Die Gefühlsuntertanschaft des Russen als Grundlage seines Verhaltens zu Mitwelt und Weltall.

Als Hauptcharakterzug des russischen Volkes erscheint mir eine außerordentliche Reizbarkeit, die ein überwiegendes Gefühlsleben zur Voraussetzung hat: der Russe erlebt an jedem Erlebnis vorwiegend die Gefühlsseite (und ein jedes Erlebnis ist Gedanken-, Gefühls- und Willenserlebnis in einem, weil der Mensch nie aufhört zu denken, wenn er fühlt, und zu wollen, wenn er denkt). Wenn wir uns mithin fragen, wie sich ein vorwiegend gefühlserlebender Mensch verhalten muss zu sich selber und zur Umwelt, so werden wir damit, freilich in großen Umrissen, das seelisch-geistige Schicksal Russlands umschrieben haben. Natürlich ist solche Annahme (das Vorwiegen des Gefühlslebens und damit einer über großen Reizbarkeit als Hauptcharakterzug des russischen Naturells) niemals zu beweisen und darum auch nie ganz frei von Willkür. Sie ist aber notwendig, diese Annahme, damit wir überhaupt in das Chaos rein persönlicher Eindrücke von Russland Ordnung zu schaffen vermögen, und so uns selber auch nur einigermaßen davor schützen, lediglich unser persönliches Wünschen, Hoffen und Fürchten zum Ausdruck zu bringen in der Beurteilung dieses so überreich begabten, kulturell unendlich wertvollen Volkes. Dass wir aber dabei immer nur Teile vom Ganzen erfassen und nie und nirgends aus Unrechttun und Irrtum herauskommen, sei wiederum von vornherein und im weitesten Masse zugegeben. Für uns ist somit der Russe vorwiegend ein gefühlsbegabter und darum vor allem ein empfindlicher Mensch. Die empfindlichen Menschen erleben ganz im allgemeinen tiefergehend und mehr im Zusammenhange mit ihrer ganzen Person, und sie sind darum fester überzeugt von der Wahrheit dessen, was sie erleben, und wie sie es erleben, als gefühlskältere, weniger empfindliche Menschen (fester überzeugt davon, dass ihr Erlebnis von allen anderen geradeso erlebt werden muss, wie sie es erlebten). Empfindliche Menschen bleiben somit schwerer zugänglich dem, was andere erleben, ja, bereits den Überzeugungsgründen dafür, dass andere überhaupt anders erleben können wie sie. Weil der empfindliche Mensch schmerzhaft eindringlich verbunden bleibt mit den Eindrücken der Außenwelt, glaubt er Menschentum an sich zu erleben, und ist von Hause aus geneigt, in von den seinigen verschiedenen Urteilen und Anschauungen, auch über solche Dinge, die nicht unmittelbar die eigene Person des sich Äußernden betreffen, Unaufrichtigkeit, und zwar interessierte Unaufrichtigkeit, Heuchelei, anzusprechen. Daher ist denn auch der empfindliche Mensch ein geborener Todfeind jeder geschichtlichen Auffassung des Menschen: er wittert dahinter unendliche Leidensmöglichkeiten für sich, ein grundsätzliches Niemals-zur-Ruhe-kommen, ein Niemals-fertig-werden-können mit den Verwundungen seines gegenwärtigen Lebens. Er braucht einen Menschen, der ein für allemal feststeht, weil er hoffen will, einmal fertig zu werden mit dem Leben. Sonst würde er ja nie dazu kommen, hinauszudenken über es. Allen Anreiz zu denken erhält er ja so nur aus seinen Verwundungen, und so bleibt ihm kein Seelenraum dazu, frei mit seinen Gedanken zu schweben in der Unendlichkeit. Er begreift darum auch nicht solches im eigentlichen Sinne persönliches Leben und verurteilt es, überzeugt davon, dass da, wo Neigung zu Geisteskommunismus fehlt (und die Empfindlichen sind zu ihm vorausbestimmt, schon um einander zu schützen), dass da nur Selbstsucht herrschen kann, während tatsächlich hier vor allem der Universalismus Platz findet, seine Flügel zu regen.

Auch stammt vielleicht jenes Unbehagen vor ganz offenen Horizonten, jenes fanatische Bestreben, den unbegrenzten Möglichkeiten zum Gedanken möglichst rasch einen Riegel vorzuschieben, wie wir das so oft bei Gefühlsbeherrschten wahrnehmen, vielleicht stammt das alles nur aus der Furcht vor Verwundungsmöglichkeiten, die der ungehemmte Gedanke in sich bergen könnte. Auch wird, wie gesagt, von Empfindlichen das Bedürfnis nach ungehemmten Gedanken vielfach überhaupt gar nicht erlebt: gibt doch eine übergroße Reizbarkeit dem Denken des Empfindlichen an sich schon immer und immer wieder neuen Inhalt, neue Aufgaben, und hält so seinen Geist fest an dieser Erde. Der Gefühlsmensch ist in höherem Masse ein Diesseiter als der Gefühlskältere. Vor dem ausgesprochenen Jenseiter hegt der Gefühlsmensch instinktive Abneigung, weil er durch ihn mögliche Leiden vermutet, und vielleicht auch, weil er in ihm einen Überlegenen beneidet, einen, der da wirkt, wo ihm selber zu schaffen versagt ist, und der das schaut, was seinen Blicken verborgen bleibt. Eine weitere Folge übergroßer Empfindlichkeit und der natürlichen Scheu vor Leiden durch sie, ist wohl auch darin anzusprechen, dass die Gefühlsmenschen, auch wenn sie sich altruistisch hervorragend betätigen, doch weit mehr Rücksichten auf sich selber verlangen als Gefühlskältere. Gefühlsuntertane Menschen sind bestenfalls Egoisten, die sich verallgemeinern in ihren Verwundbarkeiten. Andererseits veranlasst Gefühlsuntertanschaft auch, wie bereits betont, geistigen Zusammenschluss: jeder Geisteskommunismus wurzelt hier. Der gemeinsame Gedanke ist von vornherein auf Schonung der Reizbarkeit gerichtet. Dabei bleibt kaum Bewusstseinsraum mehr für Gedanken ohne Reizanlass, für Gedanken außerhalb der Gefühlsuntertanschaft. Man nimmt solche oft von anderen und fühlt sich des Vorwurfs geistiger Unselbständigkeit überhoben im Hinblick auf die große Zahl von Mitbekennern. Das Denken des Empfindlichen ist dabei von Hause aus auf sehr großen Gebieten zur Unfruchtbarkeit verurteilt, eigentlich überall außerhalb des Seelenergründens. Der darüber hinaus denkende Empfindliche entlehnt gerne anderen seine Grundgedanken — vor allem solche über die Zusammenhänge außerhalb seiner Person, für die ihm das eigene Erlebnis fehlt — und verarbeitet sie nur im Sinne seiner Gefühlsbedürfnisse, das heißt er nuanciert nur den fremden Gedanken, freilich oft so, dass ein innerer Widerspruch dabei herauskommt.


Wiederholen wir: Ein gefühlsbeherrschter Mensch ist alles in allem genommen vorher bestimmt zum Haften am Diesseits, zum Jenseiter-Hass, zum Geisteskommunismus und zur Dogmenuntertanschaft. Es fällt ihm, dem Gefühlsuntertanen, schwer, einen Menschen aus seinen ganz bestimmten Verhältnissen heraus zu beurteilen. Er ist somit auch abgeneigt jeder geschichtlichen Auffassung vom Menschen. Unfähig, von sich selber loszukommen, höchstens einmal das eigene Schicksal zu dem der Menschheit erweiternd, glaubt der gefühlsuntertane Mensch von Hause aus mit dem ganzen Fanatismus seines Selbsterhaltungstriebes an einen normalen, ein für allemal feststehenden Menschen, und er ist überzeugt, den in sich selber zu erleben. Falls er dabei altruistisch gesinnt ist, fühlt er sich vor allem verpflichtet, den körperlichen Bedürfnissen des Mitmenschen Rechnung zu tragen, während er geistige Bedürfnisse anderer immer wieder verkennt. Er hegt überhaupt selten nur Verlangen nachzudenken, welche Folgen einer ihm von seinem Gefühl diktierten Handlung auf andere zu kommen möchten. Er sieht vornehmlich das, was ihn erregt, und begreift darum weder, noch billigt er es, wenn jemand Gedanken nachgeht, die mit dem Menschenlos zunächst gar nichts zu tun haben, wenn jemand die Wahrheit sucht auf jede Gefahr hin, das heißt ohne von der Wahrheit bestimmte, menschliche Zweckförderung zu erwarten. Der Gefühlsmensch wird darum als Lehrer und Prophet oft zum Geistesdepoten: der Mensch soll mit aller Gewalt festgehalten werden auf der Erde und bei seinesgleichen. Seine Ungeneigtheit aber zu geistigen Rücksichten, sein Unverständnis für das Freiheitsbedürfnis des Menschengeistes macht den gefühlsuntertanen Menschen leicht unzugänglich der Ehrfurcht vor dem Menschen an sich, die ja gerade das Geheimnis in jedem Menschen voraussetzt, seine Einzigartigkeit, deren Anerkennung bei dem Gefühlsuntertanen auf solche Widerstände stößt. Auch jene Hast im Aburteilen des Mitmenschen auf Grund einiger weniger persönlicher Erfahrungen ist wohl nur Folge der Reizbarkeit gefühlsuntertaner Menschen: allen an sie herantretenden Eindrücken wollen sie ein rasches Ende bereiten, um nur ja der Möglichkeit zu entgehen zu unübersehbaren Verletzungen. Dieselbe Hast der Vorsehung gegenüber treibt die Gefühlsuntertanen dem nächsten Dogma in die Arme. Ihnen fehlt eben der komische Mut; der Mut eines Menschen, der fußend auf dem absoluten Sollen, das er erlebt, sich furchtlos und auf jede Gefahr hin vertraut dem unendlichen All, ohne jeden Vorwitz vor der Gottheit. Gefühlsuntertanschaft lässt den Menschen überhaupt Widerstände erleben dagegen, eine Welt anzunehmen, in der nicht die Möglichkeit zur Befriedigung seiner Gefühlsbedürfnisse dem Ganzen als Endziel zugrunde liegt, als von Ewigkeit her feststehend im Weltenplane. Es liegt dabei in der Gefühlsuntertanschaft an sich schon eine Verführung zum Ästhetismus, d. h. zum Verwechseln von dem, was der persönlichen Gefühlsbefriedigung dient mit dem, was die Beseitigung der Verhältnisse zur Folge haben würde, durch die das Gefühl beunruhigt ward, und jene Gefühlsbedürfnisse erweckt wurden. Der gefühlsuntertane Mensch wird so, wenn er über sich selber hinausdenken will und nicht loskommen kann von sich selber, leicht zu einem, der seinem Traume lebt. Nur, dass sein Traum eine Nachdichtung der Erde ist und nicht des Himmels, wie beim universalen Denker.

Die Ethik gefühlsuntertaner Menschen gestaltet sich im großen und ganzen ungemein einfach. Jeder Geist und jedes Wagnis ist künstlich ausgeschaltet aus ihr: der gefühlsuntertane Mensch proklamiert, wenn er als Prophet, als Lehrer auftritt, neben der Askese, die gewertet wird nach der Überwindung, die sie ihm kostet, vor allem die Pflicht, die materiellen Nöte und die physischen Leiden der Mitmenschen zu lindern. Alles andere menschliche Handeln bedeutet Spielerei. Kein Mensch soll überhaupt an etwas anderes denken dürfen als daran, den Hunger seiner Mitmenschen zu stillen, solange nicht alle Menschen satt zu essen haben (Geisteshunger ist Einbildung Selbstsüchtiger). Wer sich aber der Erfüllung dieser einzig erlaubten Aufgabe widmet, der darf dann auch alle anderen Menschen nur als Mittel werten für seine Ziele. — Ein Recht zu leben, hat überhaupt nur der Hungernde, weil man ja an ihm leidet, aber auch er hat nur solange ein Recht zu leben, als er sich helfen lässt in einer Weise, dass zunächst die Gefühlsbedürfnisse des an seinem Leiden Leidenden befriedigt werden.

Die Gegenwart ist dem Gefühlsuntertanen unerträglich, aber auch eine mit Händen fassbare Zukunft bleibt ihm unannehmbar. So macht er sich in Gedanken ein Erdenteil zurecht für die Menschheit, und wählt zu dessen Verwirklichung die Mittel, die dem noch unbezwungenen Allzu-Menschlichen in ihm — und es kann überwunden werden nur da, wo Geistesfreiheit herrscht — Betätigungsfeld gewähren. Wo dann der Gedanke endigt, tritt das Opfer ein. Es wird zum Werte an sich, und zum Gradmesser sowohl für die Ehrlichkeit des Bekenntnisses zum Ideale, wie für die Zweckmäßigkeit der zu seiner Verwirklichung angewandten Mittel: denn die Selbsterziehung, die allein den Menschen in den Stand setzt, der Verführung zum Opfer um seiner selber willen Widerstand zu leisten, ist dem Gefühlsuntertanen wesentlich erschwert; ist er ja an sich schon geneigt, sein Leben gerechtfertigt zu erleben, darum, weil es ihn soviel leiden macht, und er somit das, was er allenfalls gefehlt haben könnte im Leben, stets überreich gebüßt zu haben glaubt. Daher denn auch jene Unerschöpflichkeit in Selbstentschuldigungen, die uns bei Gefühlsuntertanen immer so seltsam berührt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi