Die Gottesnarren

Einen bestimmenden Einfluss auf Tolstois ganzes späteres Leben übten dann auch noch die zahlreichen „Gottesleute“, unter ihnen vor allem die „Gottesnarren“ (russisch ,,Juridiwy“, das heißt wörtlich ,,der Blödsinnige“), zu denen der Knabe Tolstoi in mannigfachste Berührung trat. Heute noch wird ganz Russland ohne Unterlass, Sommer und Winter, Tag und Nacht, von Süd nach Nord und von Nord nach Süd durchzogen von Frauen und Männern, die, in grobem Gewand, in Fußlappen, in Bastschuhen, den Sack auf dem Rücken, den langen Stab in der Hand, das blecherne Trinkgefäss am Gürtel, von einem Wallfahrtsort zum anderen ziehen und überall auf der weiten russischen Erde freundlichste Aufnahme finden. Vor allem bei dem ganz einfachen Volke. Es ist nun sehr leicht, diese Leute einfach abzutun als Schmarotzer, Faulenzer und Betrüger. Wer aber auch nur ein klein wenig das russische Volk kennt, wird durchaus Tolstoi beipflichten, wenn er so über die „Gottesleute“ urteilt: ,,Gottesleute verkehrten viele und von mancherlei Art in unserem Hause, und ich gewöhnte mich daran, und ich bin tief dankbar dafür meinen Erziehern, mit großer Achtung auf sie zu schauen. Mögen auch Unaufrichtige unter ihnen gewesen sein, mögen auch in ihrem Leben Zeiten der Schwäche und der Unaufrichtigkeit nicht gefehlt haben, die eigentliche Aufgabe ihres Lebens war — wenn auch töricht in praktischer Hinsicht — eine so hohe, dass ich froh bin, dass ich von Kindheit an unbewusst gelernt habe, die Höhe ihres Tuns zu begreifen . . . Ein solcher Gottesnarr war auch die Taufmutter meiner Schwester Marja Gerassimowna und der halbblöde Jewdokumuschka und noch einige andere, die in unserem Hause lebten. Auch einen wirklichen Idioten, den Gärtnergehilfen Akim, habe ich als Knaben gekannt, und es hat großen Eindruck auf mich gemacht, wie der betete und mit Gott wie mit einem lebendigen Wesen verkehrte: ,Du bist mein Arzt, du bist mein Apotheker,‘ sprach er mit eindringlicher Stimme, und dann sang er Verse vom Jüngsten Gericht, wie Gott die Sünder von den Gerechten schied, und den Sündern gelben Sand in die Augen streute!“ In der ,,Kindheit“ gedachte Tolstoi dieser Gottesnarren in der ergreifenden Gestalt des ,,Juridiwy“. (Es wird dort erzählt, wie die Kinder in der Kammer des Gottesnarren versteckt, und unbemerkt von ihm, Zeuge seines Gebetes sind.)

„Seine Worte waren verworren, aber rührend. Er betete für alle seine Wohltäter (so nannte er die, die ihn aufnahmen), darunter für die Mutter, für uns, er betete auch für sich, er bat, Gott möge ihm seine schweren Sünden vergeben, und wiederholte immer wieder: ,Mein Gott, mein Gott, vergib meinen Feinden!‘ Ächzend erhob er sich vom Boden, und indem er wieder und wieder die gleichen Worte murmelte, warf er sich abermals zur Erde nieder, und erhob sich wieder, ungeachtet der Schwere der Ketten, die er um den Leib trug, und die einen trockenen, scharfen Klang von sich gaben, jedesmal, wenn sie auf die Erde aufschlugen. Lange noch befand sich Grischa (so hieß der Gottesnarr) in diesem Zustande religiöser Verzückung und improvisierte Gebete. Bald wiederholte er einige Male nacheinander: ,Herr Gott, hab' Erbarmen!‘ aber jedesmal mit neuer Kraft und mit neuem Ausdruck, bald sagte er nur: ,Verzeih mir, Herr, lehre mich, Herr, was zu tun . . . lehre mich, was zu tun, Herr!‘ Und sagte dies mit solchem Ausdruck, als erwarte er alsogleich die Antwort auf seine Worte, bald waren nur Klagen und Schluchzen zu vernehmen. ... Er hob sich auf die Knie, kreuzte die Arme auf der Brust und verstummte: ,Ja, es geschehe dein Wille!‘ schrie er plötzlich mit unnachahmlichem Ausdruck, fiel mit der Stirn zu Boden und schluchzte wie ein kleines Kind . . . Viel Wasser ist seit dieser Zeit zum Meere geflossen, viele Erinnerungen von dem, was vergangen ist, haben seitdem für mich ihre Bedeutung verloren und wurden zu unklaren Vorstellungen, ja, und auch der Pilger Grischa hat längst schon seine letzte Pilgerfahrt beendet, der Eindruck aber, den er in mir auslöste, das Gefühl, das er in mir erweckte, wird niemals in meiner Erinnerung sterben!“


„Oh! Du großer Christ Grischa! Dein Glaube war so mächtig, dass du die Nähe des Herrn spürtest. Deine Liebe war so groß, dass die Worte von selber deinen Lippen entflossen du hast sie nie mit dem Verstande nachgeprüft . . . Und welches hohe Lob brachtest du Seiner Hoheit, als du, keine Worte findend, dich in Tränen am Boden wandest!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi