Brief an die Moskauer Freunde.

Jedenfalls klingt folgender wundervoller Brief Tolstoi-Olenins an seine Moskauer Freunde bei aller Frische doch sehr nach Jean Jacques Rousseau. Dieser Brief bietet zudem auch sicherlich rein biographisches Interesse.

„Wie seid Ihr mir alle widerlich, und wie erbärmlich kommt Ihr mir vor! Ihr wisst gar nicht, was Glück ist, und was Leben bedeutet! Man muss erst einmal das Leben erfahren haben in seiner ganzen kunstlosen Schönheit! Man muss sehen und verstehen, was ich täglich vor mir habe: die ewigen, nie betretenen Firnen der Berge, und ein hoheitsvolles Weib in jener ursprünglichen Schönheit, in der wohl das erste Weib aus den Händen seines Schöpfers hervorgegangen sein muss, — und dann wird es klar werden, wer sich selber zugrunde richtet, wer in der Wahrheit und wer in der Lüge lebt: ich oder Ihr. Wenn Ihr nur wüsstet, wie scheußlich und jämmerlich Ihr mir vorkommt in dem, was Euch verführt. Wenn ich mir nur vorstelle, anstelle meiner Hütte, meines Waldes und meiner Liebe diese Gastzimmer, diese Weiber mit anpomadisierten Haaren und untergelegten falschen Locken, diese Lippen, die sich niemals natürlich bewegen, diese verhüllten und entstellten schwächlichen Glieder, und dieses Salongeschwätz, das verpflichtet ist, Unterhaltung zu sein, und kein Anrecht darauf hat, für solche zu gelten, — wenn ich mir das alles vorstelle, so wird es mir unerträglich übel. Ich sehe sie vor mir, die stumpfen Gesichter dieser reichen Bräute mit einem Ausdruck, der sagt: ,,Es tut nichts, du darfst ruhig herantreten, wenn ich auch eine reiche Braut bin!“ Dieses sich dahin und dorthin Setzen, dieses unverschämte Zusammenkuppeln der Paare, dieser ewige Klatsch, diese Verstellung, diese Regeln darüber, wem man die Hand geben muss, wem nur ein Kopfnicken gebührt, und mit wem ein Gespräch am Platze ist, — und schließlich diese ewige Langeweile im Blut, die von Geschlecht zu Geschlecht sich vererbt (und das alles bewusst in der Überzeugung von seiner Unerlässlichkeit!). Versteht nur das Eine und glaubt Einem: . . Man muss sehen und begreifen, was das ist. Recht und Schönheit, — und auseinander stiebt alles, was Ihr sprecht und glaubt, alle Eure Wünsche von Glück für mich und für Euch selber! Das Glück — das ist, in der Natur zu sein, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen. „Gott behüte, er wird noch gar eine einfache Kosakin heiraten und völlig für die Welt verloren gehen!“ So — ich stelle es mir lebhaft vor — sprechen sie von mir mit aufrichtigem Mitgefühl. Ich aber wünsche gerade dies Eine für mich: völlig verloren zu gehen in Eurem Sinne, ich wünschte eine einfache Kosakin zu heiraten, und wage es nur deshalb nicht, weil das ein Übermaß von Glück bedeuten würde, dessen ich nicht würdig bin . . . Drei Monate sind vergangen seit jener Zeit, dass ich zum erstenmal die Kosakin Marjana sah. Die Begriffe und Vorurteile der Welt, aus der ich herkam, waren noch frisch in mir. Ich glaubte damals nicht, dass ich dies Weib liebgewinnen könnte. Ich hatte meine Freude an ihr, wie an der Schönheit der Berge und des Himmels, und konnte nicht nicht meine Freude an ihr haben, weil sie schön war wie jene. Dann fühlte ich, dass der Anblick dieser Schönheit zur Notwendigkeit ward für mein Leben, und ich begann mich zu fragen: „Liebe ich sie etwa?“ Nichts aber, was dem ähnlich war, was ich mir unter diesem Gefühl vorstellte, fand ich in mir. Das war ein Gefühl, nicht ähnlich dem Gram über die Einsamkeit und dem Wunsche nach Ehe, nicht ähnlich der platonischen und noch weniger der sinnlichen Liebe, wie ich sie erfahren hatte. Ich hegte das Bedürfnis, sie zu sehen, sie zu hören, zu wissen, dass sie nahe sei, und dann war ich, wenn auch nicht das, was man glücklich nennt, so doch ruhig. Nach jener Abendunterhaltung, auf der ich mit ihr zusammen war und sie berührt hatte, fühlte ich, dass zwischen mir und diesem Weibe ein unzerreißbares, wenn auch uneingestandenes Band bestand, gegen das man nicht ankämpfen kann. Ich aber kämpfte noch; ich dachte mir: ,,Kann man wirklich ein Weib lieben, das niemals die seelischen Interessen deines Lebens verstehen wird?“ „Kann man wirklich ein Weib nur um seiner Schönheit willen lieben, gleich wie eine Statue?“ frug ich mich. Aber ich liebte sie bereits, wenn ich auch noch nicht meinem Gefühle glaubte. Nach jenem Abend, an dem ich zum ersten Male mit ihr sprach, änderten sich unsere Beziehungen. Vordem war sie für mich ein fremder, hoheitsvoller Gegenstand der äußeren Natur: nach jenem Abend ward sie für mich ein Mensch. Ich begann ihr entgegenzugehen, mit ihr zu sprechen, manchmal zur Arbeit zu ihrem Vater zu kommen und ganze Abende lang bei ihm zu sitzen. Und bei diesen nahen Beziehungen blieb sie in meinen Augen eben so rein, unnahbar und hoheitsvoll. Sie antwortete auf alles immer gleichmäßig ruhig, stolz und heiter gleichgültig. Manchmal war sie freundlich, meist aber verrieten jeder Blick, jedes Wort, jede Bewegung jene Gleichgültigkeit, die nicht verächtlich war, aber niederdrückte und bezauberte. Jeden Tag mit verstelltem Lächeln auf den Lippen bestrebte ich mich, irgend etwas vorzubringen, und mit der Qual der Leidenschaft und der Begierde im Herzen sprach ich scherzend zu ihr. Sie sah wohl, dass ich mich anstellte, blickte aber gerade, heiter und einfach auf mich. Diese Lage ward mir unerträglich. Ich wollte nicht vor ihr lügen und wollte ihr alles sagen, was ich denke, was ich fühle. Ich war besonders erregt; sie war im Garten. Ich begann zu ihr zu sprechen von meiner Liebe mit solchen Worten, dass ich mich schäme, wenn ich nur daran denke. Und ich schäme mich deshalb, weil ich nie hätte wagen sollen, ihr das zu sagen, weil sie unermesslich höher stand als diese Worte und als das Gefühl, das ich so ausdrücken wollte. Ich verstummte, und von dem Tage an ward meine Lage unerträglich. Ich wollte mich nicht erniedrigen, indem ich bei den früheren scherzhaften Beziehungen verharrte, und fühlte doch, dass ich noch nicht emporgewachsen war zu aufrichtigen und einfachen Beziehungen zu ihr. Ich frug mich in Verzweiflung: „Was soll ich tun?“ In albernen Träumen stellte ich sie mir bald als meine Geliebte, bald als meine Frau vor, um dann mit Widerwillen diesen und jenen Gedanken von mir zu weisen. Sie zu einer Dirne zu machen, wäre furchtbar. Das wäre Mord. Sie zu einer „Gnädigen“ zu machen, wie einige der hiesigen Kosakinnen, die an unsere Offiziere verheiratet sind, wäre noch schlimmer. Ja, wenn ich zu einem Kosaken werden könnte, zu einem Lukaschka, Pferde stehlen, mich betrunken in Liedern ergießen, Menschen morden und berauscht bei Nacht zu ihr ins Fenster kriechen ohne einen Gedanken daran, wer ich bin, und weshalb ich lebe? — dann, ja dann wäre das eine andere Sache. Dann könnten wir einander verstehen, und dann könnte ich glücklich sein!“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi