5. Die Lehren, die wir auch seinen Irrtümern entnehmen können

Vieles ist ihm gegenüber in Schutz zu nehmen: die ganze Welt, die sich nur der Demut erschließt.

Er wollte schrankenlose Menschenliebe — und begriff nicht, dass die bloß der Demut möglich ist.


Er verkündete die Allmacht des guten Willens, den unfehlbaren Hellseherblick des Wohlwollenden, — und begriff nicht, dass dann der Geist entbehrlich wäre dem Menschen, und seine Liebe kein Wagnis mehr wäre für ihn in das Unendliche hinein!

Er wollte die Schöpfung nachschaffen nach den Wünschen, die er für alle Menschen hegte, — und das war sein gutes Recht. Er begriff aber nicht, dass man vorher in sich selber alle Hemmnisse überwunden haben muss gegen die Liebe und gegen die Gerechtigkeit — weil man die sonst mit hineinwünscht in die Welt, wie man sie allen Menschen will, und so peinliche Reste von Allzumenschlichem vorgesehen behauptet im Weltenplane des Schöpfers!

Tolstoi erkannte dabei nie, er, der ewige Künstler — dass er sein Weltbild doch vor allem selber brauchte, um leben zu können bei seinem Mitleid. — Einer aus Millionen erlösungsbedürftiger Menschenkinder erhob er die eigene Person zum Masse allen Heiles für seinesgleichen und mehrte so die Zahl der Geistesdespoten über die Menschen. Aufrichtig liebte er zwar seine Menschen. Weil er sich aber niemals gedemütigt hatte vor ihnen, weil er noch in seiner Liebe zu ihnen etwas voraus zu haben glaubte vor ihnen: besser zu wissen als sie selber, was ihnen allen frommt, darum blieb er kleben an dem unseligsten aller Aberglauben aus den Kindheitstagen der Menschheit (unselig nenne ich ihn, weil er menschlicher Herrschsucht immer wieder die Maske der Menschenliebe leiht); an dem Glauben an das Recht und das Vermögen des Menschen, seinesgleichen schuldig zu finden vor Gott!

Ihm fehlte die Demut! Das war der Fluch, der ihm in die Wiege gelegt ward zugleich mit der Zaubergabe der Dichtung. Tolstoi glaubte den Menschen restlos begreifen zu können, den Menschen, der jedesmal als ein ganz Einzigartiger herabkommt von Gottes Throne, und allen anderen und sich selber Geheimnis bleibt, bis Gott, der allein weiß, wie und warum er ihn schuf, ihn wiederum zurückruft zu sich.

Ein stolzer Mensch, ein geistig stolzer Mensch, nicht beschränkt genug, um stolz zu sein vor den Menschen, aber immer noch viel zu beschränkt, um nicht stolz zu sein vor Gott, stieß sich Tolstoi an den Grenzen der menschlichen Begabung, rüttelte er mit frevlen Händen an den Toren der Geheimnisse, hinter denen Gott uns Sterblichen seinen letzten Willen verbirgt. — Und da Tolstoi zu hochmütig war, sich zu demütigen vor dem Höchsten, da er in beschränktem Verstandesstolz die Gnade verschmähte, den einzigen Halt, den wir Menschen haben in Gott vor der Unendlichkeit (die Gnade, die uns die Gewissheit gibt, dass wir in Einklang stehen mit dem Ewigen, wo wir selbstlos wollen, auch wenn wir nicht imstande sind, Gottes Willen restlos zu erfüllen), so rächte er sich für seine Ohnmacht vor Gott so, wie wir uns da immer noch rächten — an den Mitmenschen: sie schalt er böswillig deswegen, weil sie einander quälen, und drohte sie zu verachten, wenn sie nicht anerkennten, dass er das wisse, was ihnen allen frommt. Er bewies damit aber nur, dass auch Menschenliebe, fraglos aufrichtige, durch tausendfach blutendes Leiden am Menschenlos geschrittene Menschenliebe, den, der sie erlebt, wenn ihm die Demut fehlt, nicht davor zu bewahren vermag, dem menschenquälendsten aller Dämonen zu verfallen, dem Dämon des Hochmuts zur Beute zu werden.

Tolstoi gab ein Beispiel dafür, dass, wer das Gute will, und das Freisein nicht zu erfassen vermag, als des Menschen letztes Bedürfnis, als letzte Notwendigkeit für ihn in Hinblick auf sein Hingestelltsein vor die Unendlichkeit, dass der nicht herauskommen kann aus Irrtum und Unrechttun, wo immer er sich auseinandersetzt mit dem Schicksale des Menschen — und wenn er dabei auch die letzten Opfer brachte, die der Mensch dem Menschen zu bringen vermag, und wenn auch seine Opfer hervorgingen aus einem Herzen, das ohne seine Irrtümer verblutet wäre an der Menschen Leiden!

Das letzte und höchste, was der Mensch dem Menschen zu wünschen vermag, ist, dass er frei sei, hemmungslos frei vor dem Unendlichen!

Niemandes Liebe zu den Menschen steht darum über der des Dichters. Er hält ihnen das Leben offen in allen unendlichen Möglichkeiten! Und diese höchste Liebe besaß Tolstoi einmal — und warf sie dann fort und jagte jener anderen Menschenliebe nach, die immer noch eine Zufluchtsstätte gewährt letztem Allzumenschlichen in uns!

Denn wer den Menschen das freie Schweben in die Unendlichkeit hinein verbieten will, der muss beim Menschenhasse enden — wenn er nicht ausging von ihm.

Das ist denn auch die letzte Lehre, die Tolstoi uns gibt in seinem Irren: auch fragloses Mitleid, auch restloses Wohlwollen enthebt nicht der Pflicht des Gedankens, Jenseits aller Selbstsucht liebt der nur den Menschen, der willig eingesteht, dass er irren kann auch in dem, was er allen wünscht als ihr Heil und als ihre Erlösung. Wo das nicht eingestanden wird, wo wir den Menschen nicht lieben als einen, der jedem anderen ewig verschlossen bleibt, und der immer und überall frei sein will, da lieben wir vor allem unsere Heilsgedanken für den Menschen, da denken wir uns alle Menschen bedürftig der Rücksichten, die wir selber schmerzlich entbehren im Leben.

Und um dieser Vorstellungen willen, das heißt um unserer selber willen, verkennen wir dann die wirklichen Menschen und tun ihnen unrecht gerade da, wo wir die Menschheit in restloser Hingabe zu lieben wähnen. Da, wo wir nur für sie zu leben glauben, ist sie uns nötig, sie, in unserer Verkennung, damit wir leben können in ihr trotz unseres Leidens an ihrem Leiden!

Das war die Tragödie Tolstoi: er konnte nicht loskommen von der eigenen Person, als er dem Heile aller nachjagte, immer wieder musste er zurückkehren zu allen seinen Menschlichkeiten, weil er sich nicht hatte demütigen können vor den Menschen, weil er ihr Lehrer sein wollte, ohne ihr Jünger zu bleiben.

Durch seine Irrtümer und durch sein Scheitern gab Tolstoi die große Lehre, dass man alle Freiheiten seinem Geiste offen halten muss, wenn man die Menschen auch dann nicht verkennen will, wenn man ihnen das Beste zu wünschen glaubt.

Nur die gastfreie Seele ist fähig hemmungsloser Menschenliebe, und sie weiß dann auch zu verzichten auf die Gewissheit: sie wisse die Wege der Erlösung vor allen anderen Menschen. Liebend, ratend, segnend, immer schaffend und nie verurteilend lässt sie die Menschen eher in die Irre gehen, als dass sie sie zu ihrem Heile zwingen wollte!

Diese bedingungslose Menschenliebe, die alle Freiheiten des Geistes offen lässt den Menschen (und das heißt, die wir erleben nur in geistiger Demut: mit dem offenen Zugeständnis, dass wir irren können in allen Dingen außer in unserer Liebe), diese bedingungslose Menschenliebe trägt in sich die freudige Gewissheit dessen, dass dem von Menschen freigelassenen, den um seiner selber willen (nicht um persönlicher Heilsvorstellungen des ihn Liebenden wegen) geliebten Menschen schließlich dennoch hier oder dorten alle Dinge zum besten gereichen werden!

Wer bedingungslos seine Menschen liebt, dem schickt Gott die frohe Zuversicht, dass Er — auch für die, die hier niemals zum Lichte gelangten — eine große, geheimnisvolle Überraschung bereit hält — nicht zum Lohne ihrer Tugenden — welcher Sterblicher wäre schuld an ihnen? — Nein, als göttliches Gegengeschenk an den Menschen dafür, dass er leben musste, dass er gezwungen war das Menschliche in einer nur ihm zugänglichen Weise zu verwirklichen, ob er wollte oder nicht, — als ein göttliches Gegengeschenk an den Menschen dafür, dass er gezwungen ward, mitzuwirken am Bewusstwerden der Gottheit in der Schöpfung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi