Der neue Vormund: die Gräfin Alexandra von Osten-Sacken

Zum Vormunde über die Waisenkinder ward die älteste Tochter der Verstorbenen, Tolstois Tante, die Gräfin Alexandra Iljmischna Osten-Sacken bestellt. Sie war ein selten schönes und liebreizendes junges Mädchen gewesen, als sie, kaum sechzehn Jahre alt, den baltischen Grafen Osten-Sacken heiratete, der bereits ein Jahr darauf dem Verfolgungswahnsinn verfiel. Auf einer Spazierfahrt mit seiner bereits in froher Hoffnung befindlichen jungen Frau glaubte er sich von Feinden verfolgt, drückte seiner Frau eine Pistole in die Hand und sagte ihr, wenn sie nun vom Feinde eingeholt würden, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als einander zu erschießen. Unglücklicherweise fuhr gerade in diesem Augenblick eine Equipage an ihnen vorüber, und Osten-Sacken schoss seiner Frau in die rechte Seite, ließ den Wagen halten, legte die Verwundete auf den Rasen und fuhr davon. Des Weges kommende Bauern nahmen die Bewusstlose auf und brachten sie zu einem Pastor, wo sie freundliche Pflege fand. Sie hatte sich bereits gut erholt, als der Gatte sie besuchte, großes Interesse für ihre Gesundheit an den Tag legte und sie bat, ihm ihre Zunge zu zeigen; als sie dies aber tat, fasste er blitzschnell ihre Zunge und zog ein Rasiermesser heraus, um sie ihr abzuschneiden. Glücklicherweise gelang es noch, den Wahnsinnigen zu überwältigen und ihn endgültig in einer Irrenanstalt unterzubringen, wo er bald darauf starb. Alexandra Iljinischna zog nun zu ihren Eltern nach Petersburg, wo sie ein totes Kind gebar. Da man fürchtete, sie werde die Kunde hiervon nicht überleben, legte man ihr ein fremdes Kind unter, die Tochter eines Hoflakaien, die sie an Kindes Statt aufzog, und die auch später im Hause Tolstoi lebte, als Alexandra Iljinischna nach Jasnaja Pol Jana übersiedelte.

Diese Tante Osten-Sacken ist ein aufrichtig religiöser Mensch gewesen; ihre Lieblingsbeschäftigung war, Lebensbeschreibungen von Heiligen zu lesen, und endlose Gespräche zu führen mit Gottesleuten, Mönchen, Nonnen und Priestern. Sie bestrebte sich dabei aufrichtig eines wahrhaft christlichen Lebenswandels. Sie war ungemein wohltätig und rücksichtsvoll. Das bereits erwähnte Dienstmädchen Gascha, das nach dem Tode der Großmutter in den Dienst von Alexandra Iljinischna getreten war, hat dem Knaben Tolstoi erzählt, wenn seine Tante in Moskau zum Frühgottesdienst gegangen sei, sei sie auf den Fußspitzen an dem schlafenden Dienstmädchen vorübergegangen und habe selber alle Dienste verrichtet, die das Mädchen zu verrichten gehabt hätte. Dieser Zug habe auf ihn einen ganz besonderen Eindruck gemacht, bemerkt Tolstoi, der, wie wir bereits wissen, von jeher die Menschen zu beurteilen pflegte nach ihrem Verhalten zu denen, die ihnen Dienste tun müssen. Tolstoi erzählt des weiteren noch von seiner Tante Osten-Sacken, sie sei in Kleidung und Kost so anspruchslos gewesen, als dies überhaupt nur möglich ist — und (wie unangenehm es ihm auch sei, davon zu sprechen) er erinnere sich besonders eines gewissen sauren Geruches, der von seiner Tante ausgegangen sei. „Wahrscheinlich die Folge ihrer unordentlichen Toilette.“ ,,Und das war“, so fährt Tolstoi fort, ,,die graziöse, blauäugige, poetische Ahne, die französische Verse zu schreiben liebte, auf der Harfe spielte und stets, auch auf den größten Bällen, den größten Erfolg hatte!“


Tolstoi liebte diese Tante hauptsächlich darum, weil sie zu allen Menschen gleich gut und freundlich gewesen sei. Es sei durchaus kein Unterschied in ihren Worten und in dem Tone ihrer Stimme gewesen, ob sie nun mit allerhöchstgestellten Persönlichkeiten oder mit armen Gottesleuten und Bettlern gesprochen habe. ,,Sie hat treulich um uns gesorgt, als sie unser Vormund war, aber alles, was sie tat, erfüllte nicht ihre Seele, alles war untergeordnet dem Dienen Gottes, wie sie es verstand.“

So verlebte die Familie Tolstoi, an die sich jedesmal in der Sommerzeit auch die ältesten Knaben anschlössen, die Jahre 1838 und 1839. Im Jahre 1840 brach dann jene furchtbare Hungersnot aus, deren nie vergessenes Erlebnis im Herzen des zwölfjährigen Knaben wohl den Keim gelegt haben mag zu jener wachen Aufmerksamkeit auf seines Volkes Nöte, die Tolstoi, solange er lebte, stets als ersten auf den Plan sein ließ, wenn irgendwo im weiten Russenreiche Missernte drohte oder Hunger im Anzüge war.

Damals war auch bei den Tolstois die Ernte so gering, dass sie Getreide kaufen mussten, um ihre Leibeigenen am Leben zu erhalten, und sie außerdem gezwungen waren, ein ererbtes Gut zu verkaufen. Auch den Pferden sei damals das Futter beschränkt und der Hafer völlig entzogen worden, erzählt Tolstoi, und das habe ihnen, den Kindern, so leid getan, dass sie heimlich auf das Haferfeld der Bauern gelaufen seien, dort Hände voll gepflückt und ihren Lieblingspferden in die Krippe gelegt hätten, ,,ohne das Verbrechen zu begreifen, das wir so begingen.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi