2. Die Vorbereitung des Lesers auf ihn

Tolstoi tritt uns in fast allen seinen Schriften entgegen als ein sehr großer Künstler und als ein rastlos und aufrichtig nach Selbstvervollkommnung strebender Mensch. Das verlangt eine doppelte Einstellung unserer Seele auf ihn: wenn wir den Künstler Tolstoi aufnehmen wollen, dürfen keine Widerstände mehr sein in uns gegen die Liebe und gegen die Gerechtigkeit: denn jeder dieser Widerstände sperrt Teilen des Dichterwerkes den Zugang zu unserer Seele!

Wenn wir einen Dichter empfangen wollen, muss unsere Seele so gerichtet sein, wie die seine es war, als er die Welt deutend nachgestaltete: nur horchend und aufnahmebereit für Weltall und Mitmenschen. So sollten wir wiederum sein, wenn wir den Dichter erwarten, wie Gott einst uns schuf, und wie wir vor ihm standen, als noch nicht Schuld und Reue unseren Mut gebrochen hatte vor dem Unendlichen!


Jede Schuld sollten wir dann vergessen, und jeder Reue Schweigen gebieten, wenn wir den Dichter erwarten — und wir dürfen das um seinetwillen!

Eine ganz andere Seeleneinstellung verlangt der Mensch Tolstoi von uns, wie er sich selber deutete in seinen kritischen Schriften. Die einzige Art, wie man ihm begegnen darf, muss sein die Bereitschaft, umzulernen durch ihn, neue Grundlagen unserem Leben zu geben — aber freilich eine bewusste, kritische, zum Kampfe um teuerstes Besitztum bereite Bereitschaft! Denn er ist ein sehr großer Verführer! Und wir glauben dem Denker Tolstoi von vornherein, weil wir uns in der Schuld des Dichters Tolstoi fühlen, und weil der uns einst uns selber tiefer zu begreifen gelehrt hatte! — Und dabei ist derselbe Tolstoi außerhalb seiner Kunst ohne Ehrfurcht vor dem, was anderen heilig ist, wenn er selber es nicht so empfindet.

Wer den kritischen Tolstoi anhören will, der muss von vornherein gefasst sein darauf, dass alles das vor ihm beschimpft und verdächtigt wird, was ihm bisher heilig war.

Und er muss auf der Hut sein, wer dem kritischen Tolstoi sein Ohr leiht, dass ihn nicht die Reue verführe zu vorschnellem Aufgeben seines bisherigen Seelenbesitzes. Denn dieser Zauberer vermag Reue auch in dem Reinsten zu erwecken. Er fasst uns ja an einer Schuld, die, wenn sie auch tatsächlich ist, doch meist unbewusst über uns kam — und im Namen dieser, unserer sozialen Schuld verlangt er dann von uns auch gleich die letzten höchsten Opfer!

Wer dem kritischen Tolstoi seiner Seele Zugang öffnet — ohne irgendwie Misstrauen in sich aufkommen zu lassen gegenüber den Absichten des Menschen Tolstoi, nur gespannt aufmerksam auf seines Gedanken Pfade — und wer dabei Fehler und Irrtümer erkennen wird in Tolstois Lehren, der sei gewiss, dass die nur den Bedürfnissen dieser großen Seele entspringen.

Wer dem kritischen Tolstoi so gegenübersteht, der lernt auch mächtigstem Ansturm gegenüber in Treue zu beharren bei dem, was ihm heilig ist, und bei denen, denen er sich verpflichtet weiß. Er prüfe sich aber, wer dem Propheten Tolstoi gegenübersteht, und beruhige sich nur dann vor ihm, wenn er so zu sich selber sagen kann: „Ich fürchte wirklich kein Opfer, das die Anerkennung dieser Lehren von mir verlangen könnte! Soviel ich mich selber verstehe, mich selber jenseits meiner Furcht und jenseits meines Begehrens für mich, so wehre ich mich nur mit aller Kraft gegen die Ungerechtigkeiten, die anderen Menschen gegenüber verlangt werden von mir, wenn ich mich zu diesen Lehren bekennen wollte!“

Wer so dem kritischen Tolstoi gegenübersteht, für den wird er zu einer Veranlassung, alle seine bisherigen letzten Lebenswerte nachzuprüfen, wobei denn wohl mancherlei über Bord geworfen werden mag, vieles aber, altes und teures, ganz von neuem gefestigt sich offenbaren wird als ein Besitz für immer! Denn der Ansturm war hart: ein Künstler stürmte auf unser Heiligstes. Und das sind die gefährlichsten aller Verführer, die sich wenden an unseren Schönheitstraum! In seinem Namen wird auch hier das Opfer verlangt. Prüfe dich aber, ob es der Sache dient, der du zu dienen bereit bist, oder ob es dich bloß ablenkt von deinem Ziele nach der Rolle hin, die du auf dem Wege zu ihm zu spielen berufen wärest! Bleibe du allen Verführungen gegenüber bei deiner klaren, einfachen Liebe, und bleibe du auch dann bei deiner Pflicht, wenn sie Verzicht von dir verlangt auf alles Heldentum, und dich alltäglich, gewöhnlich, erscheinen lässt. Wage banal zu sein, wenn darin deine Pflicht gelegen ist! Werde stark vor den Verführungen der Künstler!

Das alles möge vor Augen haben, wer den Künstler, den Menschen und den Denker Tolstoi aufzunehmen bereit ist. Niemals rüste er ab vor diesem Verführer. Dann wird ihm die Auseinandersetzung mit Tolstoi zu einer Nachprüfung und Neubewertung für alles das, was seiner Seele heilig ist, und worin sie ihr Besitztum für immer erschaut.

Damit aber solcher Segen uns werde aus dem Umgang mit dem Künstler, dem Menschen und dem Denker Tolstoi, müssen wir umzulernen bereit sein, wenn wir ihm die Seele öffnen, wo er predigt, und müssen wir ohne Widerstände sein gegen die Liebe und gegen die Gerechtigkeit, wo er uns dichtend naht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi