Der Einfluss dieser Periode auf Tolstois gesamte Weltauffassung

Wenn wir in den „Kosaken“, wo Tolstoi bekanntlich sich selber als Olenin geschildert hat, lesen, wie dieser junge Mensch immer wieder in dürre Reflexion verfällt, wie er leben möchte und zu leben sich sehnt, und doch nie aufzuhören vermag, nachzudenken über das Leben und über die Liebe, so scheint sein ganzes Leben dort in den Stossseufzer auszuklingen:

,,Könnt' ich Magie von meinem Weg entfernen.
Die alten Zaubersprüche ganz verlernen,
Stand' ich vor dir, Natur, als Mensch allein.
Dann wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein!“


Tolstoi vermochte aber nicht, die Magie von seinem Wege zu entfernen, hier als ein Jüngling unter den freien Kosaken ebensowenig wie zwanzig Jahre später als reifer Mann unter den Nomaden der Steppe, wo er gleichfalls homerisch-einfache Zustände antraf. Niemals, sein ganzes Leben lang, verlernte Tolstoi die alten Zaubersprüche, und schließlich rief er sie selber herbei und beugte sich ihnen und entfernte sich mehr und mehr von der Natur.

Dazu hatte ihn ja Gott geschaffen, dass er anderen die Widersprüche in ihrer Seele zu lösen verhelfe. Sein eigenes Leben musste darum voller Widersprüche bleiben, ein Opfer sein ohne Ende. Er selber musste dem Leben dieser wunderbaren Welt erstorben sein, um das Leben nachschaffen zu können für die, die es wirklich leben, und um es die dann begreifen zu lehren, — und nur der ewig Harrende, der nie Fertige vermag dem Ringenden ein Helfer zu sein. Die Jugend will aber nicht an die Notwendigkeit des Opfers glauben. Tolstoi sträubt sich mit Händen und Füssen dagegen. Aber wenn ihm so auch niemals ein einfaches, freies, natürliches Leben beschieden war, wie er es die freien Kosaken um sich herum führen sah, und wenn auch sein ganzes Leben ein zerrissenes gewesen ist und oft jeglicher Freude entbehrte, so hat Tolstoi doch ein tiefes, großes, mächtiges, vielbewegtes Leben gelebt und Spuren davon zurückgelassen für alle Zeiten. Und darum hat ihn auch in allen Kämpfen und bei allen heimlichen Niederlagen nie der Glaube verlassen an sein Ideal. Niemals vergeblich hat er es angerufen. Und wenn er nur seiner bewusst ward, dann flohen die Gespenster. In den „Kosaken“, die er schrieb, um sich nachträglich klar zu werden über seine Kaukasierzeit, verleiht er dem allen ergreifenden Ausdruck:

„Weshalb bin ich glücklich, und wozu lebte ich früher,“ sagte sich Olenin, umgeben vom Grün des kaukasischen Urwaldes, „welche Ansprüche stellte ich nicht an mich, was sann ich nicht alles aus? Und nichts tat ich mir an, außer Schande und Kummer! Und jetzt! Hier brauche ich gar nichts mehr, um glücklich zu sein.“ Und plötzlich war es ihm, als gehe eine neue Welt vor ihm auf. ,,Siehst du, da ist das Glück!“ sprach er zu sich selber . . . „Das Glück liegt darin, für die anderen zu leben. Und das ist auch klar. In den Menschen ward das Bedürfnis nach Glück gelegt. Es ist demnach wohl gesetzlich. Wenn man es aber in selbstsüchtiger Weise befriedigen will, das heißt, indem man für sich selber Reichtum, Ruhm, angenehmes Leben, Liebe sucht, kann es dahin kommen, dass die Umstände sich so gestalten, dass es unmöglich sein wird, dies Verlangen zu befriedigen. Folglich sind diese Wünsche ungesetzlich; ungesetzlich ist aber nicht das Bedürfnis nach Glück. Welche Wünsche können aber immer befriedigt werden, unabhängig von äußeren Umständen, welche? Die Liebe, die Aufopferung . . .“ Und es kam eine solche Freude über ihn, und er geriet in solche Erregung, als er diese, wie es ihm schien, völlig neue Wahrheit fand, dass er aufsprang und in Ungeduld suchte, für wen er sich am schnellsten aufopfern könne, wem er Gutes erweisen, wen er lieben solle . . . „Siehst du, du brauchst ja gar nichts für dich,“ dachte er immer wieder, „weshalb denn nicht für andere leben . . .“

Diese erste kaukasische Zeit hat selbst der spätere Asket Tolstoi anerkannt, ja sie eine seiner glücklichsten Zeiten genannt. In seinem religiösen Leben habe er damals auf einer Höhe gestanden, die er dann nie mehr erreicht habe. Das ist zum Teil wohl auch in den ganz besonderen Umständen seines damaligen Lebens begründet: sie waren wie geschaffen dazu, ihn zu veranlassen, sich in sich selber zu vertiefen. Und Tolstoi brauchte dabei bloß — wir wissen das bereits aus den Geständnissen des Knaben — einigermaßen geschützt zu sein vor Verwundungen durch die Außenwelt, um lauterste Religiosität, lebhaftestes Gottesbedürfnis in sich zu erleben. Und wenn er dann nachging dem Rufe seines Gottes, so musste der ihn geleiten bis zur Pforte des Paradieses. Tolstoi hat ihm aber nie so weit nachzugehen vermocht, dem Rufe seines Gottes. Auch im Gebet vernahm ja Tolstoi die Leidensrufe seiner Mitmenschen, sah er Arme hilfeflehend ausgestreckt nach sich. So kam er nie bis ganz hin zu seinem Gotte. Damals, im Kaukasus, war er ihm vielleicht noch am nächsten: es fehlte die Ablenkung durch die Gesellschaft, fern von ihm lag seine große Reue. Tolstoi brauchte dabei hier keine unmittelbare praktische Aufgabe zu erfüllen, hatte er doch damals eigentlich gar keinen Beruf. Und es war auch nichts da zu bemitleiden: diese freien Menschen halfen sich selber. Und dazu noch rief alles hier: die himmelhohen Berge, die blühende Erde und der weite Himmel, das alles rief ohne Unterlass Tolstois ehrfurchtsvolles Herz zur Anbetung des Höchsten. Und er folgte dem Rufe so wie niemals später mehr. Auch nicht in der Zeit seiner Umkehr: da hielten ihn bereits die Leiden der Menschen umklammert, und Sorge um Weib und Kind, und nie völlig überwundener Zweifel, ob es nicht ein Raub sei an ihnen, den Nächsten, die ihm Gott gegeben, wenn er sich völlig hingebe an alle, die doch nie zu umfassen sind, und die missverstehen und die Wahrheit nicht lieben . . .

Leider hat diese Zeit nicht lange gewährt. Mit Tolstois Eintritt in die Armee war es damit aus. Diese Epoche hat aber mächtig rückgewirkt auch auf Tolstois geistiges Leben, auf seine Vorstellung von den Zusammenhängen der Welt da draußen, und sie war bei ihm unzertrennlich verbunden mit seinem Erleben von der Welt, die er im Busen trug, von der sittlichen Welt. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhange daran, dass angeborene Geistesrichtung, das heißt geheimnisvolles Seelenbedürfnis, Tolstoi von früh auf veranlasste, den Menschen und die Schöpfung als eine von Ewigkeit her fertig vorliegende, sich nur äußerlich verändernde und niemals völlig zu verderbende Erlösungsmasse anzusehen. Erinnern wir uns daran, dass Tolstois Abneigung gegen jede geschichtliche Betrachtung und seine tief in Gefühlsbedürfnissen wurzelnde Unzugänglichkeit für den Gedanken einer Entwicklung in dem, was lebendig ist — darin ist Tolstoi Goethes Gegenpol — reichlich Nahrung gefunden hatten in jener Karikatur einer geschichtlichen Wissenschaft, wie sie Tolstoi auf der russischen Universität der vierziger Jahre allein geboten werden konnte, und wie er sie gläubig hinnahm als die Wissenschaft von der Geschichte. (Und Tolstoi brannte darauf, die Wissenschaft verachten zu dürfen: mehr wie alles andere drohte sie ja dem Weltenbilde, das er nötig hatte, um leben zu können mit einer Seele, die überempfindlich war für sich selber, und dabei doch nicht gewillt war, ihr Schicksal zu trennen von dem der ganzen Menschheit.)

Erinnern wir uns des weiteren noch daran, dass von dieser Zeit an Rousseau, den Tolstoi von jeher geliebt hatte, derart sein Ideal ward, dass Tolstoi Rousseaus Medaillon ständig um den Hals zu tragen pflegte, so können wir in diesem Begegnen Tolstois mit einem Naturvolk, das wohl seit tausend Jahren genau so lebte, wie er es damals antraf, nichts anderes erblicken für ihn, als eine hochwillkommene Bestätigung jener eigentümlichen Kulturverachtung, die Tolstoi von Kind auf in sich trug (und die vielleicht vor allem einem verkappten asketischen Zug entspringt, der selbstquälerischen Neigung, das von sich zu weisen, was man am allerwenigsten zu entbehren vermag). Und wo kann schließlich der Glaube an eine von Ewigkeit her fertige Menschheit unwiderleglicher erscheinen als da, wo eine urgewaltige Natur den Menschen an sich geneigt macht, sich selber und alles Menschentum wie eine jämmerliche Kleinigkeit zu betrachten (worauf vielleicht auch der auffallende Konservativismus der Bergvölker zurückzuführen ist).


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi