Die Schicksale des russischen Volkes. Das Tartarenjoch.

Den der Zeit nach zweiten bestimmenden Einfluss auf die russische Volksseele erblicken wir im Tartarenjoch. Die Einzelheiten dieser furchtbaren Knechtung sind solche, dass wir kaum mehr den Gedanken an sie ertragen. (Noch heute heißt „Jungfernfeld“ ein großer freier Platz in Moskau, weil dort die Jungfrauen ausgewählt wurden, die lange Jahrhunderte hindurch dem Tartarenfürsten alljährlich zum Tribut gesandt werden mussten.) Bevor die Mongolen in Russland einbrachen, hatte das russische Volk in freien Gemeinschaften gelebt, in hartem Ringen mit der wenig freigebigen Heimaterde, aber ruhig zufrieden am Alltag und festlich heiter bei Spiel und Tanz am Feiertage. Dem machten die Tartaren ein Ende. Hier ward bereits die russische Volksseele vor die Wahl gestellt: zwischen Sklavensein und Nichtsein. Wir wissen dabei nicht, wieviel freie russische Männer damals der Knechtschaft den Tod vorzogen. Jedenfalls aber sind die heutigen Russen vornehmlich Abkömmlinge derer, die in Knechtschaft am Leben verharrten. (Und das braucht gar nicht aus Feigheit geschehen zu sein, allein schon der Christenglaube wies diesen Weg.) Durch die tartarische Knechtschaft ward wohl der russischen Seele jener erste Anstoß gegeben dazu, außerhalb der Wirklichkeit ihr Leben zu führen im Traum von einer besseren Welt. Und das bedeutet eine in Künstlertum endende, wenn nicht schon aus ihm geborene Seelenverfassung, die auch in der Lehre der Kirche reichlich Nahrung fand, und in der die weiteren furchtbaren Schicksale Russlands, vor allem der politische Despotismus und die Leibeigenschaft, die russische Seele immer mehr bestärken sollten, bis dann aus diesem von Hause aus mit reichstem Wirklichkeitssinn begabten Volke jenes lebensfremde Künstlervolk ward, dem wir im heutigen Russland begegnen — wo immer es sich auslebt jenseits seiner rein materiellen Interessen. Aber auch alle anderen Umbiegungen der Menschenseele, die langjährige Knechtschaft mit sich bringen muss, und die wir heute noch im russischen Volke wahrnehmen, können mühelos auf das Tartarenjoch zurückgeführt werden. Vor allem jener auffällige Mangel an Interessiertheit an dem Werke der eigenen Hände. Das nutzte ja dem Sklaven nichts; sein Herr konnte jederzeit alles an sich nehmen, was sein Sklave erarbeitet hatte. Hier wurzelt denn auch vielleicht jener den Ausländer in Russland so seltsam anmutende, offenbar tief in der russischen Volksseele schlummernde Schicksalsglaube, der den Russen auch in größter Gefahr in Ruhe und Gleichgültigkeit verharren lässt. Auch hat hier wohl jene seltsame, uns oft unbegreifliche Gleichgültigkeit des Russen den äußeren Gütern der Welt gegenüber ihren Ursprung, jene Gleichgültigkeit, die ebenso sehr Größe wie Schwäche sein kann. Erlebten wir es doch mehr wie einmal, dass ein Russe das, was er jahrelang in rücksichtslosester Energie erstrebt und schließlich auch erreicht hatte, — und der Russe kann auch Energie beweisen, er braucht nur mit ganzer Seele bei der Sache zu sein, — ganz plötzlich von sich wirft wie ein Nichts, in einer bloßen Laune, wie es uns scheinen will (freilich kann man das auch so erklären, dass des Russen Seele in der Zwischenzeit ganz allmählich eine andere, ihrem Wesen entsprechendere Einstellung annahm, von der aus ihm höhere Werte aufgingen, oder von der aus ihm aller Erdenbesitz plötzlich nichtig erschien. Und dem Russen eignet nun einmal jene freilich oft etwas vorschnelle — aktive Ehrlichkeit, seine Überzeugungen unmittelbar in Handlungen umzusetzen).

Jedenfalls muss es als Tatsache, und zwar als eine für uns Westeuropäer nacheifernswerte und etwas beschämende Tatsache angesprochen werden, dass auch der gebildete Russe viel weniger an den äußeren Gütern der Welt hängt wie wir, dass es ihm weit geringere Überwindung kostet als uns, seine Lebensansprüche auf das eben zur Daseinserhaltung Notwendige einzuschränken. Hier wurzelt, nebenbei bemerkt, auch jene schlechthin vorbildliche Selbstverständlichkeit, in der der politische Märtyrer in Russland, mag er auch den besten Kreisen der Gesellschaft entstammen, die unbeschreiblich furchtbaren Zustände der Gefängnisse und der Gefangenentransporte erträgt (das heißt seelisch erträgt, körperlich gehen sie in ganzen Scharen zugrunde).


Vielleicht dürfen wir auch bereits in den Notwendigkeiten des Tartarenjochs die Veranlassung ansprechen zu jener erstaunlichen Gewandtheit auch des ganz einfachen Russen im Umgang mit Menschen, wie sie sich äußert in einem wirklich verblüffend feinem Takt. Auch der ganz einfache Russe fühlt blitzschnell das heraus, was dem schmeichelt, mit dem er gerade zu tun hat — er ist geradezu ein Meister in der Kunst, sich beliebt zu machen — auch da, wo er es eigentlich gar nicht darauf absieht, und wo es ihm auch keinerlei materielle Vorteile bringt.

Doch auch die Nachtseiten im Charakter des Russen haben hier ihren Ursprung, vor allem seine vielfach außerordentlich geringe Widerstandskraft gegenüber jederlei Versuchung, vornehmlich solcher sinnlicher Art (Alkohol, geschlechtliche Ausschweifung, Diebstahl), denen er so oft nachgibt, obwohl er weiß, dass er unrecht tut, und dass er das bereuen wird, und dass er damit die leiden macht, die er liebt und oft tatsächlich mehr liebt wie sich selber. Alle diese merkwürdigen Widersprüche in der slavischen Seele, die aus dem Russen ein so unerschöpfliches Studienobjekt für den Künstler und Psychologen machen, sie haben vielleicht vor allem ihren Ursprung in dem frühen Gebrochensein der Selbstachtung, in dem früh schon vernichteten Zutrauen zu sich selber, wie das der Sklave erfährt, wenn er das Leben in der Knechtschaft dem Tode vorzieht (und wenn er dabei auch nur am Leben blieb für seine Frau und für seine unmündigen Kinder, die er zwar nicht zu schützen vermag vor Gewalt und brutaler Willkür, denen es aber jedenfalls ohne ihn noch schlechter gehen würde).

Und die Selbstachtung, das Zutrauen zur eigenen Person ist dreimal gebrochen worden in der russischen Seele: einmal durch die Tartaren, dann durch die Leibeigenschaft und schließlich durch den die Erbschaft des Tartarenjochs antretenden Despotismus. Jene eigentümliche Haltlosigkeit der russischen Seele, jenes ihr rastloses Hin- und Herpendeln zwischen himmelhoher Begeisterung und tiefster Niedergeschlagenheit, zwischen abweisendem Hochmut und im Staube winselnder Selbstzerknirschung, alle diese ewigen Schwankungen der russischen Seele in ihrem höchsten Bewerten scheinen mir nicht — wie uns einige Panslavisten glauben machen wollen — aus geistiger Lebendigkeit hervorzugehen, — ich sehe die sonst nicht in dem Masse — vielmehr eben aus schweren, unnormal schweren Erlebnissen, aus einem allzu frühzeitigen Hineingeworfenwerden in Verhältnisse, in denen der Mensch, wenn er am Leben bleiben will, jedes Verfügungsrecht über die eigene Person verliert, und damit auch jedes Vertrauen auf sich und jede Achtung vor sich selber.

Meines Erachtens ist auch auf solche frühe Leidens- und Knechtschaftserfahrung jener seltsame, elementare Widerstand zurückzuführen, den der russische Volksgeist auch in seinen erleuchtetsten Vertretern erlebt gegenüber der Vorstellung von einem in dieser Welt hinter den Dingen liegenden Reich der Freiheit und Sittlichkeit, aus dessen Anschauung wir die Gewissheit der Richtigkeit unseres sittlichen Schaffens schöpfen gegenüber allen Missständen der Zeit und allen persönlichen Niederlagen. Solche Auffassung muss freilich einem jahrhundertelang in Knechtschaft gehaltenen Volke wie kalter Hohn erscheinen, und doch wäre das eine der Weltanschauungen, aus denen heraus dem russischen Volke das Zutrauen zu seinem Gewissenserlebnis zurückgegeben werden könnte, und dabei kann es gar keinem Zweifel unterliegen, dass eine planmäßige Stärkung dieses Zutrauens zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden ist für das russische Volk — ein Beginnen, das freilich etwas ganz anderes bedeutet als panslavistische Erziehung zur Selbstvergötterung. Die großen russischen Dichter sind denn auch, so scheint es mir, hier am Werke — soweit sie wenigstens intuitiv schaffen, nicht predigen: sie lehren die Volksseele sich selber zu erfassen in ihren selbstlosen Beweggründen — (und der Arme hegt nun einmal Scheu davor, solche einzugestehen, ihm eignet überall in der Welt die Neigung, selbstlosem Handeln selbstsüchtige Beweggründe unterzuschieben), und so das Vertrauen zu dem in sich, was über dem Schicksal steht, zurückzugewinnen und damit endlich auch die Widerstandskraft zu finden gegenüber dem der Seele Fremden, nur die Sinne Versuchenden. Am hellsichtigsten ist hier wohl Tolstoi gewesen (viel hellsichtiger noch als Dostojewski), als er — an einer viel zu wenig beachteten Stelle der ,,Anna Karenina“ — die letzte Rechtfertigung des russischen Volkes für sein Verharren in Jahrtausende langer Knechtschaft darin fand, dass das russische Volk die Knechtschaft der Sünde vorgezogen und dabei wohl gewusst habe, dass niemand über seinesgleichen herrschen kann, ohne sich versündigen zu müssen an ihnen. Es wäre billig, hier zu spotten, Tolstoi habe aus der Not eine Tugend gemacht. Wer Russland einigermaßen kennt, dem wird es vielmehr so ergehen, wie es mir erging, als ich diese Worte las. Ihm wird blitzartig ihre abgrundtiefe Wahrheit aufgehen, es wird ihm wie Schuppen von den Augen fallen, und er wird mit einem Male eine Menge Dinge verstehen, die ihm bis dahin rätselhaft erschienen (eine Fülle neuer Ehrfurcht wird er eintauschen gegen peinliche Reste von Nichtachtung einem ganzen Volke gegenüber — und solcher Tausch bedeutet in jedem Falle den größten Gewinn für unseren inneren Menschen). Der einfache Mann aus dem russischen Volk zeigt tatsächlich keinerlei persönlichen Ehrgeiz (es ist kaum möglich, einen russischen Arbeiter zum Meister zu erziehen). Der Russe zieht ganz offenbar größere persönliche Abhängigkeit vermehrter Verantwortung für andere vor. Es widersteht ihm durchaus, die Rolle des Gleichen unter Gleichen aufzugeben, in der er sich vor allem gefällt; und das kann bei seinen sonstigen Charaktereigenschaften, vor allem bei seinem ausgesprochenen Freimut, bloß so verstanden werden, dass er sich nicht zwingen lassen will dazu, sich versündigen zu müssen an seinesgleichen. Natürlich setzt solche Weltanschauung, indem sie die Regelung der tatsächlichen Geschicke der Menschen schließlich solchen überlässt, die keine Scheu hegen davor, über ihresgleichen zu herrschen und sich an ihnen zu versündigen, einen unerschütterlichen Glauben voraus an ein ausgleichendes Jenseits. Der einfache Russe lebt denn auch tatsächlich in dieser Welt für jene, und dabei eignet ihm ein unübertrefflicher Klarblick für die Tatsachen dieser Welt, die er meistern will in Rücksicht auf jene. In dieser nahtlosen Vereinigung von Weltfernheit in den Endzwecken und unübertrefflichem Wirklichkeitssinn in der Betätigung der Mittel, die zu ihnen hinführen sollen, äußert sich überhaupt für mich wenigstens die eigentlich persönliche Note im russischen Volksgeiste. Wir finden das ins Paradoxe übertrieben bei dem Terroristen. Und wir finden im Grunde ganz das gleiche als einen der höchsten Gipfel darstellender Kunst bei dem russischen Dichter, — Tolstoi ist hier zweifellos der Meister — der ebenso genial ist in der Schilderung des Sachlichen, wie in tiefgehendster Seelenergründung.

Das alles erklärt sich meines Erachtens auch aus den schweren Schicksalen des russischen Volkes, die den Russen zwangen, wenn er nicht der Knechtschaft den Tod vorzog und dabei doch Achtung vor sich selber bewahren wollte, in dieser Welt zu leben nur in Rücksicht auf eine andere Welt und in Hinsicht auf jene Welt in dieser Welt, alle die Tugenden zu verwirklichen, die dem Menschen auch in der Knechtschaft zu verwirklichen bleiben — und das sind die passiven Tugenden. Sie sind heute noch die hervorstechendsten im Charakter des Russen: seine Kraft, zu verzeihen, erlittenes Unrecht wirklich zu vergessen, seine Geduld im Ertragen von Leiden und seine einfache Ergebenheit im Sterben — und auch jene Selbstverständlichkeit, in der der Russe sein letztes Stück Brot mit dem ersten besten Hungrigen teilt. Der uns ewig verschlossene Weg der Vorsehung hat dieses prachtvolle Volk zu passiven Tugenden erzogen. Auch so noch wird es vorbildlich sein auf lange hinaus für Westeuropa, dessen Tugenden meist aktiver Natur sind, und dem der Geschmack für passive Tugenden in ganz bedenklichem Masse verloren ging, in so bedenklichem Masse, dass das handelnde Westeuropa bereits in seinen sichtbarste Wirkung ausübenden Betätigungen (denken wir nur an unser Wirtschaftsleben) mehr und mehr in offenen Widerspruch tritt zu seinem ureigensten Geiste!

Wer will aber sagen, ob nicht ein Volk, das so hoher passiver Tugenden fähig war — unter furchtbarsten Prüfungen: dem Hunger, der Misshandlung, der Todesdrohung gegenüber — ob nicht ein solches Volk auch der höchsten menschlichen aktiven Tugenden fähig sein wird, wenn ihm nur erst einmal der Druck von der Seele genommen wurde, den Jahrtausende währendes Elend und Knechtschaft auf sie legten, — ohne sie beugen zu können!

Dieser Druck offenbart sich heute am allerpeinlichsten und bedrohlichsten darin, dass dem russischen Geiste vorerst noch die Vorstellung von der wahren Freiheit fehlt. Noch fremd ist ihm die Selbstgewissheit einer Seele, die selber ihren Weg in die Ewigkeit bestimmt, selber ihren Traum von der Unsterblichkeit sich deutet, alle anderen Seelen ihre eigenen Wege nehmen lässt in das Unendliche hinein, ihnen allen ihre Dichtung gönnt von dem, was dem Verstande unfassbar bleibt, und die dabei selber keine Angst mehr hegt um ihren Himmel und um ihre Unsterblichkeit! (Und wir wissen ja heute, durch bitterste Erfahrung wissen wir das, und Ströme von Blut sind geflossen um diese Erkenntnis, dass nur unter der Voraussetzung solchen Freiheitserlebens die Achtung der Menschen voreinander möglich ist; nur dann, wenn jeder dem anderen seine Dichtung erlaubt von dem, was nur dem dichtenden Gemüte zu erfassen bleibt!)

Die Erziehung hierzu kann aber dem russischen Volke bloß wachsende Selbstbestimmung seiner politischen und kulturellen Schicksale bringen auf dem Wege einer von dem Streben nach wahrhafter Freiheit geleiteten Aufklärung. Eine solche Aufklärung meine ich hier, die den Menschen dazu erzieht, er selber zu sein auch auf die Gefahr hin, anders zu werden wie seine Lehrer. Eine solche Aufklärung meine ich hier, die es vorziehen würde, dass die Menschen selbständig in ihr Verderben gingen, als dass sie als Herde gezwungen würden zu ihrem Heile (wenn das möglich wäre, wenn Leben ohne Freiheit überhaupt ein Heil bedeuten könnte für Menschen).

So viel über die Einwirkungen des Tartarenjochs auf die russische Seele. Selbstverständlich sind sie mit dem Vorstehenden auch nicht annähernd erschöpfend umschrieben; sie werden indes deutlicher hervortreten, wenn wir nunmehr hinblicken auf die Einwirkungen, denen die russische Seele unterlag durch den politischen Despotismus.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi