Der Charakter des Knaben Tolstoi

Der Knabe Tolstoi wird als außerordentlich lebensfroh und voll lustiger Streiche steckend geschildert. Wie hätte auch sonst der Dichter Tolstoi die grundlose Heiterkeit der Jugend so wiederzugeben vermocht! (Wir entnehmen das Folgende dem „Knabenalter“):

„Auf dieser Spazierfahrt waren Lubotschka und ich aus irgendwelchem Grunde in jener besonders heiteren Stimmung, in der jedes einfachste Ereignis, jedes Wort, jede Bewegung zum Lachen veranlasst. Ein Austräger kommt im Trab über die Strasse gelaufen, — und wir lachen. Ein verlumpter ,Wanka‘ erreicht im Galopp unseren Schlitten, fasst die Enden der Zügel und schwingt sie hin und her, — und wir lachen. Philipps Peitsche hat sich am Schlitten festgehakt, er dreht sich um und murmelt: ,Ech-ma!‘ — und wir sterben vor Lachen. Mimi, die Gouvernante, sagt mit unzufriedenem Blick: ,Nur die Dummen lachen ohne Grund!‘ Und Lubotschka, ganz rot vor Anstrengung des unterdrückten Lachens, blickt von unten her zu mir auf, unsere Augen begegnen sich, und wir ergießen uns in einem derartigen homerischen Gelächter, dass uns die Tränen in die Augen kommen, und wir nicht imstande sind, den Lachkrampf zu beherrschen, der uns würgt. Kaum haben wir uns ein wenig beruhigt, da blicke ich auf Lubotschka und sage ein bestimmtes Wort, das bei uns seit einiger Zeit in Mode war, und das schon immer Lachen hervorrief, — und wir brechen aufs neue in Lachen aus.“


Selbst in seiner Unempfindlichkeit gegenüber den Leiden, die er anderen zufügt, wenn es sich dabei für ihn selber um ein Vergnügen handelt, ist der Knabe Tolstoi durchaus der normale Knabe. So hat er einst, seiner eigenen Erzählung nach, um seine Brüder durch die Kühnheit seines Reitens in Erstaunen zu setzen, ein sehr altes Pferd, auf dem er gerade saß, so unbarmherzig mit Reitpeitsche und Stiefeln behandelt, dass ihn der Kutscher darauf aufmerksam machen musste, das Pferd sei bereits zwanzig Jahre alt und völlig ermüdet. Da sprang der Knabe freilich gleich herab, küsste das Pferd aufs Maul und bat es um Verzeihung. Auch erfahren wir von anderer Seite, der Knabe Tolstoi habe einst das kleine Mädchen, in das er mit zwölf Jahren verliebt war, — zufällig seine spätere Schwiegermutter — einfach vom Balkon herunter gestoßen, um sie dafür zu strafen, dass sie statt mit ihm, mit seinem Bruder gesprochen hatte.

Dass Tolstoi sogar die volle Roheit des Knaben, wenigstens eine Zeit über, durchaus besaß, beweist die sicher auf einem Erlebnis beruhende Szene im ,,Knabenalter“, wo der Erzählende mit einem vergötterten Freunde zusammen einen schwächlichen armen Waisenknaben, der zudem noch als Gast zu ihm kam, in wahrhaft raffinierter Weise moralisch quält und schließlich aufs brutalste körperlich misshandelt. Freilich wird dann auch die tiefe Reue des Knaben geschildert. Tolstoi war wohl überhaupt der normale Knabe: mutig und mehr als auf alles andere darauf bedacht, als ein ganzer Mann zu erscheinen. So zum Beispiel bei seiner ersten Reitstunde. Er war damals so klein, dass ihn der Bereiter mit einer Hand aufs Pferd hob, bald kam er auch ins Wanken, gab aber keinen Laut von sich, wiewohl er große Furcht vor dem Fallen hegte. Und als er dann wirklich am Boden lag und sich ziemlich weh getan hatte, bat er nur, von neuem aufs Pferd gesetzt zu werden, und nahm die Reitstunde bis zu Ende. Das ist überhaupt der so äußerst seltene Vorzug des großen Künstlers Tolstoi, dass er von jeher ein völlig gesunder, körperlich und geistig normaler und außerordentlich kräftiger Mann gewesen ist, frei von irgendwelchen Schwächlichkeiten. Und auch jene übergroße Empfindlichkeit, ohne die der Künstler nicht denkbar ist (weil ihn ja das erregen muss, was andere kalt lässt, und weil er sich gezwungen erlebt zur Teilnahme an solchem, an denen wir anderen achtlos vor überschreiten), auch diese notwendige Überempfindlichkeit des Künstlers äußert sich bei Tolstoi rein seelisch: sein Körper leidet, wie wir in der Folge immer wieder feststellen werden, nur insofern, als auf Zeiten übergroßer schöpferischer Anspannung solche einer kürzeren oder längeren Abspannung folgen (mit den banalen Begleiterscheinungen: Müdigkeit, Kopfschmerzen, Apathie und Verdauungsstörung). Solche Zeiten der Abspannung werden dann entweder rasch überwunden, oder sie dienen zum Ausgang neuer geistiger Erlebnisse, wie denn auch meiner Ansicht nach des fünfzigjährigen Tolstois Bekehrung (wenn sie auch von Jugend an vorbereitet war, bis ins einzelne) ihre unmittelbare Veranlassung findet in der furchtbaren geistigen Abspannung, die der Schaffensperiode von „Krieg und Frieden“ und ,,Anna Karenina“ folgen musste.

Gewisse Vorkommnisse aus Tolstois Knabenzeit lassen dabei durchaus auf ein Übermaß an Kraftgefühl schliessen, das seinen Ausfluss suchte in außergewöhnlichen Anstrengungen und Wagnissen: so, wenn er einmal (die ganze Familie saß bereits beim Mittagessen), ,,um auf sich aufmerksam zu machen, um etwas Besonderes zu tun“, vom Fenster des zweiten Stockwerkes herabspringt, besinnungslos liegen bleibt, aber nach achtzehnstündigem Schlaf die erlittene Gehirnerschütterung überwindet. Oder wenn er bei einem Ausflug sich weigert, im Wagen Platz zu nehmen und dem Dreigespann so lange vorausläuft, bis er völlig erschöpft in den Wagen genommen werden muss. Freilich lassen solche seltsame Gewaltstreiche vielleicht mit noch größerem Rechte auf gewaltige Erschütterungen im Innern der Knabenseele schliessen, denen der Knabenverstand noch nicht gewachsen war.

Aus Tolstois Knabenzeit sei noch sein damaliger französischer Gouverneur St. Thomas erwähnt, dem Tolstoi im ,,Knabenalter“ als ,,St. Jerome“ ein so wenig freundliches Denkmal gesetzt hat, und dessentwegen Tolstoi sich bereits dort so wenig intelligente verallgemeinernde Urteile über die Franzosen erlaubt (eine Unart, die Tolstoi nie völlig losgeworden ist). St. Thomas hat übrigens die hervorragende Anlage des Knaben früh erkannt, pflegte er doch von ihm zu sagen: ,,Ce petit a une tête, c'est un petit Molière.“ Wie Tolstoi in seinen Erinnerungen erzählt, hasste er St. Thomas aus folgender Veranlassung:

„Ich weiß nicht mehr weshalb, aber wegen etwas, das nicht im geringsten Strafe verdiente, schloss mich St. Thomas einst in ein Zimmer ein, und dann drohte er mir noch mit der Rute; ich aber empfand ein furchtbares Gefühl des Unwillens, der Empörung und des Widerspruches nicht nur gegen St. Thomas, vielmehr wegen der Gewalttat, die er mir antun wollte.“ ,,Sehr möglich,“ fügt der Greis Tolstoi hinzu, „dass dies Vorkommnis zur Ursache ward jenem Entsetzen und Unwillen, die ich mein ganzes Leben lang empfunden habe vor jeder Art von Gewalt.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi