Das Suchen des Genies nach seiner eigentlichen Berufung.

Nachdem Tolstoi der Universität den Rücken gekehrt hatte, beginnt für ihn das Tasten und Suchen des seine Verpflichtungen ahnenden Genies nach seiner eigentlichen Berufung. Dieses Suchen ist dabei hier ein wesentlich anderes, als wir es bei westeuropäischen Geistern wahrnehmen. Denken wir zum Beispiel an Goethe: der sucht, ungehemmt durch polizeiliche Denkverbote und frei von den Qualen einer sozialen Schuld, nach dem, was seiner Seele volle Freiheit gewähren könnte, und das in der frohen Gewissheit, in tiefster Seele den Gott in sich zu bergen, ihn finden zu müssen in sich; dabei aber gefasst auf jedes kosmische Abenteuer. Als Tolstoi zu denken begann, trat die Schuld seines Standes vor ihn hin, und er sah in ihr sein ganz persönliches Verschulden. Und er suchte dann sein Leben lang nach dem, was seinem früh an der Wurzel erkrankten Gewissen Beruhigung zu gewähren vermocht hätte.

Alle die verschiedenen Geistesgebiete, in die Tolstoi hineinblickte, sollten ihm lediglich dazu dienen, seinem Gewissen Heilung zu gewähren. Tolstoi gibt sich einem jeden Wissenszweig auch immer nur soweit hin, als er ihm zu diesem Ziele dienlich erscheint. Er lässt jede Wissenschaft fahren, sobald er in ihr nichts zu finden glaubt zur Heilung seines Gewissens. Und davon ist er sehr rasch überzeugt, viel zu rasch, von Hause aus mit Misstrauen erfüllt gegen jede westeuropäische Wissenschaft. So hat denn Tolstoi in sehr viele Geistesgebiete hineingeschaut, aber — und das muss gleich im Anfang mit aller Entschiedenheit festgestellt werden Tolstoi hat kein einziges Wissensgebiet jemals auch nur soweit durchdrungen, dass er einen Begriff erhalten hätte von dem, was die Methode der Wissenschaft ausmacht. Tolstoi kam aber auch nie auf den Gedanken, nach so etwas wie wissenschaftlicher Methode zu suchen, ja, auch nur deren Notwendigkeit anzuerkennen, weil er eben nie das Streben nach Wahrheit um ihrer selber willen zu begreifen vermochte, und ihm zeitlebens jegliches Verständnis abging für den hohen geistigen Mut, der dem Menschen eigen sein muss, wenn er sich, sein kosmisches Schicksal wagend, Furcht und Hoffnung für die eigene Person weit von sich werfend, der Unendlichkeit gegenüberstellt allein mit seinen Gedanken!


Für den Dichter genügt ein solcher Dilettantismus, und das ist der einzig richtige Ausdruck für Tolstois Verhältnis zur Wissenschaft. Der Dichter braucht die Wissenschaft nicht, er steht über ihr und ist ihr im Grunde seines Herzens feindlich gesinnt: denn sie gibt notgedrungen — und wie sollte auch der Mensch jenseits der unmittelbaren Eingebung das Unfassbare in Worte fassen können — nur ein Gedankenskelett statt des blühenden Lebens, das der Dichter wachzuzaubern vermag.

Freilich sollte sich der Dichter hüten, seinerseits das Leben, das er dichterisch nachgestaltend zum zweiten Male ins Dasein rief, nun auch gedanklich ausschöpfen zu wollen; er sollte wissen, dass das, was er im Kunstwerk gibt, immer viel mehr enthält, als irgendein Mensch rein gedanklich zu deuten vermag. Vergisst das der Dichter, wird er selber zum Schulmeister, so wird er der peinlichsten einer, ein geborener Geistesdespot. Das ward Tolstoi, als er zu lehren begann. Überhaupt rächte sich damals sein früher Dilettantismus bitter. Er hinderte ihn daran, gründlich von neuem mit der Wissenschaft anzufangen und versperrte ihm ein für allemal den Weg zur Forschung. Tolstoi kommt als Lehrer aus Widersprüchen nicht heraus und begeht noch in seinen letzten Schriften geradezu peinliche Denkschnitzer. Dabei sein Leben lang von einem allseitigen Tätigkeitsdrang erfüllt, der durchaus nicht den Vergleich mit Goethe zu scheuen hat, vermag Tolstoi niemals in Tätigkeit als solcher einen Wert zu erblicken: er musste über ihr seine Schuld vergessen oder durch sie sich von ihr befreien können. Hier haben wir einen der Schlüssel für Tolstois scheinbar so widerspruchsvolle Persönlichkeit in Händen. Rein geistige Bedürfnisse hat er — wenn wir vielleicht von seiner Jünglingszeit absehen — nie gekannt: unfähig dabei und nicht gewillt, sein Schicksal von dem der ganzen Menschheit zu trennen — nicht einmal das Vaterland sollte ihn der Menschheit fernhalten, — wusste Tolstoi, dass er Gewissensruhe nur dann erleben werde, wenn solche für alle Menschen möglich sein würde. Das aber musste er glauben, und es musste leicht möglich sein. Sein Verstand hatte ihm das zu beweisen. Diesem übermächtigen Drange seiner Seelenbedürfnisse vermochte auch nicht Tolstois angeborene außergewöhnliche geistige Ehrlichkeit standzuhalten. Tolstois Mangel an methodischem Denken wird ihm hier zur Rettung. Sein geistiges Gewissen erwacht nur da, wo er sich angegriffen glaubt — und zeigt hier einen unbezwinglichen Hang dazu, ins Paradoxe auszuarten. Und so endigt denn Tolstois Geistesleben schließlich darin, dass er einem engen moralischen Systeme zuliebe dem freien Gedanken entsagte, der ihm ständig die jeder Einordnung spottende Fülle des Lebens und die unvermeidliche Bedingtheit alles Lebendigen vor Augen geführt hätte. Weil aber Tolstoi dem freien Gedanken entsagte, darum vermochte er nicht mehr herauszukommen aus den Ungerechtigkeiten zu den Mitmenschen. Denn die erste Bedingung der Tugend, so sagt Pascal, ist, dass wir klar denken.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi