Brief an die Tante Jergolsky

Über Tolstois Seelenzustand während seiner ersten Dienstjahre unterrichtet folgender Brief des Fähnrichs an seine Tante. Er ist französisch geschrieben und datiert vom 6. Januar 1852:

„. . . Letzthin schrieb ich Ihnen, liebe Tante, dass Ihr Brief mich hat weinen machen, und ich gab meiner Krankheit die Schuld an solcher Schwäche. Ich hatte unrecht! Alle Ihre Briefe erzielen bei mir seit einiger Zeit die gleiche Wirkung. Ich bin immer „Leo der Heuler“ gewesen. Früher schämte ich mich dieser Schwäche, aber die Tränen, die ich vergieße in dem Gedanken an Sie und an Ihre Liebe für uns, sind so süß, dass ich sie rinnen lasse ohne irgendwelche falsche Scham. Ihr Brief ist zu voll von Traurigkeit, um nicht auch mich traurig zu stimmen. Sie sind es gewesen, die mir immer Ratschläge gaben, und obgleich ich sie leider oftmals nicht befolgte, möchte ich doch mein ganzes Leben hindurch nur nach Ihren Vorschriften handeln . . . Wenn ich nunmehr so offen zu Ihnen sprechen werde, so weiß ich, dass Sie mir das verzeihen werden in Hinsicht auf die Liebe, die ich für Sie empfinde. Indem Sie sagen, Sie seien jetzt bereit, uns zu verlassen, um die einzuholen, die nicht mehr sind, und die Sie so geliebt haben, indem Sie sagen, Sie bäten Gott, ein Ziel zu setzen einem Leben, das Ihnen so unerträglich und einsam vorkommt — verzeihen Sie, liebe Tante, es scheint mir aber, dass Sie mit solchen Worten Gott lästern und uns allen, die Sie lieben, unrecht tun. Sie bitten Gott um den Tod, das heißt um das größte Unglück, das mir geschehen könnte. Das ist keine Phrase, Gott ist mein Zeuge, dass die beiden größten Unglücksfälle, die mir begegnen könnten, Ihr Tod wäre oder der von Nikolaus, der beiden Personen, die ich mehr liebe als mich selber. Was würde für mich übrigbleiben, wenn Gott Ihr Gebet erhörte? Und wem würde ich dann Freude bereiten wollen, wenn ich mich bestrebe, besser zu werden, gute Eigenschaften mir zu erwerben und einen tadellosen, guten Ruf in der Welt zu besitzen? Wenn ich Glückspläne für mich schmiede, ist mir immer der Gedanke gegenwärtig, dass Sie mein Glück teilen und es mit gemessen werden. Wenn ich etwas Gutes tue, bin ich nur deshalb mit mir zufrieden, weil ich weiß, dass Sie mit mir zufrieden sein werden. Wenn ich schlecht handle, ist das, was ich am meisten fürchte, Ihnen Kummer zu bereiten. Ihre Liebe ist für mich alles, und Sie bitten Gott, er möchte uns trennen? Ich vermag Ihnen nicht das Gefühl auszusprechen, das ich für Sie empfinde, das Wort genügt nicht, um es Ihnen zu deuten. Und ich fürchte, Sie möchten glauben, ich übertreibe — und dabei weine ich heiße Tränen, während ich Ihnen schreibe. Dieser traurigen Trennung von Ihnen verdanke ich es erst, dass ich weiß, welche Freundin ich an Ihnen besitze, und wie sehr ich Sie liebe. Aber bin ich es denn allein, der für Sie fühlt — und Sie bitten Gott um den Tod! Sie sagen, Sie seien verlassen; wenn Sie aber nur an meine Liebe glauben könnten, so würde der Gedanke an sie Ihren Schmerz lindern, wenn ich gleich von Ihnen getrennt bin. Was mich anbetrifft, so würde ich mir nirgends einsam vorkommen, solange ich mich nur von Ihnen geliebt weiß, wie ich es jetzt bin. Ich weiß indes, dass es ein schlechtes Gefühl ist, das mir diese Worte diktiert: ich bin eifersüchtig auf Ihren Kummer!“


Demselben Schreiben Tolstois an seine Tante entnehmen wir auch noch die folgende Erzählung, die von rasse-psychologischem Interesse zu sein scheint, und zudem einen tiefen Einblick gewährt in Tolstois damaliges Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen:

„Heute ist mir etwas Derartiges begegnet, dass es mich veranlassen würde, an Gott zu glauben, wenn ich nicht so schon seit einiger Zeit fest an ihn glaubte.

Im Sommer in Stary-Jurd wussten die Offiziere nichts Besseres zu tun, als zu spielen, und zwar zumeist sehr hoch. Da man nun einmal, wenn man im Lager lebt, einander nicht aus dem Wege gehen kann, habe ich öfters dem Spiele zugesehen, mich aber ungeachtet allen Zuredens einen Monat lang standhaft gehalten. Eines schönen Tages tat ich dann scherzend einen kleinen Einsatz, und verlor; ich setzte wieder, ich verlor abermals; das Glück war gegen mich, die Spielwut erwachte in mir, und in zwei Tagen verlor ich alles, was ich an Geld besaß, dazu noch das Geld, was Nikolai mir gegeben hatte (ungefähr zweihundertundfünfzig Rubel), und außerdem noch fünfhundert Silberrubel, für die ich einen Wechsel ausstellte, zahlbar im Januar 1852.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi