3. Das Beispiel, das er uns gab

Tolstoi gibt das Vorbild eines Menschen, der aufrichtig und ohne Unterlass danach strebte, seine Lebensführung in Einklang zu bringen mit seinen Überzeugungen, und der dabei, solange er atmete, überzeugt war davon, dass das Ziel des Menschen in Selbstvervollkommnung zu bestehen habe, in Aufopferung, im Leben für andere.

Tolstoi gibt dabei im besonderen noch das Beispiel eines Menschen, der niemals sein persönliches Schicksal auch nur in Gedanken zu trennen vermochte von dem der ganzen Menschheit, und der sein ganzes Leben lebte im Angesichte der leidenden Kreatur.


Tolstoi wollte aber nicht nur gut sein, Gott dienen in Liebe zu den Menschen, er wollte auch bewusst leben — und wir wissen nicht, ob aus dem Drange seines Gewissens heraus oder aus rein geistigem Bedürfnis. — Tolstoi wollte sich nicht beeinflussen lassen in seinen Entschlüssen durch irgendwen. Er wollte, bevor er eine Entscheidung traf, nur sich selber gefragt haben.

Auch hierin gab Tolstoi ein hohes Vorbild uns allen, wenn er selber auch dabei den Fehler beging, uns angeborene und anerzogene Anschauungen und Gesinnungen nicht anzuerkennen als uns wider Willen bestimmende. Tolstoi fürchtete wohl, so Grund zur Selbstentlastung zu finden, und davor hegte seine große Ehrlichkeit eine unüberwindliche Scheu. Es entging ihm aber, dass, wenn er das Unbewusste, das sozial Bedingte in uns leugnet, er auch die Möglichkeit verliert, zu entschuldigen und zu verzeihen, was er an anderen missbilligen muss. Und dabei liegt doch durchaus kein Widerspruch darin, wenn ich mein Leben lang ankämpfe gegen die Vorurteile, die ich in mir meinem ganzen Gewordensein nach vermuten muss, und ich dabei doch nie aufhören darf, damit zu rechnen, dass diese Vorurteile mich beherrschen können wider meinen Willen! Tolstoi wollte das nicht anerkennen. So ward er zu einem Richter über die Menschen, zu ihrem Verächter und zu einem jener, die dem Menschengeist Gewalt antun, und gegen die dann die Freunde der Freiheit und des Menschen ins Feld zu treten berufen sind.

Sein aufrichtiges Streben, bewusst zu leben, bleibt darum doch ein schlechthin vorbildliches. Und wer im Streben nach einem so hohen Ziele auch irrt, ja, wer im Ringen nach ihm noch unbezwungenes Allzumenschliches verrät, der wird darum doch wertvoller für die ganze Menschheit, als wer niemals irrte, noch jemals Allzumenschliches verriet, aber auch niemals sich so hohe Ziele setzte!

Der Kampf, den Tolstoi um die Bewusstheit im Leben des Menschen führte, war auch ein Kampf um das Licht, ein Rechten mit Gott um die Würde des Menschen — und muss stets gewertet sein als solches, wenn auch Tolstoi selber nicht völlig der Finsternis entrann. Tolstoi wollte, dass die Menschen größere Selbstverfügung hätten, als ihnen tatsächlich eignet. Dieser Wille war vornehm. Dass Tolstoi damit den Menschen die Möglichkeit nahm, Verzeihung zu erlangen von ihresgleichen, und dass er so dem Hass Dauer verlieh unter den Menschen — das war Tolstois menschlicher Irrtum.

Den Menschen glaubte Tolstoi Ehrfurcht zu erweisen, wenn er sie unbedürftig erklärte der Gnade Gottes — und er nahm ihnen so das einzige Licht, das ihnen vorleuchtet in den Wirren des Lebens! Aber er wollte doch Ehrfurcht erweisen den Menschen, und darum sind nicht wir die Richter über ihn!

Tolstoi gab das Vorbild eines Menschen, der keine Trennung anerkannte unter seinesgleichen. Ihm erschien das Menschheits-Trennungswort „sozial“ wie eine peinliche Beleidigung der Würde des Menschen — (und das ist es auch, doch liegt die Schuld hier am Leben). Tolstoi selber wollte mit offenem sozialen Visier leben, — nicht wie wir anderen, die wir uns vor Selbstverachtung nur dadurch schützen, dass wir nicht sehen wollen, wie unseresgleichen leiden und erniedrigt werden um uns herum. Tolstoi wollte leben Auge im Auge mit dem sozialen Elende der Menschheit. Das gelang ihm nur, indem er sich den freien Ausblick verbot ins Weltall: zwischen sich und die Unendlichkeit stellte er den Menschen, an dem er sich am meisten versündigt zu haben glaubte, und dem darum vor allem seine Liebe galt, den russischen Bauern. Er ward ihm zum Pfadfinder ins Gottesreich! — Uns ist er es nicht. Trotzdem werden wir alle Tolstoi den Versuch nachmachen müssen, mit offenem sozialen Visier zu leben. Denn ganz unerträglich ist ja der heutige Zustand: das Leben, das wir führen, und in dem wir uns gerechtfertigt erleben wollen vor Gott und vor den Menschen, dieses unser Dasein heute baut sich ja auf auf dem Hintergrunde eines namenlosen Elends von unseresgleichen! Wir tun so, als sähen wir das nicht, unsere Verstellung zehrt aber am Marke unserer Selbstachtung — und schon verlieren wir den Mut zum Gedankenfreiflug ins Unendliche hinein: wir fürchten, unserer Schande begegnen zu müssen, wenn wir auch nur einige Schritte weit vorauseilen unserem Alltagspfad!

Tolstoi aber wollte leben Auge im Auge mit dem Elende seines Volkes. Sein ganzes Leben lang lief er vergeblich hinter der Not her, die, wie er glaubte, allein unsere Niedertracht entschuldigt. Er beging dabei aber einen naheliegenden Gedankenfehler: er meinte, dass, wenn die Not alles Hässliche entschuldigt am Menschen, der Mensch jenseits von ihr durch nichts mehr gezwungen sei, hässlich zu sein!

Solange er lebte, hat Tolstoi das ungeheure Menschenleid vor Augen getragen und um es getrauert, solange er atmete, und ihm alle Opfer gebracht, zu denen er sich berufen glaubte. Wenn es darum eine Gnade gibt für den Menschen im Jenseits, so hat er sie verdient, er, der stets die Gnade verschmähte.

Eine unendlich tiefe moralische Wirkung kann ausgehen von Tolstoi, wenn wir ihn erfassen in seiner tragischen Größe. Die letzten Widerstände gegen die Menschenliebe vermochte er nicht zu überwinden in sich, weil dann sein ganzes Weltenbild zusammengestürzt wäre in sich selber, und er hatte es nötig, sein Weltenbild. Denn er konnte nicht leben ohne die Aussicht auf ein endliches Heil für alle Menschen. Sein Mitleiden, seine Reue und seines Gewissens Unruhe hielten ihn fern der fraglosen Menschenliebe. Und er war ihr nicht mehr gewachsen, als er sich bedingungslos zu ihr bekannte.

Denn man muss die Menschen lieben, wie sie sind, und auf jede Gefahr hin, und unbekümmert um den Weg, den sie nehmen werden, und wenn der auch ein ganz anderer sein sollte als der, den man selber für die Menschen will, und den man ihnen anpries als einzig zum Paradies führenden!

Wenn man die Menschen lieben will, muss man sich selber vergessen vor ihnen, sich selber auch mit seinen Wünschen für sie, muss man nie recht haben wollen vor der ganzen Menschheit, muss man die Menschen auch nicht mehr schelten darum, wenn sie die Erlösung verschmähen, die wir für sie erdachten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi