Das religiöse Leben des Studenten Tolstoi

Von seinem religiösen Leben als Jüngling erzählt Tolstoi selber im „Jünglingsalter“ so Ergreifendes, dass es uns unmöglich erscheint, die nachstehende, in der Beichte (1879) von gegebene Schilderung allzu wörtlich zu nehmen. Immerhin darf sie auch nicht übergangen werden:

„Da ich bereits im fünfzehnten Jahre philosophische Werke zu lesen begann, war mein Abfall von der Kirche sehr früh ein bewusster. Mit sechzehn Jahren hörte ich auf zu beten und aus eigenem Antriebe in die Kirche zu gehen und zu beichten. Ich glaubte nicht mehr alles das, was mir von Kindheit auf gelehrt ward, aber ich glaubte an irgend etwas. Woran ich glaubte, hätte ich nicht zu sagen vermocht. Ich glaubte auch an Gott, oder besser gesagt, ich leugnete nicht Gott. Welchen Gott aber, das hätte ich nicht zu sagen vermocht. Ich verneinte auch nicht Christus und seine Lehre, worin aber seine Lehre bestand, das hätte ich nicht zu sagen vermocht. Wenn ich mich jetzt an diese Zeit erinnere, so sehe ich klar, dass mein Glaube — das, was außer tierischen Instinkten mein Leben leitete, mein einziger, wahrhafter Glaube in dieser Zeit — der Glaube an Selbstvervollkommnung war. Worin aber die Selbstvervollkommnung bestand, und was ihr Ziel war, hätte ich nicht zu sagen vermocht!“


Das mag hingehen, nur unterschätzt Tolstoi hier wie stets, so will es mir scheinen, den unbewussten religiösen Trieb in sich. Es ist dies eine Unart, die er, meiner Ansicht nach, aus dem unseligen dogmatischen Positivismus seiner Bildungszeit, der fünfziger Jahre, übernahm und nie losgeworden ist. Ich meine die Neigung Tolstois, nur diejenigen unserer Erlebnisse anzuerkennen bei sich und anderen, die er in klare Worte zu fassen vermag. Ihm gilt hier von jeher die Bewusstheit als Kriterium des Wirklichseins. So kommt Tolstoi dazu, in allen Trieben, die er nicht in klare Worte zu fassen vermag, nur tierische Instinkte anzusprechen, und unter Vernunft nie etwas anderes zu verstehen als logische Selbstsucht. Wir werden weiter unten sehen, wie sehr Tolstoi diesen Irrtum brauchte, oder besser gesagt, da wir uns ja nicht anmaßen in seiner Seele lesen zu können, welchen Gebrauch Tolstoi von diesem Irrtum machte. Jedenfalls hält dieser Irrtum ihn ferne der Erkenntnis, die allein Klarheit in alle seine Wirren zu bringen vermocht hätte: der Erkenntnis von der Bedingtheit alles Lebendigen, der er oft so nahe war, wie zum Beispiel folgende ergreifende Auslassung in der „Beichte“ beweist, die sich unmittelbar an das eben Angeführte anschließt und ebenfalls Bezug nimmt auf Tolstois Seelenleben während der eben besprochenen Periode seines Lebens.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi