4. Das Problem, das er aufrollte

Tolstoi hat sein Leben lang die Frage verkannt, um deren Lösung er sich eigentlich quälte. Er war ihr oft sehr nahe, er hat sie, deren bloßes Erwähnen sein ganzes Lehrgebäude zu Fall gebracht hätte, mehr als einmal in Nebensätzen bei Namen genannt und sie dann achtlos liegen gelassen. Augenscheinlich waren ganz elementare Bedürfnisse seiner Seele der Erkenntnis dieses Problems im Wege. Vielleicht ist diese Frage auch eine solche, dass bereits ihr Aussprechen der russischen Wirklichkeit gegenüber den mitfühlenden Menschen zur Verzweiflung führen müsste: denn dort nur weiß man, was die Not aus dem Menschen alles zu machen vermag. Vielleicht ist des Menschen Seele überhaupt nur da dieser Frage gewachsen, wo die Not seiner Mitmenschen sich vor ihm verbergen muss, wie in Westeuropa, oder wenigstens nicht s o zutage liegt wie in Russland.

Die Frage, die wir hier meinen, ist die: Wie hat sich unsere sittliche Persönlichkeit abzufinden mit der Tatsache, dass wir alle mitbestimmt wurden in Gesinnung und Tun durch die gesellschaftlichen Anschauungen und Einrichtungen, in die wir hineingeboren und hineinerzogen wurden.


Dies Problem hat zwei Gesichter: auf der einen Seite strahlt uns freudigste Hoffnung entgegen: so werden denn endlich einmal die Menschen aufhören, einander zu verurteilen, zu verdächtigen und zu verachten. Endlich einmal wird der Hochmut schwinden unter den Menschen — und damit werden auch die letzten Schranken fallen vor der fraglosen Liebe des Menschen zu seinesgleichen (zu der uns so mächtig hindrängt allein schon unser aller Verlassensein vor der Unendlichkeit da draußen und jedes einzelnen von uns Eingeschlossensein in seiner Unendlichkeit da drinnen). Denn wir können bloß den lieben, den wir unschuldig finden müssen (und wer ist noch schuldig vor uns, wenn wir alle wurden auch ohne unser Zutun?).

Das ist die eine Seite des Problems, die lachende, die zum Paradiese hingewandte. An sie halten vor allem wir Westeuropäer uns. Wir vielleicht leichtere Seelen, die wir das eigene Schicksal nicht so durchaus tragisch nehmen (und vielleicht damit beweisen, dass wir uns nicht völlig Mensch unter Menschen fühlen), die wir dafür aber auch bereit sind, mit zu fließen, wo alles fließt, wenn nur der Fluss niemals ins Stocken gerät, und wenn er uns alle dem Morgenrot entgegentreibt!

Aber dieses Problem hat auch noch eine andere Seite — und die ist finster, sie demütigt unseren Geist, mahnt uns an unsere Ohnmacht und droht uns so mit Verzweiflung. Und es gibt da nur einen Ausweg aus ihr.

Von dieser Seite aus betrachtet, lautet das Problem so: Wenn du dich auch noch so sehr abmühst, gerecht zu sein zu deinesgleichen und Rücksicht zu üben auf ihn, du wirst nie völlig sehend sein für deiner Nächsten Notdurft: du wirst sie leiden machen, auch da, wo du sie nicht zu treffen glaubst, und du wirst nicht aufhören, ihnen unrecht zu tun auch da, wo du ihr Bestes willst, wie du es eben begreifst: denn deine Anschauungen, deine Gesinnung und dein ganzes Handeln ward vorgeformt für dich, bevor du selber noch das Licht der Welt erblicktest, vorgeformt in deinen Eltern, deinen Erziehern und in allen denen, die du liebst, die du achtest und die dich umgeben. Und vorgeformt ward auch die Bahn, die dein forschender Geist einst schreiten wird im Leben, dein Geist, den du frei und ungehindert wähnst dem Weltall gegenüber!

(Schilt darum nicht deinen Geist: Liebe und Ehrfurcht zu denen, die dich schützten, da du noch hilflos warst, halten hier deinen Vorwitz in Schranken, hier, wo er freilich einmal über alles nützlich sein könnte.)

„Wenn dem aber so ist,“ fragt da der Tiefgläubige, „was ist dann noch mein Gewissen?“ Ich verehrte in ihm doch eine Stimme von Gott, die mir sagt, was ich tun und was ich lassen soll! Offenbart sich aber in meinem Gewissen auch dann noch Gottes Stimme, wenn es dort nicht spricht, wo Menschen gesprochen haben, damals, als mein Geist und meine Seele sich noch formten, und ich mich rückhaltlos anvertraute denen, deren Liebe ich kannte, und deren guter Wille fraglos war vor mir. („Ist es denn überhaupt möglich,“ — so fragt sich der Tiefgläubige — „dass Liebe und Verehrung irgendwo zur Blindheit führen können vor Menschenleiden?“)

Auf solche Frage ist tatsächlich nichts zu antworten, wobei unser Verstand sich beruhigen könnte. Hier klafft ein Zwiespalt, den keine menschliche Weisheit zu überbrücken vermag. Beides sind ja Gewissheiten. Dass das Gewissen in uns von uns das verlangt, was gegen unsere rein-selbstischen Interessen ist, dass es mithin seine Befehle erhält aus einer Welt, in der nicht körperliche Bedürfnisse herrschen, das bleibt eine jener Wahrheiten, die keine Schulweisheit je wird zuschanden machen.

Ebenso unumstößlich bleibt aber auch die Tatsache, dass einem jeden von uns angeborene und anerzogene Anschauungen anhaften, und dass die ihn blind machen vor Menschenleiden, und dem Unrecht, das er anderen tut. (Das ist einfachste Erfahrungstatsache: auch unter den Griechen und Römern sind edelste Menschen gewesen — und auch sie haben ihre Sklaven nicht entlassen. Auch Tolstois Eltern, auch er selber, waren edle Menschen — und doch hielten sie Leibeigene.)

Aus diesem Zwiespalt gibt es nur eine Rettung: den Glauben.

Wenn wir Menschen auch in dem, worin wir uns am selbständigsten erleben, wenn wir Menschen in unserem Verhalten zu unseresgleichen, in unserer Liebe und Ehrfurcht vor dem Nächsten mitbestimmt werden durch unseresgleichen, wenn Eltern, Erzieher und uns Umgebende die Veranlassung bilden dafür, dass unsere Menschenliebe immer nur eine Auswahl trifft aus dem Menschheitsganzen, wenn dem wirklich so ist — und daran bleibt kein Zweifel mehr erlaubt, — so muss wohl die ganze Menschheit eine einzige Erlösungsmasse darstellen. Und dann kann auch des Menschen Erlösung doch wohl nur darin bestehen, dass wir einst erkennen werden, dass Irrtümer waren, fremd unserer Seele eigentlichem Wesen, alle Widerstände, die jemals lebten in unserer Seele, gegen die fraglose Liebe zu unseresgleichen, dass sie nur erzwungene Antworten bedeuteten auf die Nöte unseres zeitlichen Daseins, Antworten, an denen unsere Seele keinen Anteil hatte, und von denen ihr kaum jemals richtig Kunde ward.




Tolstois Leben war nun ein einziges Ringen mit diesem Problem, mit der Tatsächlichkeit dieses Problems, das er als solches nie anerkennen wollte. Tolstoi hatte, fast noch ein Knabe, das namenlose Elend seiner Leibeigenen erkannt. Sein Gewissen sagte ihm dabei, dass hier Mitmenschen furchtbares Unrecht geschieht, und dass er selber schuld daran habe. Seine Ehrfurcht aber vor denen, die seine Jugend behütet hatten, und deren Liebe er nicht zu entbehren vermochte, verbot es ihm, auch die hier als schuldig anzuerkennen. So kam früh schon jene große Ratlosigkeit über Tolstois Seele: er hatte zu wählen zwischen der Gewissheit dessen, was er in sich selber als sein Wertvollstes anerkennen musste, er hatte zu wählen zwischen dem Zutrauen zu seinem Gewissen — und der Ehrfurcht vor denen, denen er sich tief verpflichtet wusste, und in denen er niemals aufgehört hatte seine Vorbilder zu verehren. Für sie wäre ein furchtbarer Tadel das gewesen, was ihm selber Erlösung gebracht hätte aus allen Nöten. Und seine Seele war zu schamhaft, zu ritterlich gesinnt, als dass er irgend etwas hätte annehmen können auf Kosten anderer — sei es auch die Ruhe der eigenen Seele.

Tolstoi wäre so früh schon der Verzweiflung verfallen, aus der ihn als Fünfzigjährigen nur seine reuige Umkehr rettete, wenn er nicht Künstler gewesen wäre, und damit auch ein Mensch, der immer zu lieben gezwungen ist. Den Künstler in ihm lockte das Leben da draußen mit tausend Möglichkeiten zu dichterischem Herrwerden über es. Den liebenden Menschen in Tolstoi hielt an diesem Leben fest die Sorge um die, die er auf sich angewiesen wusste, und die sich ihm anvertraut hatten. Seine Kunst wies Tolstoi immer wieder einen Ausweg aus der Verzweiflung, und dass er nie völlig aufhörte, an seiner Verzweiflung Berechtigung zu zweifeln, das verdankte er seiner Liebe zu den Seinen. Aber schließlich kam die Verzweiflung doch. Und die einzige Rettung, die da möglich gewesen wäre, und die auch vor ihm am Wege lag, die er nur mit Händen zu ergreifen brauchte, von der hielt ihn falsche Verstandesüberschätzung zurück. (Und wir wissen dabei nicht, ob die ihm nicht auch Notwendigkeit war, um leben zu können vor den Grausamkeiten der Welt mit einer überempfindlichen Seele.) Tolstoi verharrte bei dem weltenverkleinernden Aberglauben, dass keine Gegensätzlichkeiten möglich seien im menschlichen Zusammenleben, die nur in Demut vor Gott ihre Lösung finden können. Tolstoi ging an der Gnade vorüber — und wen solcher Weg nicht zur Verzweiflung hinführt, der endet immer irgendwie in der Blindheit (die ihm selbe Rettung gewährt, ihn aber da, wo er andere lehren will, zu einem Geistesdespoten machen muss).

Tolstois Seele fehlte das Erlebnis des Gnadebedürfens. Die beiden Wege, die zu dem hinführen, waren ihm verschlossen geblieben. Er hatte die nackte Not nicht gekannt, und ihm auch war nie die Ohnmacht des eigenen Willens zum Bewusstsein gekommen im Kampfe mit Versuchungen von solcher Stärke, dass allein schon der Gedanke an sie die sittliche Person zu erschüttern vermag, und dass in Erinnerung an sie das Gnadebedürfnis erlebt werden muss als ein Bedürfnis für alle Menschen.

Wohl hatte Tolstoi die eigene Ohnmacht erlebt — nur diesem Erlebnis entquillt das religiöse Bedürfnis. Tolstoi war aber seiner Machtlosigkeit inne geworden den Einrichtungen des Menschenlebens gegenüber. Er hatte sich da ohnmächtig begriffen, wo alle Menschen ohnmächtig sind, und er hatte somit auch nicht deshalb aus seiner Ohnmacht herauszukommen gesucht, um einfach Mensch zu sein, wie andere Menschen, vielmehr um mächtiger dazustehen, wie sie alle, mächtiger freilich für sie. Tolstoi fühlte sich aber bereits über ihnen stehend, weil er vor ihnen das erkannt zu haben glaubte, was ihnen allen frommt, und was sie nicht wissen. Es fehlte Tolstois Erkenntnis von der Ohnmacht des Menschen das Erlebnis der Demut: das war ein geistiges Unglück (wenn das nicht vielleicht auch zugleich sein Rettungsanker gewesen ist).

Tolstois Veranlagung war wohl die eines im besten Sinne normalen Menschen, der einen harmonischen Ausgleich in sich trug zwischen den Reizen der Außenwelt und den Antworten seiner Seele: Tolstoi war gut geboren und vorzüglich behütet worden. Für seine überlegene Künstlerbegabung büßte er nur durch eine abnorme Verwundbarkeit, die er aber stets männlich zu beherrschen verstand, und die ihn scharfsichtig machte für der Menschen Leiden und Leidensmöglichkeiten. So erlebte Tolstoi das Leiden von Mitmenschen — ohne je die Notwendigkeit erlebt zu haben, für sich selber Verzeihung zu beanspruchen. Das ward ihm zum Verhängnis: denn wer Mitleid erlebt und die Reue nicht kennt, dem wird sein Mitleid zu einer Veranlassung dazu, sich zu erheben über seinesgleichen.

Tolstoi hatte dank seiner gesunden Seele und seinem gesunden Körper keinerlei übermächtige Versuchungen zu bestehen gehabt im Leben. Er hatte niemals gestanden vor dem Sein oder Nichtsein seiner sittlichen Persönlichkeit, und nur dies Erlebnis macht den Menschen zu einem Hort des Verzeihens.

Das waren Tolstois seelische Hemmnisse gegenüber der Gnade. Er erlebte aber auch noch ein geistiges Hemmnis vor ihr. Jener Verstandeshochmut, zu dem ihn zu früh erwachte und zu schmerzlich erkaufte Erkenntnis seiner überlegenen Klugheit geführt hatte, verführte ihn immer wieder dazu, den Dingen, die nicht so ausgesprochen werden können, dass sie anerkannt werden müssen von allen geistig Gesunden, überhaupt keine Daseinsberechtigung zuzuerkennen. So konnte sich Tolstoi nicht dazu verstehen, damals schon, als diese Zweifel zum ersten Male aufstiegen in seiner Seele, sich kühn auf sein inneres Erlebnis zu stellen, als auf das Wahrhaftigste, das Wirklichste, was uns im Leben wird, und das dabei jenseits liegt von aller überhaupt möglichen Erkenntnis von Weltenzusammenhängen, selbständig ihnen gegenüber und völlig unabhängig vor ihnen. Tolstoi wollte frühe schon für jede seiner Handlungen die Bestätigung seiner Gedanken haben, und wollte das auch da, wo der Gedanke versagen muss. (Und dabei gab er doch nicht seinen Gedanken die Freiheit, sich ihre Dichtung in die Unendlichkeit hinein zu bauen da, wo das allgemeingültig zu Erfassende aufhört.)

So ging Tolstoi auch an der zweiten Möglichkeit zu seiner Rettung vorüber.

Ihn rettete schließlich sein Daseinswille, der bei ihm ein und dasselbe war wie seine Liebe zum Menschen. Der aber ward die Notwendigkeit, sich immer wieder zu äußern der russischen Wirklichkeit gegenüber, wo immer noch elementarste Rechte vorenthalten werden dem Menschen.

Tolstois Rettung geschah aber auf Kosten der Freiheit seiner Gedanken und damit auch auf Kosten seiner fraglosen Menschenliebe. Der bekehrte Tolstoi lebte ohne jenen unbeschränkten Ausblick ins Unendliche, der allein unserer Liebe die Hemmnisse wegzuräumen vermag, die kurzsichtige Lebenserfahrung immer wieder vor ihr aufbauen will (vielleicht um uns zu retten vor tödlichem Mitleid), der bekehrte Tolstoi verbot sich jenen hemmungslosen Ausblick ins Grenzenlose, der uns immer wieder, noch so teuer erkaufter Erfahrung zum Trotz, den Menschen erleben lässt als einen möglicherweise Unschuldigen und somit als einen, den wir lieben müssen.

Diesen hemmungslosen Ausblick ins Unendliche musste sich aber Tolstoi verbieten, um nicht Gegensätzen zu begegnen im Endlichen, für die er keine Lösung in Händen hatte, und an denen er hätte verbluten müssen. Und darum rächte sich Tolstoi an den Gedanken, die Menschen gedacht hatten über das hinaus, was er ihnen zu denken erlaubt hatte. Solchen Gedankenwelten (der Wissenschaft und der Philosophie) warf er vor, dass sie ihm nicht das zu geben vermocht hatten, dessen er vor allem bedürftig war, damals, als ihm Verzweiflung drohte. Es entging ihm aber dabei, dass diese Gedankenwelten ihn überhaupt gar nicht hätten retten können, dass vielmehr sein geistiger Zusammenbruch eine seiner Ursachen gerade darin hatte, dass Tolstoi von dem Gedankenwerk der Menschen das verlangte, was es niemals zu geben vermag: Gebote in Hinsicht auf des Menschen Lebensführung!

Trotzdem lebte Tolstoi weiter. Die Nöte der Zeit schrieen nach seiner furchtlosen Menschenliebe. Die gab er und blieb ergreifend überall, wo er seinen Lehren entgegenhandelte, und merkte nicht, dass er das tat, weil er in seiner dann ungehemmten Menschenliebe Gewissheiten erlebte, die so fraglos waren, dass er gar keine Veranlassung fand, nachträglich Bestätigung zu erfragen für sie bei seinem Lehrgebäude. Und so kam denn Tolstoi auch niemals dahinter, dass sein enges System ganzen Liebeswelten gegenüber versagte!



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi