Das intuitive und das bewusste Russland. — Tolstoi als berufenster Vertreter beider.

Wenn wir zur Einführung in unsere Untersuchung über das Leben und die Werke Tolstois uns zunächst klar zu werden trachten über das heutige Russland vornehmlich in seinen Beziehungen zu uns Westeuropäern, — und ganz Westeuropa bildet Russland gegenüber ein Ganzes — so geschieht das zunächst deshalb, weil für uns Tolstoi der typische Vertreter, die vollendetste Verkörperung des russischen Volksgeistes in unseren Tagen bedeutet, und wir somit so seinem Verständnis im voraus die Wege ebnen. Aber nicht nur deshalb. Wir Westeuropäer bringen vielleicht Tolstoi vor allem gerade darum eine so rege Teilnahme entgegen, weil wir Russland begreifen wollen — und Tolstoi ist auch der vollendetste Nachdichter russischen Lebens. Russland aber wiederum erscheint uns vor allem darum so über alle Massen interessant, weil wir in ihm uns selber gleichsam noch in der Wiege erblicken: man lebt auch heute noch in Russland dem Menschenschicksal näher wie bei uns, und das verleiht dem Leben dort trotz allen unsäglichen Volkselendes jenen ganz besonderen Glanz und Wärme, nach der uns außerhalb Russlands niemals völlig die Sehnsucht loslässt, und in der so etwas liegt wie ein Versprechen. In Tolstoi suchen wir nun vor allem nach dem, was uns Westeuropäern Russland eigentlich zu sagen hat. Und das ist nicht so leicht zu erraten. Auch nicht, wenn man Jahre und Jahrzehnte hindurch in Russland lebte. Dem Ausländer fällt dort zunächst und alles andere weitaus in Schatten stellend doch nur das Elend des Volkes auf und das offenbare Unrecht, das ihm überall geschieht. Der Geist Russlands offenbart sich aber nicht darin, viel eher noch in der frommen Ergebenheit, in der alles Elend ertragen wird, in der Güte, die sich innerhalb seiner erhält, und in den Seelenerlebnissen, die das Elend ihres Volkes in Russlands Gebildeten auslöst. Das und noch unendlich viel anderes, was wir schwerlich bei Namen zu nennen vermöchten, suchen wir in Tolstoi. Wir interessieren uns für den russischen Schriftsteller, selbst wenn er ein ursprüngliches Genie ist wie Tolstoi, doch vorwiegend um der Quelle wegen, aus der er schöpft, und der, wie es uns scheint, die Zauberkraft innewohnt, alle nur irgendwie in einem Künstler schlummernde Gestaltungskraft bis in ihre letzte Vollendung zu steigern. Das moderne Russland, wo immer noch das Menschenlos so nackt vor aller Augen liegt, gewährt zweifellos eine unendlich fruchtbarere Umgebung für den schaffenden Künstler, als unser abgeschliffenes Westeuropa, wo das Leben, fast durchgehends in Verteidigung und Selbstbehauptung begriffen, sich nicht freizugeben wagt, und wo selbst das Elend gezwungen ist sich zu verbergen — um nicht noch elender zu werden. Die Menschenseele findet, so will es uns scheinen, in Russland leichter Nahrung als bei uns — denn die Menschenliebe braucht dort keine Furcht zu hegen, missverstanden zu sein und abgewiesen zu werden. Darum lebt auch der gewissenswache Mensch, alles in allem genommen, in Russland intensiver als bei uns (und somit vielleicht trotz allen Volksleidens, dem er die Seele offenhält, letzten Endes glücklicher). Oder vielleicht richtiger gesagt: der Mensch braucht in Russland weniger gewissenswach zu sein als bei uns, um viel intensiver mit seinem Volke mitleben zu müssen, und darum erhöhtes Daseinsgefühl zu erleben. Freilich sind damit auch die geistigen Gefahren größere in Russland als bei uns. Vor allem ist dort alles Geistesleben ständig dem ausgesetzt, einzig nach sozialem Maßstabe gemessen zu werden. Und der bedeutet, an die ganze Menschheit angelegt, doch nur ein trennendes Moment. In Russland sind aber nun einmal die sozialen Verhältnisse derartige, dass sie den denkenden Menschen gleich beim Erwachen seiner Selbständigkeit vor das Entweder — Oder stellen. Vor das: willst du in dieser Welt für dich oder für die anderen? — Und das wird dann entscheidend für das ganze Leben. Das denkende Russland hat vor dem denkenden Westeuropa einen unendlich überlegenen — weil mühelos zu erlangenden, ja, einfach gar nicht zu vermeidenden — sozialen Anschauungsunterricht voraus. Das macht uns die russischen Dichter und Denker so beachtenswert: sie haben einen Gegenstand vor sich, der von höchster Wichtigkeit erscheint für die ganze Kulturwelt — und nun zittern wir darum, — und diese Besorgnis ist nie völlig unberechtigt, — sie, die russischen Dichter, möchten dies einzigartige Material nicht nutzen so, wie es sich nutzen ließe im höchsten Interesse aller! Russland stellt heute das große Versuchsfeld für die europäische Kultur dar. Hier kann man noch aus eigener Anschauung lernen, wie sich des Menschen Seele abfinden muss mit ihren ganz elementaren Bedürfnissen, und wenn sie dabei ganz nur auf sich selber angewiesen bleibt. Hier, in Russland, können wir auch aus eigenem Erleben begreifen, wie sich die Seele des Menschen verhält, wenn sie gezwungen ist, jeden Augenblick ihres Daseins auf Not und Elend von ihresgleichen zu schauen. Wenn wir dabei von der Kehrseite dieses sozialen Anschauungsunterrichts absehen (dem Aberglauben an alle möglichen sozialen Heilsdoktrinen), — so finden wir hervorragende allmenschliche Betätigungsmöglichkeiten im heutigen Russland. Hier schöpfen die russischen Dichter. Und vielleicht sind manche von ihnen nur deshalb so groß, weil sie an einem Urquell sitzen, wie ihn kein westeuropäischer Dichter zur Seite hat. Die Dichter Westeuropas dringen kaum einmal, und nur in geweihten Augenblicken, durch alle sozialen Bedingtheiten, die das arme Menschenkind formen und missgestalten schon vom Mutterleibe an, hindurch bis zu dem eigentlichen Menschen, dem Menschen, den Peer Gynt meint, wenn er nach langen Irrfahrten fragt: „Wo war ich, ich selber, ungebrochen, ganz, wie einst umstrahlt von Gottes Glanz?“

Der russische Dichter ist aber einfach gezwungen, sein Volk, wenn er es überhaupt erfassen will, übersozial zu erfassen (das heißt jenseits der Einwirkungsmöglichkeiten aller gesellschaftlichen Bedingtheiten). Sonst hält er bloß die zufällige Hülle seines Volkes in der Hand. Man missverstehe uns nicht! Nicht, als ob auf der viel geduldigen russischen Erde das arme Menschenkind weniger vergewaltigt sei von Not und Elend wie anderswo in Europa. Das Gegenteil ist viel eher der Fall. Die Menschen dort haben nur mehr freien Ausblick und mehr freien Seelenraum, man kümmert sich nicht so um das Volk in Russland wie bei uns. Man lässt sie allein, auch wenn man sie verhungern lässt dabei. Sie bleiben einsam und für sich unter ihrem unfassbar hohen Himmel, allein inmitten ihrer unabsehbaren, weder durch Berg noch Hügel eingeengten Horizonte, wo die Wolken einherschweifen frei und ungehemmt wie Riesenschiffe auf dem Weltenozean. Und da diese Menschen dabei sehr geringe körperliche Bedürfnisse haben, und zufrieden und glücklich sind bei trockenem Brot (wenn sie das nur immer hätten!), so ist ihre Seele nicht so abgelenkt wie die unserige von den großen Fragen, die Himmel und Erde nie aufhören der Menschenseele zu stellen, solange die am Lichte ist. Da zudem des einfachen Russen Seele auch gar nichts ahnt von allen den Antworten auf das Grenzenlose, die sich im Laufe der Jahrtausende entrangen der gepressten Menschenbrust (und die diese dann jedesmal allen Menschen aufzwingen wollte, weil sie ihr selber so teuer zu stehen kamen, und weil sie verzweifelt wäre ohne sie), weil des einfachen Russen Seele nichts ahnt von allen diesen Antworten, so ist seine Zwiesprache mit Gott und der Unendlichkeit unbefangener wie die unserige. Er duzt weder seinen Herrgott, noch gibt er ihm gute Lehren. Er steht vor ihm, stumm und tiefbewegt, und stirbt, bevor er noch seinen Umgang mit Gott in Worte zu fassen vermochte. — Und das schien ihm auch niemals wichtig, solange er lebte.


Hier nun stehen Russlands Dichter und lauschen dem stummen Zwiegespräche ihres Millionenvolkes mit dem einen Gott in der Unendlichkeit. Und wenn sie dabei Sonntagskinder sind, die russischen Dichter, so vernehmen sie das Stammeln, Stottern und Stöhnen, wie es sich da losringt aus der Seele ihres Volkes, und fangen etwas auf davon, bevor es hinausflattert in die Ewigkeit. Was dann aber diese Dichter verkünden von dem intuitiven, dem vorerst nur vor Gott stehenden Russland, das klingt uns Westeuropäern wie Heimatlaut. Da finden wir uns selber wieder in unseren reinsten Kinderträumen und in unseren verstecktesten Sehnsüchten. Und da ist auch gar nichts, was uns fremd oder feindlich anmutete. Das intuitive, das sich selber noch nicht deutende, das restlos erlebende Russland ist Geist von Europas Geiste, ja, es ist wie eine Hoffnung auf Erfüllung dessen, was der Europäerseele an letzten Wünschen vorschwebt.

Es gibt aber noch ein anderes Russland, das Russland, das sich deuten will, das Russland, das seiner selber bewusst werden möchte, das sich dabei in weitem Masse missversteht (weil es sich für Gottes bevorzugtes Volk hält, und vor Gott sind nun einmal alle Völker gleich) und so Westeuropa verkennt und verleumdet. Von vornherein will ich dabei bemerken, dass ich durchaus nicht das ganze bewusste Russland dem Russland gleichsetze, das ich hier der Kürze wegen das bewusste Russland nenne, das ich im folgenden näher charakterisieren will, und dessen gewaltigster Wortführer meiner Ansicht nach Tolstoi gewesen ist. Ich behaupte nur, dass dies „bewusste“ Russland einen ganz mächtigen Einfluss ausübt auf das denkende Russland überhaupt, dass sich ein großer Teil des schreibenden Russlands zu ihm bekennt, die Tagespresse und die Publizistik fast durchgehends. Und darum führt letztere, alles in allem genommen, in hohem Masse dazu, die der russischen Eigenliebe so schmeichelnde vermeintliche Kluft zwischen Westeuropa und Russland noch zu vertiefen, sehr zum Schaden der Gesamtkultur. Russland bleibt so wenig geneigt, von Westeuropa das zu lernen, was ihm zu lernen notwendig wäre. Aber auch uns Westeuropäern geht so das an Russland verloren, worin es uns leuchtendes Beispiel zu sein vermöchte.

Tolstoi ist nun für beide Russlands der berufene Vertreter: als Dichter deutet er das intuitive Russland, das Russland, nach dem Europas Sehnsucht verlangt. Als Denker und Prophet dagegen gibt Tolstoi restlos das bewusste Russland zu erkennen, das Russland, das Europa missversteht und es hasst. Daher kommt es denn auch, dass der Lehrer Tolstoi dem Dichter Tolstoi von jeher widersprach, und dass der Dichter Tolstoi den Lehrer Tolstoi durchgehends widerlegt. Der Dichter Tolstoi lehrt wie jeder Dichter, und als ein sehr großer Dichter überzeugender wie die meisten anderen, die ewige Unschuld des Menschen, und so räumt er in unserer Seele die letzten Widerstände fort gegenüber der fraglosen Liebe zu unseresgleichen (denn wir können nur lieben, was uns unschuldig erscheint, sonst wäre uns unsere Liebe ein Hemmnis in unserem Wege nach oben!). Der Dichter Tolstoi singt die unzerstörbare Unschuld des Menschen und sein unausbleibliches Vergewaltigtwerden auf dieser Erde. Der Sozialprophet Tolstoi hingegen glaubt die Ursache aller unserer Übel in menschlicher Selbstsucht erkennen zu müssen und in unserem boshaften Trotz gegen Gottes Gebote, „die zugleich der Natur des Menschen entsprechen, und deren Befolgung restloses Glück gewährt.“ Der Sozialprophet Tolstoi will den Menschen zu seinen Lehren (und er meint damit zum Gehorsam gegen Gott) zwingen, indem er ihm androht, dass er ihn sonst verachten werde. Der Sozialprophet Tolstoi hatte eben die Liebe zum Menschen verloren, die den Dichter Tolstoi hellseherisch gemacht hatte für des Menschen unzerstörbare Unschuld. Der Sozialprophet Tolstoi verachtete den Menschen, statt ihn zu begreifen, und verbannte so den Geist und die Liebe aus dem Christentum, das er verkündete: er erklärte das Befolgen von Gottes Geboten für kinderleicht bei gutem Willen: Tolstoi weist die Gnade von sich!

Der Sozialprophet Tolstoi ist der erste von der nichtrussischen Welt angehörte Verkünder des europafeindlichen Russlands, des Russlands, das eine Gefahr bedeutet für unsere heiligsten Güter (und die sind Freiheit des Gedankens und Freiheit des Gewissens). Des bewussten Russlands Kulturlücken — und wir vermögen nun einmal unter Kultur nichts anderes zu verstehen als die Summe der Rücksichten der Menschen aufeinander — haben in Tolstoi sich rückhaltlos geoffenbart. Ganz Westeuropa wird sich nunmehr zusammenschließen müssen gegen das Russland, das Tolstoi verkündet, weil von hier aus heiligste Europäergüter bedroht und gänzlich missverstanden werden.

Tolstoi zeigt dabei aber nicht bloß Westeuropa, was es von Russland zu erwarten hat, und was ihm von dorther droht, Tolstoi könnte auch Russland zeigen, was ihm an wahrhafter Kultur einstweilen noch abgeht — wenn man Tolstoi in Russland kritisch nähme, wenn man dort nicht lediglich einen Gegenstand des Nationalstolzes in ihm verehrte, vielmehr auch den freimütigen Bekenner von Nationalschwächen in ihm würdigte (wenn Tolstoi selber auch in diesen Schwächen meist Tugenden zu sehen glaubte). Tolstoi könnte ein Lehrer seines Volkes werden auch durch seine Fehler, auch in seinen Irrtümern. Und er selber wäre wohl der erste, der, falls ihm im Jenseits diese Erkenntnis käme, seinem Volke zurufen würde: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach!“

Jener Mangel des Durchschnittsrussen an Ehrfurcht vor dem, was irgendwie seine Empfindlichkeit verletzt (und das tut es bereits, wenn es ihm unverständlich erscheint), ist bei Tolstoi ins Grundsätzliche erhoben. Tolstoi hat in seinen theoretischen Schriften eigentlich gar nichts anderes getan, als dass er die typischen Anschauungen und Willensrichtungen des aufgeklärten Russlands in ein System brachte (eine Art Synthese aus Panslavismus und Nihilismus, den beiden, ihrem innersten Wesen nach zum Verwechseln ähnlichen, bisherigen Hauptergebnissen des europafeindlichen russischen Geisteslebens). Tolstoi blieb immer Russe, mochte er sich noch so sehr zum Weltbürgertum bekennen, er wollte doch nur aus der ganzen Welt eine russische Bauerngemeinde machen, deren früherer Gutsherr er wäre. Tolstoi hat uns die Augen geöffnet über das moderne Russland: der Prophet Tolstoi hat der bewussten russischen Seele Sprache verliehen, wie der Dichter Tolstoi der unbewussten. Wollen wir den Lehrer Tolstoi verstehen, so müssen wir das bewusste Russland begreifen. Und wir müssten das schon darum, um dem Dichter Tolstoi, dessen ewige Schuldner wir bleiben, nicht entgelten zu lassen, was der Lehrer Tolstoi an uns sündigte. Andererseits lehrt uns der Lehrer Tolstoi das bewusste Russland sozusagen in Reinkultur kennen in seinen verschämtesten Wünschen und Abneigungen. Wir müssen aber dieses bewusste Russland zu verstehen bestrebt sein, weil noch immer sehr viel von ihm zu lernen bleibt, und wir vielleicht noch einmal in die Lage kommen werden, unsere heiligsten Güter ihm gegenüber verteidigen zu müssen. Und wir wissen, dass es jenseits ihrer (der Freiheit des Gewissens und der Freiheit der Forschung) für uns kein Heil geben kann!

Bevor ich nun auf die Charakteristik des nicht-intuitiven Russlands näher eingehe, möchte ich, um mich nicht des gleichen Fehlers schuldig zu machen, den ich ihm vor allem vorwerfe (über das zu urteilen, was man nicht versteht), noch folgendes vorausschicken, und das gilt auch rückwirkend für alles, was ich bereits vorgebracht habe an allgemeinen Urteilen über Russland. Selbstverständlich kann ich hier sehr irren! Selbstverständlich habe ich hier gar nichts anderes zur Grundlage, als die immerhin beschränkte Erfahrung eines fast zwanzigjährigen Aufenthaltes in Russland. Selbstverständlich gebe ich somit letzten Endes lediglich persönliche Anschauungen. Und selbstverständlich ist mit dem, was ich hier vorbringe, kein einziger Russe persönlich getroffen!

Ich fühle mich aber verpflichtet, eine allgemeine Charakteristik des nicht-intuitiven Russlands zu geben, weil wir Westeuropäer in ständige Berührung kommen mit ihm (und in hohem Masse gerade durch Tolstois Vermittelung), und wir ohne Besinnung auf solche allgemeine Zusammenhänge weder herauskommen können daraus, dem einzelnen Russen unrecht zu tun, noch auch imstande sind, die Gefahr wahrzunehmen, die von dieser Seite her naht und sich bereits deutlich zu erkennen gibt in unzweideutigen Drohungen. Dies offen bekannte Übelwollen des bewussten Russlands Westeuropa gegenüber (geben wir dabei ruhig zu, dass es ein Übelwollen ist im Interesse eines kommenden Heiles, wie sie es verstehen.

Dostojewski zum Beispiel erklärt, die Völker des Westens wüssten gar nicht, wie teuer sie Russland sind) geht aber deshalb vor allem dem harmlosen Mitteleuropäer so selten auf, weil dieses Übelwollen ausgesprochen wird auch von den Dichtern (freilich nicht in ihren Dichtungen), denen wir uns ihrer Dichtungen wegen tief verpflichtet fühlen, und die wir in ihren Dichtungen als Geist von unserem Geiste begreifen. Das einmal. Und dann entgeht uns das russische Übelwollen auch noch darum, weil es seine sehr feste Position hat in dem sozialen Elend, das auch bei uns herrscht. Das russische Übelwollen erscheint uns immer wieder wie reiner Schmerz über die Leiden des armen Volkes. Die uns übelwollenden Russen sind bestrebt, uns einzureden, alles, was wir gegen ihre Verdächtigungen unseres Wesens vorzubringen haben, sei im Grunde nur gerichtet gegen unsere eigene bessere soziale Erkenntnis; wir beabsichtigen damit lediglich unsere Selbstsucht zu rechtfertigen. Das ist natürlich Sophismus, wenn auch vielfach unbewusster. Tatsächlich hat soziales Elend und persönlicher Opfermut ihm gegenüber ganz und gar nichts zu tun mit irgendeinem gegen irgendwelche Menschenmehrheiten gerichteten Übelwollen. Ganz im Gegenteil sollte soziales Mitleid, wenn es echt ist und nicht zum Deckmantel dient für unbezwungenen Menschenhass, jedes menschliche Übelwollen ein für allemal ausschließen.

Das bewusste Russland ist mit seinem Übelwollen uns Westeuropäern zu einer Verführung geworden zur Ungerechtigkeit — ihm gegenüber. Eine Versuchung, gegen die ich ankämpfe eben dadurch, dass ich mein Erlebnis von Russland verallgemeinere. Ein anderes Mittel weiß ich leider nicht! Denn, wenn ich den Geist des bewussten Russlands deuten will, so will ich doch damit das, was ich selber erlebt habe in Russland und an Russen, begreifen aus der Anlage des Russen heraus, soweit ich sie verstehe, und aus den Schicksalen des russischen Volkes heraus, soweit sie mir zugänglich sind. Und das heißt doch: ich will im Grunde gar nichts anderes, als die Russen, mit deren Anschauungen ich nicht einverstanden sein kann, und deren Verhalten ich missbillige und bedauere, mir trotzdem durchaus gleichachten: ich will mir darüber klar werden, dass ich selber bei gleicher Veranlagung und gleichen Schicksalen genau so handeln und denken würde. Solche aufrichtige Gleichachtung aber der uns offen übelwollenden Russen, wie ich sie durch Nachdenken über Wesen und Werden des russischen Volkes (auf Grund meiner beschränkten Erfahrungen) erstrebte, tatsächlich erlebe und den Leser nacherleben zu lassen hoffe, muss alle Gereiztheit Russland gegenüber in Nichts zerrinnen lassen, das heißt, alle aus Unverständnis stammende und mit Naturnotwendigkeit in Hochmut ausartende Bereitschaft auf Russlands Übelwollen mit Übelwollen zu antworten. Wenn ich aber trotz aller Vorsicht und trotz klarer Erkenntnis der mir hier drohenden Gefahren dem russischen Volke (der Schicht in ihm, von der ich hier allein handle) unrecht tue — und das halte ich nicht nur für sehr möglich, ja, ich möchte wünschen, dass dem so sei — so bitte ich, die wider Willen von mir Beleidigten zu bedenken, dass ich ihnen nur so lange unrecht tue, als ich gezwungen bin, mir ein Bild zu machen von ihrem Wesen und Gewordensein: alles das, was ich im folgenden über den Geist des bewussten Russlands äußern werde, wollen wir uns ja doch nur dann ins Bewusstsein rufen, wenn besondere Veranlassung dazu vorliegt (das heißt wenn uns im russischen Leben Dinge begegnen, vor denen wir ratlos sind) und auch dann nur ganz im allgemeinen. Dem einzelnen Russen werden wir selbstverständlich immer und überall persönlich begegnen ohne einen Gedanken an das, was wir als den Geist des bewussten Russlands erkannt zu haben glauben. Denn wenn wir schon dem nächststehenden Menschen gegenüber nicht aus Unrecht herausbekommen, sofern wir nicht bei jeder Begegnung mit ihm alle bisherigen Erfahrungen an ihm vergessen (denn der Mensch ist ein Werdender und kann längst schon über das hinaus sein, was wir immer noch festhalten als Erfahrung an ihm), so gilt das erst recht den Mitgliedern einer Mehrheit gegenüber, die niemand als Ganzes zu fassen vermag, über die ein jeder immer nur ganz beschränkte Erfahrungen haben kann. Lassen wir somit, wo immer es sich nicht darum handelt, Missbilligtes durch Verstehen zu verzeihen, lassen wir da überall die russische Seele wieder hinausflattern aus dem Begriffskäfig, in den wir sie jetzt einsperren werden, um sie vor uns zu schützen. Lassen wir sie, die russische Seele, wiederum frei hinausflattern ins unendliche All, und erwarten wir von ihr wie von allem, was Gott lebend schuf, jedes holde Wunder!

Wenn ich nunmehr in aller Vorsicht ein Bild des geistigen Russlands unserer Tage zu zeichnen beginne (vornehmlich des nicht-intuitiven, des schreibenden Russlands, das andere, das stumme, das wahre Russland, Ist ja nur dem russischen Dichter zugänglich), so werde ich davon ausgehen müssen, im russischen Nationalcharakter die Seite aufzusuchen, die mir am Bestimmendsten zu sein scheint für ihn. Dann werde ich mich darauf besinnen, wie ein vornehmlich mit dieser Eigenschaft behafteter Mensch sich im allgemeinen verhalten wird zu sich selber und zu der Mitwelt; das heißt ich werde mir zunächst ein schematisches Bild der russischen Seele zu zeichnen versuchen. Des weiteren werde ich dann zu untersuchen haben, welche Einwirkungen die hauptsächlichsten Schicksale des russischen Volkes auf den Charakter der Nation ausüben mussten, das heißt wie sie einen Menschen, der sich ihnen gegenüber am Leben erhalten will, formen müssen, wie im besonderen diese Formung aussieht bei einem geradeso veranlagten Menschen, und welche Erscheinungen schließlich im modernen Russland auf diese hauptsächlichsten geschichtlichen Schicksale des russischen Volkes zurückgeführt werden können. (Die hauptsächlichsten Schicksale, natürlich nur meiner Erkenntnis nach, also besser gesagt, die auffallendsten; mir unfassbare, vornehmlich geistige Schicksale des russischen Volkes könnten sehr wohl von größerer Tragweite sein.) Nachdem ich dann so immerhin einige annähernd sächliche Momente in Händen habe, und mir damit wenigstens ein gewisser Schutz ward gegenüber der Verführung dazu, in mein Erlebnis vom russischen Geiste allzu sehr meine persönlichen Neigungen und Abneigungen hineinzudichten, werde ich schließlich dieses Erlebnis selber in ganz großen Zügen zu umschreiben bestrebt sein. Ich werde mir so einen Standpunkt herauszufinden suchen, von dem aus man dem modernen Russland gerecht werden kann, das heißt, einen Standpunkt, der uns eine in des Russen Natur begründete Erklärung seines Verhaltens uns gegenüber zeigt, und uns somit der Versuchung überhebt, selbstsüchtige Beweggründe bei ihm anzunehmen überall da, wo uns die tatsächlichen Beweggründe verschlossen bleiben. Gelingt es mir auch nur einigermaßen, die so umrissene Aufgabe zu erfüllen, so hoffe ich damit, nicht nur Tolstoi gegenüber eine kritische Plattform vorbereitet zu haben, von der aus wir die Schönheiten seines Lebens und Dichtens tiefer erleben, seine Befangenheiten begreifen und als notwendig erkennen, ich hoffe, so auch die Voraussetzung gegeben zu haben dafür, dass aus der Bekanntschaft mit Tolstois Werk ein klares, der russischen Volksseele aufnahmebereit gegenüberstehendes Verständnis für alles Russische hervorgehe. Und schließlich kann auch wiederum nur auf solchem Hintergrunde die einzigartige Persönlichkeit Tolstois zum lebendigen Erlebnis werden für den, der sich auf jedes Umlernenmüssen gefasst in Tolstois Leben und Werke vertieft. Da aber Tolstoi nicht nur ein stets restlos aufrichtiger und rastlos nach Selbstvervollkommnung ringender Mensch gewesen ist, vielmehr auch eine durch und durch tragische Persönlichkeit (ein Opfer von Irrtümern, die in seinem Heimatboden wurzeln, und denen er nicht entgehen konnte gerade deswegen, weil er zum Höchsten strebte), so muss das Erlebnis von Tolstois Leben und Dichten reinigend und wegweisend wirken auf jeden, der noch am Tage ist und nach dem Lichte ringt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi