Des Studenten Tolstoi Unempfindlichkeit gegenüber dem politischen Druck in Russland

„Von ganzer Seele wünschte ich gut zu sein; ich war aber jung, ich hatte Leidenschaften, ich war allein, vollkommen allein, als ich das Gute suchte. Jedesmal, wenn ich das auszusprechen mich anschickte, was mein allerherzlichstes Verlangen ausmachte, dass ich nämlich wünschte, selbstlos gut zu sein, begegnete ich der Verachtung und dem Spott; wenn ich mich aber hässlichen Leidenschaften hingab, so lobte man mich und half mir dabei. Ehrgeiz, Machtliebe, Habsucht, Wollust, Stolz, Zorn, Rachsucht, alles das ward geehrt. Wenn ich mich diesen Leidenschaften hingab, ward ich den Erwachsenen ähnlich und fühlte, dass man mit mir zufrieden war, . .“

Wie nahe war damals Tolstoi der erlösenden Wahrheit: der Erkenntnis von dem Bedingt werden eines jeden Menschenkindes! Wollte er sie vielleicht nur deshalb nicht, um für sich selber keine Entschuldigung zu haben? Verhüllte ihm sein angeborener Hang zur Selbstpeinigung zugleich mit dem, was ihm selber Entschuldigung zu geben vermocht hätte, auch das, was uns allein gerecht sein lässt vor allen Menschen?


Die Tagebuchblätter dieser Periode geben Zeugnis davon, wie rastlos damals bereits Tolstoi an sich selber arbeitete. Immer neue Fehler glaubt er dabei zu entdecken, und er gibt sich eine ganze Reihe lapidarer Vorschriften, die stets pedantisch geordnet und nummeriert auftreten, in der Art folgender: „Zwinge deinen Verstand, ständig zu arbeiten mit der ganzen, ihm zur Verfügung stehenden Kraft“ (ich denke, das hat Tolstoi wirklich getan sein Leben lang). ,,Lies und denke immer laut“ (hierdurch soll wohl das Abschweifen der Gedanken verhindert werden, dem ein lebhafter Geist besonders leicht unterliegt). „Geniere dich nicht, den Leuten, die dich in der Arbeit stören, dies zu sagen. Erst gib es ihnen zart zu verstehen, wenn sie es nicht begreifen, so entschuldige dich und sage es ihnen ins Gesicht.“ (Dieser Vorsatz beweist die strenge Zeiteinteilung, die sich der Jüngling vorgenommen hatte, was übrigens in Russland besonders geboten ist, weil man da „nicht pedantisch wie die Deutschen“, vielmehr in „breiter Natürlichkeit“ den Mitmenschen allzu oft ohne jede unmittelbar einzusehende Veranlassung das Kostbarste nimmt, was er besitzt: seine Lebenszeit, seinen freien Bewusstseinsraum.) Neben bis ins einzelne gehenden Aufstellungen alles dessen, was der Jüngling lernen will, und in welcher Reihenfolge er dabei vorzugehen beabsichtigt, findet sich dann noch folgende vielsagende Bemerkung in seinem Tagebuche:

„Eine Veränderung in deiner Lebensführung soll vor sich gehen: es ist aber nicht nötig, dass diese Veränderung das Ergebnis äußerer Umstände sein muss, sie soll vielmehr das Werk deiner Seele sein!“ (Dies lässt auf — unausbleibliche — Enttäuschungen schliessen an der Wirksamkeit rein mechanischer Lebensregeln, wie sie sich der Jüngling erteilte in Unkenntnis der ewig wechselnden, niemals gleichartigen Bedingungen, unter denen die Willensentscheidungen an den Menschen herantreten.) Vielleicht kennzeichnend für den späteren Autor der ,,Kreutzersonate“ (der übrigens als Dichter sonst einer der machtvollsten Verherrlicher des weiblichen Geschlechtes war: Seine Natascha, seine Kitty und zahllose ihrer jüngeren Schwestern werden vermutlich leben, solange man zu lesen versteht) ist folgender Tagebucheintrag: „Blick' auf die Gesellschaft der Frauen hin wie auf eine unvermeidliche Unannehmlichkeit im Gesellschaftsleben, und halte dich ihr ferne, soweit das nur möglich ist. In der Tat: von wem lernen wir denn Sinneslust, Verzärtelung, Leichtsinn in allem, und eine Menge anderer Laster, wenn nicht von den Frauen? Wer ist daran schuld, dass wir unsere angeborenen Gefühle verlieren: Kühnheit, Festigkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und andere, wenn nicht die Frauen? Die Frau ist empfänglicher als der Mann, deshalb waren in den Zeiten der Tugend die Frauen besser als wir, im jetzigen, verworfenen, lasterhaften Zeitalter sind sie schlechter!“

Diese naiven Worte lassen vielleicht vor allem auf persönliche Verwundungen schliessen, wohl vornehmlich auf solche der Eitelkeit, die der überempfindliche und dabei schüchterne Jüngling im Kreise lebhafter Frauen erfahren haben mag.

Es hat sich übrigens aus dem achtzehnten Lebensjahr Tolstois auch eine vollständige philosophische Abhandlung erhalten (dieselbe, die ein Freund von Tolstoi durchaus nicht für dessen Werk halten wollte). Tolstoi gibt darin folgende Definition der Philosophie: „Der Mensch strebt, das heißt der Mensch ist tätig. Worauf ist seine Tätigkeit gerichtet? Auf welche Weise kann man diese Tätigkeit zu einer freien gestalten? Hierin ist das Ziel der Philosophie beschlossen in ihrer wahrhaftigen Bedeutung. Mit anderen Worten: Philosophie ist die Wissenschaft vom Leben!“ Skizzen finden sich noch aus dieser Zeit über folgende Gegenstände: ,,Vom Urteil über das zukünftige Leben“, „Definition von Zeit, Raum und Zahl“, „Die Methode“ und anderes . . . Auch schrieb Tolstoi damals Kommentare zu Rousseaus „Discours“, die sehr bemerkenswert sein sollen, mir aber leider unzugänglich blieben.

Alles in allem genommen, erkennen wir in dem neunzehnjährigen Tolstoi bereits scharf und klar ausgeprägt die Richtungslinien, denen er in seinem ganzen späteren sittlichen und geistigen Leben treu bleiben sollte. Es fehlt bloß noch die Erfahrung, die Nachprüfung der erlebten Maßstabe an der Wirklichkeit, an der Fülle des Lebens.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi