudem aber auch das Zutrauen des Menschen zu seiner Urteilskraft und zu seiner Tüchtigkeit systematisch untergraben werden, oder kann doch nur entfaltet werden auf Kosten der Selbstlosigkeit, denn Urteilskraft und Energie sind unter einem despotischen Regimente außer im Waffendienste, wo sie nur in Kriegszeiten genügende Verwendung finden, ausschliesslich auf Übung und Betätigung im Erwerbsleben angewiesen. Urteilskraft und Energie dürfen sich nicht unter dem Despotismus betätigen auf dem Gebiete, das dem freien Mann über alles wertvoll erscheinen muss: in Mitbestimmung der Schicksale des eigenen Volkes. Aber auch im Erwerbsleben sind der persönlichen Urteilskraft und Energie durch den Willen des Despoten — hinter dem sich stets die Appetite seiner Diener decken — ganz bestimmte Schranken gesetzt.

Solcher planmäßigen Untergrabung in seinem Selbstbewusstsein und in seinem idealen Schaffenstrieb ist nun das russische Volk viele Jahrhunderte lang ausgesetzt gewesen durch den politischen Despotismus, unter den es geriet, gleich nachdem es das Tartarenjoch abgeschüttelt hatte. Alle sittlichen Kräfte des russischen Volkes wurden so auf die Dauer gleichsam nach innen gerichtet. Und das geht natürlich nie völlig ohne Schädigungen vor sich. Das Selbstbewusstsein des Russen ward so dauernd geschwächt, und sein geistiger Gesichtskreis dauernd eingeengt!


Eines freilich ward mehr und mehr geschärft im russischen Volke, eines, wozu die Anlage schon an sich in dieser feinfühligen Rasse lag: der Blick für seelische Zusammenhänge! Seine Ausbildung ward zur Notwendigkeit im Daseinskampfe. Hing doch das Geschick jedes einzelnen, selbst des verhältnismäßig Mächtigen, in weit höherem Grade davon ab, wie er den Machthabern gefiel — und ihrer waren von dem Despoten gedeckt Tausende und Tausende — als von der eigenen Tüchtigkeit. So ward die Fähigkeit, die Eigenarten, vor allem die Schwächen des Mitmenschen auf den ersten Blick zu erraten, auf das virtuoseste ausgebildet im Russen, und hier stehen wir wahrscheinlich auch am Urquell der überlegenen Psychologie des russischen Künstlers. Freilich — das sei gleich bemerkt — dieser seelische Scharfblick ward beim Russen durchaus einseitig entwickelt. Er ward geübt unter dem Antrieb der Selbsterhaltung, das heißt zum ausschließlichen Nutzen für die eigene Person, und er hat somit naturgemäss vor allem die Schwächen des anderen zum Gegenstand. Diesen ihren ursprünglichen Zweck und ihre ursprüngliche Richtung verleugnet nun die russische Psychologie weder im Leben noch in der Kunst. Nur so ist es zu erklären, dass, während der Russe für die eigene Person überempfindlich ist (und für ihre Schonungsbedürftigkeit einen geradezu intuitiven Scharfblick voraussetzt bei jedem Menschen, der ihm in den Weg kommt, und entrüstet ist, wenn er dort solchen Scharfblick nicht findet), — ihm selber vielfach das Verständnis abgeht für das, was bei dem Nächsten der Schonung bedarf, und er immer wieder mit Füssen tritt, was dem Nächsten teuer ist, und dabei noch empört tut, wenn der ihm dann den Rücken dreht. Das kommt bei dem im aufgeklärten Russland herrschenden Geisteskommunismus unter Russen selber nicht so zum Vorschein: sie sind einander zu ähnlich in Empfindung und Gesinnung (bleiben indes auch so vielfach unerreichte Meister in der Kunst, einander nervös zu machen). Peinlich erweist sich die psychologische Einseitigkeit des Russen erst im Umgang mit Westeuropäern. Hier lässt der aufgeklärte Russe, namentlich wo Politisches oder Religiöses in Frage kommt, oft sehr geringes Feingefühl erkennen für das, was dem anderen teuer ist. Auch die nie endenden Empfindlichkeiten, die das ganze öffentliche Leben Russlands derart zersetzen, dass die praktischen Ergebnisse hier oft in verblüffendem Missverhältnis stehen zur aufgewandten Energie, können wohl zum Teil zurückgeführt werden auf die erwähnte Einseitigkeit in der Psychologie des Russen, der minutiöseste Rücksicht verlangt auf die eigene Person und dabei selber nicht immer entsprechende Rücksichten übt auf seinesgleichen!

Auch in der Kunst wirkt diese Einseitigkeit der russischen Psychologie hemmend. Zunächst erweist sich da der seelische Scharfblick in seiner ganzen Stärke — Tolstoi ist hierin das markanteste Beispiel — eigentlich nur den Nachtseiten der menschlichen Natur gegenüber, und veranlasst so im aufgeklärten Russen (auch hier ist Tolstoi typisch) jenen tiefen, hoffnungslosen Pessimismus in Hinsicht auf den einzelnen Menschen, der in so seltsamem Widerspruch steht zu jenem naiven Optimismus in Hinsicht auf die endgültigen Geschicke der Menschheit, ohne den kein russischer Dichter und Denker denkbar ist. Aber nicht nur das! Die Gewohnheit, die Seele des Mitmenschen zu ergründen, vor allem im persönlichen Interesse, und somit vornehmlich in Rücksicht auf die Beziehungen des zu Ergründenden zu der Person des ihn Ergründenden, und die darin erreichte Fertigkeit haben den Russen in weiten Kreisen zu der ganz unseligen Überzeugung veranlasst, er sei wirklich imstande, in der Seele des Mitmenschen zu lesen. Jeder, der anders empfindet und denkt wie er, müsse ein Heuchler sein — und zwar ein Heuchler aus Selbstsucht. Die große Kunst macht schließlich immer rasend. Das wissen wir längst.

Nun könnte freilich gerade in diesem Zusammenhange die Frage erhoben werden, ob und wieweit der natürliche und durch das Tartarenjoch noch in gewissen Neigungen bestärkte russische Volkscharakter den Despotismus nicht nur dadurch geradezu herbeirief, dass er die Verwirklichung despotischer Gelüste allzu leicht und allzu verführerisch gestaltete — und das scheint mir außer Frage. Aber nicht nur das: es erhebt sich hier noch die weitere Frage, — und ich stelle sie auf das Risiko hin, für frivol zu gelten die Frage, ob nicht der Despotismus geradezu eine Notwendigkeit ward für das russische Volk selber, insofern, als in Russland vielleicht nur erzwungen werden konnten die sozialen Rücksichten, ohne die ein gesellschaftliches Zusammenleben bei einigermaßen vorgeschrittener, sozialer Differenzierung unmöglich ist, und die der sozial sorglose Russe — wie es scheint — freiwillig niemals geübt hätte. Er will rücksichtsvoll sein, wenn es ihm gerade einfällt, er will aber auch nicht zum Rücksichtnehmen gezwungen sein. Freilich hat die despotische Regierung die sozialen Rücksichten immer nur soweit erzwungen, als sie ihrer Selbsterhaltung dienten — und sie hat damit die sozialen Rücksichten erst recht unpopulär gemacht. Wer längere Zeit in Russland lebte und den bedauerlichen Mangel an sozialem Verantwortlichkeitsgefühl innerhalb der russischen Gesellschaft auf Schritt und Tritt erleben musste, in ganz unvorherzusehenden Hemmungen überall da, wo man lediglich auf freiwillige Rücksichten der Bürger aufeinander angewiesen bleibt, der kommt ganz unwillkürlich auf solche ketzerische Ideen. Und es ist gut, sie einmal auszusprechen, denn sie führen vielleicht zu einer gewissen Selbsterkenntnis: in Russland herrscht eben heute noch fast unumschränkt die Laune — auch sie mag ja ein Kind des Despotismus sein, ein entarteter Sprössling der Energie, des Manneswillen, dem der eifersüchtige Despot kein würdigeres Betätigungsfeld ließ, als die jenseits des Wirkens für das Volksganze doch immer nur peinlich kleinlichen persönlichen Wünsche! Aber sie ist nun einmal da, die Laune, und sie herrscht über Russland, und ihre Straflosigkeit wird immer noch in weiten Kreisen des aufgeklärten Russlands mit Freiheit verwechselt. Und das hindert den Russen vielfach daran, die wirkliche Freiheit zu begreifen, die viel mehr eine Möglichkeit bedeutet zur Pflichterfüllung allen gegenüber, als ein Anrecht darauf, berücksichtigt zu werden von allen! Der Russe meint aber leider immer noch, Freiheit unter Menschen bestehe darin, dass ein jeder seiner Laune zu folgen imstande sei (wobei der Russe dann doch wohl den Aberglauben hegen muss, die Möglichkeit für einen jeden, seiner Laune zu folgen, sei gleichbedeutend mit den Bedingungen zur Freiheit für alle).

Hiermit sind wir bei einer jener Begriffsverwirrungen angelangt, die jeder Despotismus auf die Dauer in seinen Untertanen erzeugt und erzeugen muss, wenn er nicht sich selber ins Fleisch schneiden will. Wohl die meisten der paradoxen Anschauungen, die die Russen an sich selber so originell und interessant finden, und die uns an ihnen vielfach so ganz unmöglich erscheinen, haben ihre einfache Erklärung in der Schuld des Despotismus. Der Begriff der Freiheit erscheint hier in der Vorstellung solcher, denen durch Jahrhunderte hindurch jedes Erlebnis von Freiheit fehlte, und die allmählich dazu kamen, unter ihrem Namen die Möglichkeit zur Betätigung des Allzumenschlichen in der eigenen Person zu verstehen, das die despotische Regierung im Zaume hält im Interesse aller, wenn auch nur zum Zwecke ihrer Selbsterhaltung. Russland verwechselte eben von jeher das Allzumenschliche mit dem Reinmenschlichen und musste das wohl: denn das Reinmenschliche kann bloß da erlebt werden, wo Freiheit herrscht. So kommt es denn auch, dass überall da, wo sich das aufgeklärte Russland mit Freiheit beschäftigt, „ein Erdenrest zu tragen peinlich bleibt“.

Eines dürfen wir dabei nie vergessen: der Despotismus wachte von jeher über alles Geistesleben innerhalb der russischen Nation. Der Menschengeist ist ja des Despoten eigentlicher Feind: denn der Geist des Menschen ist immer frei. Kein Geistesstrom durfte somit ins russische Land, der nicht eingedämmt war vom Despoten, und das heißt, nach bestem Können des Geistes beraubt und zu reinem Mechanismus geworden. Und so ist denn auch das ganze Europäertum (Einrichtungen und Ideen) Russland zugeflossen durch die engen, angstvoll bewachten Kanäle einer Polizeizensur, die alles Europäertum sorgfältig zu entgeistern bestrebt war, und den Geist nur da durchlies, wo sie ihn nicht begriffen hatte, (was glücklicherweise sehr oft der Fall war). Damit aber, durch seine Herkunft aus den Schleusen der Polizeizensur, war Westeuropas Geist von vornherein dem Hass des aufgeklärten Russen ausgesetzt.

Der aufgeklärte Russe verwechselt nun bis heute noch vielfach den Geist, in dem ihm Westeuropa geboten wurde, das heißt den Geist, der ihm Westeuropa entgeistert hatte, mit dem Geiste, der Westeuropa tatsächlich innewohnt. Ein leicht begreiflicher, aber schwer verhängnisvoller Irrtum! Westeuropa ist aber natürlich nicht schuld daran, wenn man sein Gedankenleben, das wehrlos ist, weil allen zugänglich, verkennt und eine Karikatur, eine Missgestalt von ihm für sein eigentliches Wesen hält! Westeuropa ward aber nun einmal Russland aufgezwungen! Dass Westeuropa dafür nichts kann, daran denkt der Russe ebensowenig, wie er zugeben will, dass der Europäergeist sich doch durchaus nicht in dem erschöpft, was die Polizeizensur von ihm nach Russland hineinließ, und dass er, der Europäergeist, an sich auch gar nichts zu tun hat mit der Polizeizensur als solcher, die ihm den Stempel aufdrückte für Russland! Aber das Odium gegen Westeuropa ist nun einmal Tatsache im aufgeklärten Russland: die zufällige Assoziation von Europäergeist und despotischer Geistesbevormundung ist viel zu fest eingefahren in der Vorstellung des Russen, als dass man mit logischen Gegengründen dagegen ankäme, und als dass wir darauf hoffen könnten, dass des Russen elementares Übelwollen gegen Westeuropa sobald zu beseitigen sei. Bei Tolstoi zum Beispiel — er ist als Prophet geradezu der Wortführer des aufgeklärten Russlands — nimmt der Europäerhass einen solchen Umfang an, dass Tolstoi sich bekanntlich zu dem Ausspruch versteigt: In ein paar Jahrzehnten bereits werde die Welt (wohl Russland und Asien?) lachen über die Anmaßungen der europäischen Wissenschaft! Nun muss dabei aber der Russe — das liegt so in seinem Naturell und lässt mancherlei Schlüsse zu (vor allem wohl den auf eine gewisse innere Unsicherheit und nie aufhörende Bangigkeit um Kopf und Busen) — das, was er hasst, auch lächerlich finden, um es verachten zu können. In dieser Absicht — sie wird bisweilen offen ausgesprochen — tritt man denn auch vielfach von russischer Seite an Westeuropa heran: man will es kennen lernen, um es zu widerlegen, und das heißt, um es verachten zu können — und das ist natürlich die allerschlechteste Geisteseinstellung zu wirklichem Verständnis! Letzteres erstrebt man aber auch dann gar nicht, man beschäftigt sich von dieser Seite her mit europäischer Wissenschaft nur bis dahin, wo man Grund gefunden zu haben glaubt zum Verhöhnen Westeuropas! Auch das wird ganz naiv eingestanden. So lässt Tolstoi in „Anna Karenina“ seinen Levin, als der die Volkswirtschaftslehre neu begründen will, wörtlich sagen: Man müsse erst einmal nach Westeuropa fahren, alles, was dort in diesem Fache gelehrt werde, kennen lernen und seine Unsinnigkeit nachweisen. Also, die Anschauung, dass die westeuropäische Volkswirtschaftslehre unsinnig ist, und die Absicht, sie unsinnig zu finden, besteht bereits, bevor man sie überhaupt kennt! Tolstoi selber ließ sich ganze vier Wochen lang deutsche Volksschulen zeigen, ward dabei überall aufs freundlichste aufgenommen, um dann zu Hause in seinem pädagogischen Journal die deutsche Volksschule mit einem Hohn und Spott zu überschütten, die beim rechten Namen zu nennen mich bloß die Ehrfurcht vor dem großen Dichter abhält. Das alles geschieht auch heute noch unzählige Male. Viele Russen kommen hierher, werden freundlichst herumgeführt, sehen sich zwei bis drei Schulen oder Krankenhäuser an, kehren nach Hause zurück und lassen dann drucken, sie bedauerten von ganzem Herzen alle deutschen Kinder oder alle Insassen deutscher Krankenhäuser!

Wir werden noch mehrmals auf die Tatsache des russischen Übelwollens Westeuropa gegenüber zurückkommen müssen. Es ist sehr wichtig für uns, ihre natürlichen Ursachen zu erkennen, damit wir nicht auf die unintelligenteste Weise darauf antworten: das heißt mit Hass und Spott! Wir konstatieren diese Tatsache (des russischen Übelwollens gegen Westeuropa) hier bloß als eine Folge jener Gedankenassoziation mit Despotismus und Polizeizensur, in der Westeuropa in das Bewusstsein des aufgeklärten Russen eintrat und vielfach haften geblieben ist. Freilich darf man dabei wohl auch die natürliche Reizbarkeit der Russen mit in Betracht ziehen, die wohl viel zu empfindlich sind, um das auf die Dauer als wertvoll anzuerkennen, was nicht durchaus von ihnen selber stammt!

Es ist dabei noch ohne weiteres klar, dass jeder Despotismus schon allein dadurch, dass er auch das Vernünftige, das er wohl oder übel verwirklichen muss, (wenn er überhaupt bestehen will — denn schließlich herrscht er doch über Menschen!) — notwendigerweise verdächtig und missliebig macht (weil es eben von ihm ausgeht) — und er so das gesunde Urteil seiner Untertanen verwirrt, letztere mit Naturnotwendigkeit erziehen muss zu absolutem Radikalismus, zu kritiklosem Verneinen jeder staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung! Schon allein darum müsste das aufgeklärte Russland radikal sein! Das allein schon würde den Nihilismus in Russland begreiflich machen! Der russische Radikalismus erhält dabei aber — wie nach dem eben Gesagten wohl begreiflich erscheint — sein ganz bestimmtes Gepräge, seinen eigentlichen Inhalt — sonst sehe ich wirklich nichts in ihm — in jener dogmatischen Verneinung des westeuropäischen Geisteslebens, deren Ursprung wir weiter oben aufzudecken suchten: alles das, was aus Europa nach Russland eingeführt wurde (Einrichtungen und Gedanken), und natürlich polizeilich verstümmelt eingeführt wurde, dessen Urbilder aber heute jeder Russe an der Quelle selber studieren könnte, alles das ist ja natürlich im Laufe der Jahrhunderte geworden, stellt somit für Westeuropa Tradition dar. Es trägt dabei selbstverständlich auch noch Spuren seines Werdens an sich: Einrichtungen oder Bestimmungen, die bereits nicht mehr nötig sind, vielleicht sogar schon hemmend wirken, aber noch nicht abgestoßen wurden, vielmehr mitgeschleppt werden, vor allem wohl aus Ehrfurcht vor den Vätern, denen wir alles verdanken. In solchen Rückständigkeiten, die unseren Einrichtungen ankleben, in dem unzweckmäßig Widerspruchsvollen in ihnen, für die der Russe sehr scharfsichtig ist, spricht er gern das Wesentliche unserer Einrichtungen an, da es ihm durchaus ferne liegt, nachzudenken über ihr Gewordensein. Würde er das aber, so müsste er erkennen, dass solche nutzlos oder gar schädlich gewordenen Rudimente der Kulturentwickelung doch natürlich nicht auf den Willen derer zurückzuführen sind, die heute dafür Anerkennung verlangen, vielmehr auf das Schaffen ganzer Geschlechter von Menschen, die in unendlichen Mühen und über unendliche, unvermeidliche Irrtümer hinüber schließlich das Zweckmäßige schufen, das Russland sich heute arbeitslos aneignet — um dann seine Urheber zu verspotten und zu verhöhnen dafür, dass sie nichts Vollkommenes schufen! Russland hat natürlich auch seine Tradition, die ward indes leider vor zweihundert Jahren durch Peter den Großen gewaltsam unterbrochen. Damals wurden unsere westeuropäischen Einrichtungen völlig kritiklos, ohne dass man fragte, ob und wieweit überhaupt die Voraussetzungen für sie gegeben waren, dem russischen Volke aufgezwungen, der russischen Tradition gewaltsam aufgepfropft. Beide Traditionen haben sich dann so oder so miteinander vereinigen müssen. Das russische Leben schritt dann weiter unter vermehrtem westeuropäischen Einfluss, und heute ist die unselige Lage die, dass man die westeuropäische Tradition nicht mehr zu entbehren imstande ist in Russland, die altrussische nicht mehr aufzufinden vermag, und die russische Wirklichkeit sich dabei natürlich nicht restlos deckt mit der westeuropäischen Tradition, wie sie heute ist, da die ja nur in Westeuropa ihre natürliche Weiterentwickelung finden konnte.

Alles das sei mit Nachdruck betont. So erklärt sich ja auch ein anderes mächtiges Kulturhemmnis für Russland: der Traditionshass innerhalb der aufgeklärten Gesellschaft. Auch er hat seine letzte Wurzel in der despotisch-aufgezwungenen westeuropäischen Tradition! Dieser ausgesprochene Traditionshass des aufgeklärten Russen Tradition ist ein ebensolches Schreckwort für ihn wie Reaktion und wird ihr oft begrifflich gleichgesetzt — treibt ihn aber mit aller Gewalt der Doktrin in die Arme: der willkürlichen Gedankenbegrenzung vor den Zusammenhängen der Wirklichkeit. Das ist namentlich auf gesellschaftlichem Gebiete bedauerlichste Tatsache. Denn anders werden muss doch die russische Wirklichkeit, darüber ist man sich in allen Lagern einig. So, wie sie heute aussieht, ist sie einfach nicht zu ertragen! Da aber geschichtliche Entwicklung nur einen Unsinn bedeutet für den aufgeklärten Russen, so muss es eben ganz bestimmte, ein für allemal feststehende soziale Heilwege geben, die nur das rückständige Europa nicht wahrzunehmen vermag! Und so kommt die Doktrin zur Herrschaft über das denkende Russland! Und zwar — das ist das Seltsamste — auch sie wird mit ganz geringen Ausnahmen aus Westeuropa importiert! (Wir erinnern hier nur im Vorübergehen an die seltsamen Schicksale und den ungeheuren Einfluss, den die marxistische Doktrin in Russland gefunden hat.) Wo aber die Doktrin herrscht über den Menschen — das heißt überall da, wo nicht der Mensch so, wie wir ihn vor uns haben (als einen, den wir nie kennen werden, der aber immer frei sein will), letztes Endziel ist, da wird mit Naturnotwendigkeit die Gewalttat den Menschen gegenüber zum Grundsatz erhoben. Denn da finden alle ungebändigten, unsittlichen Mächte in dem Menschen, der die Doktrin auf den Lippen trägt, ihre theoretische Rechtfertigung. Da wird gemeiner Mord schließlich zur Heldentat, Brutalität gegen Wehrlose zum sittlichen Vorbild!

Der Terrorismus ist selbstverständlich eine Folge der Sünden des Despotismus. Seine Taktik kennzeichnet sich dabei als reine Despotenpraxis. Es liegt ihr immer und überall die eine uralte Despotenweisheit zugrunde, dass der Mensch ein sterbliches Wesen ist, dass man ihn mithin töten kann, und dass er Angst hat davor, getötet zu werden! Dieser uralten Despotenweisheit steht freilich eine altehrwürdige Europäererfahrung gegenüber: die, dass man den Geist nicht tötet, wenn man den ermordet, der ihn verkündigt!

Der theoretische Terrorismus teilt mit dem Despotismus, seinem taktischen Vorbilde, aber auch noch dessen Abneigung gegenüber dem eigentlichen Westeuropa, dem Geist Europas, und geht darin so weit, dass selbst die uralte Logik von ihrem Platze weichen muss. Wir erinnern nur im Vorübergehen an jene, jedem Europäer unmöglich anmutende, im freiheitlichen Russland aber als einwandfrei hingenommene Behauptung der Anhänger des ,,heiligen Terror“, sie seien die eigentlichen Todfeinde der Todesstrafe!

Natürlich erscheint auch wiederum die Diskreditierung, die Westeuropas Geistesleben dadurch erfuhr, dass es der Despotismus in Russland einführte, durchaus nuanciert. Von vornherein unterliegt ihr, dieser Diskreditierung, alles Bejahende in der Europäerkultur: Philosophie, Geisteswissenschaft und staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen. Dagegen erhält alles, was sich an Verneinendem im europäischen Geistesleben äußert, alles das, was im eigenen Lager der Europäertradition die Daseinsberechtigung abspricht, einen ganz besonderen Anreiz für das freiheitliche Russland. Man greift mit wahrer Gier danach — zumal da der russische sozial-kritische Gedanke sich von ganz seltsamer Unfruchtbarkeit erweist — und vergisst auch hier, nachdem man einige Nuancierungen hineingetragen hat, sehr bald den europäischen Ursprung des betreffenden Gedankens. So war zum Beispiel dem metaphysischen Materialismus, der alle Geisteswissenschaft leugnet und das Rätsel des Menschendaseins auf ein Rechenexempel für untere Volksschulklassen reduziert, von vornherein ein ungeheurer Anhang im freiheitlichen Russland gesichert! Und dabei wird man sich — bei jener wunderbaren Fähigkeit, die dem Slaven eignet, logisch Unvereinbares in seinem Bewusstsein widerstandslos zu vereinigen (eine Fähigkeit, von der wir nicht wissen, ob sie eine Schwäche oder eine Stärke bedeutet) gar nicht des Widerspruchs inne zwischen dieser Lehre (des metaphysischen Materialismus), die nicht die bescheidenste Bewusstseinstatsache zu erklären imstande ist, mithin jede selbständige Sittlichkeit für Selbstbetrug erklären muss, und jenem praktischen, restlose Aufopferung für das Volks wohl verlangenden Idealismus, den eben dieses selbe freiheitliche Russland lehrt und auch verwirklicht. (Schon Solowieff, ein wahrhaft europäischer Russe, und darum vielleicht der berufenste Deuter des intuitiven, des noch stummen Russlands, hat gespottet: „Unsere Jugend urteilt seltsam: Wir alle stammen vom Affen ab, also lasst uns unser Leben hingeben für unsere schwächeren Brüder!“)

Auch die noch immer ausgesprochene Vorliebe des aufgeklärten Russen für die exakte Wissenschaft kann wohl letzten Endes ebenfalls auf seine Abneigung gegen jedes geschichtliche Denken, auf sein Nichtanerkennenswollen alles historisch Bedingten zurückgeführt werden. Hier, in der exakten Wissenschaft, glaubt man endlich ein absolutes Wissen vor sich zu haben, das auch vom verhassten Europäergeiste gar nichts mehr an sich trägt! Das ist natürlich ein fundamentaler Irrtum. Die exakte Wissenschaft ist ja bekanntlich erst aus der Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts geboren worden, und bis heutigen Tages außerstande, diesen ihren Ursprung irgendwo zu verleugnen. Sie vermag ja gar nicht auszukommen ohne Zuhilfenahme rein metaphysischer (das heißt nicht unmittelbar einzusehender) Begriffe wie Atom, Molekül usw., und sie darf das auch ruhigen Gewissens tun, weil sie ja letzten Endes gar nicht ein Eindringen in das Wesen der Dinge selber erstrebt (solches vielmehr als ein für allemal ausgeschlossen bereits voraussetzt), vielmehr nur ein Beherrschen der Dinge durch den Menschen zum Endziel hat. So nur ist das Bestreben der exakt-naturwissenschaftlichen Forschung zu erklären, alles zahlenmäßig auszudrücken, und dabei gelten ihr natürlich Maßstab und Waage durchaus nicht als Ausweismittel für das Wirklichsein der Dinge — das ist kindlicher Irrtum negativer Dogmatiker — vielmehr lediglich als Mittel dazu, die Dinge dem Menschen dienstbar zu machen.

Das alles entgeht einem aber im aufgeklärten Russland vielfach immer noch, und darüber lässt man sich auch keine grauen Haare wachsen. Da man aber doch nicht völlig ohne geistigen Inhalt auskommt, sofern die exakte Wissenschaft für das praktische Leben so gut wie gar nichts gibt (wenn man auch noch lange nicht den alten Aberglauben aufzugeben willens ist: Es möchte einst aus ihr, der exakten Wissenschaft, die immer nur ein Sein zum Inhalt haben kann, plötzlich ein Sollen, ein Imperativ für das Leben selber, hervorspringen, wie Pallas Athene aus dem Haupte Jupiters) — so glaubte man wenigstens originell zu handeln, wenn man die Methode der exakten Wissenschaft auch auf die Geistesforschung überträgt! Auch das war ein Irrtum! Der Versuch hierzu war bereits ein halbes Jahrhundert früher gemacht worden in Westeuropa, wo man freilich sehr rasch sich erholte von der Berauschung durch Worte und begriff, dass man Unmögliches gewollt hatte. Denn diese exakt-naturwissenschaftliche Methode, die bloß das zahlenmäßig Ausdrückbare als wirklich Seiendes gelten lässt, versagt natürlich überall da, wo man es mit völlig unmessbaren Dingen, mit Bewusstseinstatsachen zu tun hat; hier führt die exakt-naturwissenschaftliche Methode nur dazu, dass man das dogmatisch für nicht vorhanden erklärt, was man weder zu wiegen noch zu messen vermag. Bei solchem „negativen“ Dogmatismus steht nun das aufgeklärte Russland in sehr weiten Kreisen heute noch, und er wird ihm zum Verhängnis: Man leugnet das Vorhandensein dessen, was man nicht experimentell zu beweisen vermag, und dabei ist es doch so da, dass man es gar nicht entbehren kann und ständig gezwungen ist, sich die Augen zuzuhalten, um nur ja nicht das sehen zu müssen, dessen Vorhandensein man ein für allemal in Abrede stellt. Solche fanatische Einengung des geistigen Gesichtsfeldes beherrscht denn auch immer noch weite Kreise des freiheitlichen, ja des fraglos umstürzlerischen Russlands.

Aber das Allergefährlichste an dieser falsch angewandten exakt-naturwissenschaftlichen Methode ist dies: sie hält den, der sich zu ihr bekennt und keine andere anerkennen will als sie, rettungslos fest bei seinen unseligen Irrtümern, bei seiner dogmatischen Weltverkleinerung und schließt ihn endlich ausgangslos ein in seinem kleinen, seinem nicht weltenoffenen Ich. Denn für das, was der negative Dogmatiker nicht zahlenmäßig ausdrücken kann, das er mithin nur zu erleben vermag, und dessen Tatsächlichkeit abzustreiten er außerstande ist, für alles dieses kann ihm ja nur die eigene Person zum Maßstab dienen. Gegen alle Beweisgründe aber für das Vorhandensein des nicht von ihm selber erlebten Geistigen hat er immer nur einen und denselben Spruch: „Beweist es mir doch, aber exakt mit Maßstab und Waage!“ — und das ist natürlich unmöglich. Weil es aber unmöglich ist, darum hält er sich für unwiderlegbar und bleibt er bei seinem Eingeschlossensein in der eigenen Person; und das verurteilt ihn dann zu geistiger Unfruchtbarkeit und macht ihn — wenn er kein großer Künstler ist wie Tolstoi — auf die Dauer todunglücklich. Tolstoi operiert ja durchaus so. Alle seine fanatischen Kulturverleugnungen, alle seine unverzeihlichen Anpöbelungen dessen, was anderen heilig ist, hält er aufrecht mit ein und derselben, zum Weinen ärmlichen Begründung: „Beweist mir, aber exakt, dass dem nicht so ist!“

So verfährt Tolstoi als Pädagoge, als Sozialprophet, als Kirchenkritiker und schließlich auch als staatsverhöhnender Anarchist bis an sein Lebensende. In Tolstoi hat der dem Despotismus entstammende Europahass vielleicht sein tragischstes Opfer verlangt. Denn Tolstoi, der wirklich noch glaubte, anderen Toleranz predigen zu dürfen, wiewohl er selber jede von der seinigen verschiedene Anschauung für unaufrichtig erklärt und mit Verachtung bedroht, — musste schließlich dazu gelangen, das eigene Erlebnis, also das Bedingteste von allem, was wir kennen — als das allein Wirkliche in geistigen Dingen anzusprechen. Und damit war er ausgangslos eingeschlossen in sich selber und für den Rest seines Lebens unfähig, — als Denker, nicht als Dichter — anderer Seelenleben zu begreifen! — Und dazu muss jede fälschlich für Geisteszusammenhänge kompetent erklärte exakt-naturwissenschaftliche Methode führen und zumal bei jenem sich selber im Mittelpunkt der Welt-Erblicken, zu dem der gefühlsbeherrschte Russe an sich schon derartige Neigung verspürt!

Man kommt in Russland nicht so leicht hinter diesen Kreislauf des Irrtums, weil der Geisteskommunismus dort ein ungeheurer ist, vor allem wohl deshalb, weil dort alle denkenden Geister vor der gleichen Aufgabe stehen: des Kampfes gegen den politischen Despotismus und gegen das vornehmlich durch ihn bedingte soziale Elend. Darum drohen aber dem wahren Europäergeiste die größten Gefahren gerade von Seiten des freiheitlichen Russlands. Das würde uns, wenn es zur Macht gelangte, zu unserem Heile zwingen wollen, und dies Heil für uns würden sie darin erblicken, dass wir so dächten wie sie!

Zusammenfassend erscheinen uns demnach folgende als die hauptsächlichsten Eindrücke, die der politische Despotismus in der russischen Volksseele hinterließ:

Die ästhetische Anlage des Russen, sein Hang nach innen zu leben, außerhalb der tatsächlichen Welt, ward so bestärkt, seine Selbständigkeit vor dem Leben, sein Selbstvertrauen und damit auch seine Widerstandskraft gegen sinnliche Versuchungen ward vermindert, sein geistiger Gesichtskreis eingeschränkt, und seine Tatkraft ausschließlich abgelenkt auf den Erwerb materieller Güter! Das Verständnis des Russen mit Menschen umzugehen, sein Blick für Seelenzusammenhänge, ward freilich hierbei noch mehr ausgebildet — aber einseitig ausgebildet dadurch, dass dieser Blick für Zusammenhänge des Seelenlebens zunächst im Interesse der eigenen Daseinserhaltung in Tätigkeit trat und vor allem den Schwächen des Machtausübenden galt.

Die Europäerkultur ward dem Russen unter dem Einfluss des Despotismus verhasst dadurch, dass sie von ihm (dem Despotismus) und zunächst zu seinen alleinigen Zwecken und demnach unter polizeilicher Kontrolle eingeführt ward, und nur so weit, als der Despotismus sie nicht zu entbehren vermochte, und eingeführt natürlich auf Kosten der ursprünglichen russischen Tradition. Damit aber ward im Russen gegen alle Tradition als solche ein Widerwillen großgezogen, der schließlich ausarten muss in einen Widerwillen gegen jede historische Auffassung, und der wiederum bestimmt den Russen geradezu voraus zum Opfer doktrinären Aberglaubens, und damit auch zu einseitiger Bevorzugung der exakten Wissenschaft und zur irrtümlichen Anwendung ihrer Methode auf Geisteszusammenhänge. Und das endlich hält den Russen beim negativen Dogmatismus fest und schließt ihn ausgangslos ein in die eigene Persönlichkeit!

Die politische Knechtschaft führt schließlich so mit einer gewissen Notwendigkeit zur Selbsteinkerkerung des Geistes, der sich befreien will von ihr! Das ist ein tragischer Zusammenhang. Wir konstatieren ihn bloß. Wir richten nicht!




Dabei sei ganz zum Schluss auch noch mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, dass jeder despotischen Regierung die Neigung innewohnt, ihre Untertanen zum Chauvinismus zu erziehen. Sie sollen in dem Stolze, ihrer Nation anzugehören, und in der Überzeugung schon dadurch allein den Bürgern aller anderen Nationen überlegen zu sein, die Entmündigung im eigenen Hause vergessen. Auf solches Ziel ist denn auch heute noch der öffentliche Unterricht gerichtet in Russland — und er erzielt hierbei beträchtliche Erfolge: denn die Kinderseele ist nun einmal eindrucksfähig, und die Eindrücke der Kinderzeit bleiben bestimmend für das ganze Leben! Jeder despotischen Regierung eignet dabei die natürliche Neigung, äußere Kriege zu führen, durch sie sollen die Untertanen von der Erkenntnis innerpolitischer Missstände abgelenkt werden. Und das gelingt fast immer. Ist der Krieg erfolgreich, so wächst das Selbstbewusstsein des Bürgers; er kommt sich erhaben vor über die Bürger anderer Nationen und vergisst dabei leicht die Knechtschaft im eigenen Lande! Geht es aber nicht nach Wunsch im Kriege, droht gar der Feind mit Einfall, so lässt die augenblicklich aufflammende Sorge um Weib und Kind alle innerpolitischen Wünsche verstummen innerhalb der Bürgerschaft, und der Despot erscheint schließlich noch als Retter des Vaterlandes! So hat denn auch Russland von jeher Eroberungskriege geführt: es unterwarf außer Sibirien auch Polen, Finnland, große Teile der Türkei und ganz Zentralasien, bis nach Indien hin. Das russische Reich ist bekanntlich nach dem englischen Imperium das größte der Welt! Diese Tatsache und die ruhmvolle kriegerische Vergangenheit Russlands ist dem russischen Bürger in Fleisch und Blut übergegangen, und sein Nationalstolz wird dabei von der Regierung mit großem Nachdruck genährt. Vor allem auch dadurch, dass den Bürgern der unterworfenen Länder in jeder Weise ihre Zugehörigkeit zu Russland, ihr Unterworfensein fühlbar gemacht wird. Wir erinnern nur an die barbarische Behandlung der Finnen, Polen, Kleinrussen, Deutschrussen! (Wir wollen dabei freilich nicht untersuchen, wieweit hier auch politische Notwendigkeit für das despotische Regiment vorlag, insofern, als es doch nicht gut anging, die unterworfenen Völker bei größeren innerpolitischen Freiheiten zu belassen, als sie die Bürger des siegreichen Russlands genießen!) Wenn nun auch das fortschrittliche Russland gegen brutales Russifizieren (freilich sehr platonisch) protestiert, so wird doch der Masse des russischen Volkes gegenüber hier der Zweck völlig erreicht. Ihr Nationalbewusstsein wird auf gespannter Höhe erhalten, — ohne dass die Regierung genötigt ist, die bürgerlichen Freiheiten wesentlich zu erweitern! Bei alledem bleibt es aber durchaus begreiflich — eben durch die Tatsache des Despotismus, den niemand liebt, und den niemand jemals zu vergessen vermag in Russland — dass das in allen Russen von der Kirche (die sie für die allein Rechtgläubigen erklärt) und vom Staate (der ihnen auf jede Weise ihre nationale Überlegenheit anderen Völkern gegenüber zum Bewusstsein bringt) von Kindheit auf sorgfältig großgezogene nationale Selbstbewusstsein seinen letzten Inhalt nimmt, nicht aus der Größe des russischen Reiches, vielmehr aus dem Momente, das man in dem engeren Kreise, dem man jedesmal angehört, am meisten schätzt. So gründet sich der links-radikale russische Chauvinismus durchaus auf dem Anspruch überlegener Menschlichkeit: der fortschrittliche Russe glaubt geradezu, ein Monopol auf die menschliche Seele zu haben! Der radikal gesinnte russische Student glaubt, dem „engherzig bourgeoisen“ westeuropäischen Studenten durch seine „sozialistische Kultur“ überlegen zu sein. Auch der russische Mittelstand, soweit von ihm überhaupt die Rede sein kann, das konservativste Element in Russland, das Kleinbürgertum und die mittlere Kaufmannschaft, schöpfen ihr Nationalbewusstsein nicht vor allem aus der nationalen Größe Russlands, die freilich hier ganz besonders stark geltend gemacht wird, vielmehr vornehmlich aus der „Breite der russischen Natur“, die, wie hier behauptet wird, keinem Nichtrussen es verwehrt, auf russischem Boden sein Brot sich zu erwerben (worüber sich freilich mancherlei reden ließe). Der russische Künstler endlich ist überzeugt, dass es überhaupt nur in Russland interessante Menschen gibt (was wahr sein kann, dann aber ein großes Unglück bedeutet für das russische Volk).

Alle russischen Staatsbürger machen mithin auch seelische Überlegenheit Westeuropa gegenüber geltend (und wir wollen dabei ununtersucht lassen, wieviel nationale Selbstverteidigung hierbei im Spiele sein mag!).

Wie dem aber auch immer sei, jedenfalls trägt der russische Despotismus zum größten Teile schuld daran, dass fast in jedem Russen, von der äußersten Rechten bis zur alleräußersten Linken, ein so tiefgehendes Nationalbewusstsein lebt („ich bin ein russischer Mensch“ sagen sie alle), dass schon dadurch allein alles Geistesleben, das nicht sie geschaffen haben, also das ganze geistige Westeuropa, auf unüberwindliche Widerstände stoßen muss. Denn sie, die ,,russischen Menschen“, sind einfach außerstande, sich vorzustellen, dass der russische Mensch nicht überall das Letzte und Beste geschaffen habe!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi