Der Charakter des Kindes Tolstoi

Wenn wir aus allen über Tolstois Kinderzeit vorliegenden Zeugnissen den Schluss ziehen wollen auf das Kind Tolstoi, so erhalten wir den Eindruck eines äußerst empfindlichen, überaus liebevollen, schüchternen, heiteren, gutherzigen, an Leib und Seele gesunden Kindes, das, in normalen Verhältnissen aufwachsend, sich allen es Umgebenden mit der gleichen Offenheit erschließt, an ihnen allen gleichen Anteil nimmt, in denen, die ihm irgendwie — meist ohne jede Absicht — weh taten, seine natürlichen Feinde erblickt, um dann um ein freundliches Wort alles wieder zu vergessen.

Als Dreiundzwanzigjähriger gedenkt Tolstoi seiner Kindertage in den Schlussworten seiner ,,Kindheit“:


,,Glückliche, glückliche, nie wiederkehrende Kinderzeit! Wie soll man nicht lieben, wie soll man nicht verhätscheln die Erinnerung an dich! Diese Erinnerungen erfrischen und erhöhen meine Seele und sind mir ein Springquell meiner besten Freuden!

. . . Nach dem Gebete hüllte ich mich wohl in meine kleine Decke, der Seele ist es leicht, hell, freudig: eine Vorstellung jagt die andere. Wovon? Sie sind unfassbar, aber alle erfüllt von reiner Liebe und von Hoffnung auf ein reines Glück. Ich erinnere mich, so kam es wohl vor, an Karl Iwanowitsch und sein bitteres Los — an den einzigen Menschen, den ich unglücklich wusste — und so leid wird mir, so liebe ich ihn, dass die Tränen den Augen entfließen, und ich denke: ,Gib ihm Glück, lieber Gott, gib mir die Kraft, ihm zu helfen, seinen Kummer zu erleichtern. Ich bin bereit, alles zu opfern für ihn!'

Dann das Lieblingsspielzeug, irgendein Häschen oder Hündchen aus Porzellan, ich drücke es in die Ecke des Federkissens und freue mich daran, wie schön warm und gemütlich es dort liegt. Noch einmal bete ich, Gott möge allen Glück geben, alle möchten zufrieden sein, und morgen möchte gutes Wetter sein zum Spazierengehen. Ich lege mich auf die andere Seite, die Gedanken und Vorstellungen verwirren sich, fließen ineinander, und ich schlafe leise ein, ruhig, mit noch tränenfeuchten Augen.

Werden noch einmal irgendwann zurückkehren jene Frische, jene Sorglosigkeit, jenes Liebebedürfnis und jene Glaubensstärke, die mein waren in der Kindheit? Welche Zeit kann besser sein als die, wo die zwei besten Tugenden: unschuldige Heiterkeit und unbegrenztes Liebebedürfnis, die zwei einzigen Antriebe im Leben waren? Wo sind sie hin, jene heißen Gebete? Wo jene beste Gabe, jene reinen Tränen der Rührung? Es flog ein tröstender Engel herbei, lächelnd trocknete er diese Tränen und fächelte süße Träume zu der unverdorbenen, kindlichen Vorstellung!

Hat wirklich das Leben so schwere Spuren in meinem Herzen zurückgelassen, dass für immer von mir gewichen sind jene Träume und Entzückungen? Sind wirklich einzig und allein die Erinnerungen geblieben?“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi