1. Die Stellung des Kritikers vor ihm

Wer als Kritiker dem Künstler Tolstoi gegenübersteht, der wird die Unruhe nicht los, wie wir sie an einem köstlichen Frühlingsmorgen empfinden, wenn wir überall zu gleicher Zeit sein möchten, und nur die eine Furcht in uns wohnt, es könnte uns ein Sonnenstrahl entgehen. Und das ist beseligend und qualvoll zugleich. Vielleicht besteht die ganze Aufgabe des Kritikers dem Künstler Tolstoi gegenüber darin, sich aller Kritik zu enthalten: die Seele des Lesers einfach aufnahmebereit zu stimmen für jedes holde Wunder.

Viel schwieriger und viel gefahrvoller ist die Aufgabe des Kritikers dem Menschen und Denker Tolstoi gegenüber. Alles verführt uns hier, unser Allzumenschliches mitreden zu lassen: man scheut und achtet eben in Tolstoi immer und überall aufrichtiges, rastloses, höchstes Streben, das man sich selber vorbildlich weiß, man verkennt zudem auch keinen Augenblick, dass dieser Mensch, wenn er einmal sündigt, nicht weiß, was er tut — und doch ist es Tatsache, dass er in unerhörter Weise gleich ganze Scharen von Menschen, ganze Berufsstände verdächtigt.


Das große Problem: Fraglos liebend zu verharren vor den Menschen und doch nicht tatenlos zu werden vor ihnen, auch Tolstoi löste es nicht: er blieb tätig auf Kosten seiner Liebe. Und man spielt keine schöne Rolle dabei, wenn man einem Menschen Unzulänglichkeiten nachweist in der Art, wie er sich mit dem Unendlichen abfinden zu können glaubte und es dabei nur einzuengen vermochte und es einengen musste, um leben zu können vor ihm mit einer überempfindlichen Seele. Die Unendlichkeit ragt natürlich an allen Ecken und Enden über den Gedankenbau hinaus, in den Menschen sie einzufangen wähnten. Darum ist es durchaus kein Kunststück, hinzuweisen auf das Scheitern eines Menschen, der das All einsperren wollte in den Kerker seiner Begriffe. Und doch muss auch diese Arbeit getan sein: niemand engt ja den Himmel ein, ohne seinen Mitmenschen irgendwie unrecht zu tun: denn die Menschen brauchen die ganze Unendlichkeit zum Hintergrund für ihr Tun und Lassen, wenn man sie verstehen will in ihrer unzerstörbaren Unschuld, wenn man einsehen will, dass wir sie niemals restlos verstehen werden. Auch wird das Gedankengebäude, worin sich ein Mensch das Weltall einfing (vielleicht einfangen musste, um in seiner Weise frei zu bleiben vor ihm), anderen Menschen, die diesen Gedankenbau nicht schufen aus ihrer Seele Bedürfnis heraus, zu einem Verliess, darin sie gefesselt liegen an Kopf und an Herz. Der Denker Tolstoi ist dabei ein großer Verführer. Seine Lehren selber enthalten freilich kaum etwas, dem des Menschen Seele nicht widerstehen könnte, gewaltig ist aber seine Sprachkunst, und deshalb, und weil er unsterbliche Dichterwerke schuf, lauscht eine Welt seinen Worten. Die Irrtümer eines Genies wirken aber an sich stets ansteckender als die gewöhnlicher Sterblichen, weil sie weniger leicht unserer Nachprüfung unterliegen: aus Ehrfurcht vor ihrem Schöpfer sind wir geneigt, zu vergessen, dass auch ihm gegenüber die Denkgesetze bindende Kraft bewahren, und dass auch ihm Bescheidenheit ziemt vor dem, was wir nicht wissen. Und auch darum ist Tolstoi ein solcher Verführer da, wo er unrecht hat, weil er in gar vielem recht behält. Und um so verführerischer wirken seine Fehler, weil er von vornherein auf unser Vertrauen rechnen kann, insofern er sich immer und überall auf zwei offensichtliche Tatsachen zu stützen vermag: das soziale Elend und unsere Tatenlosigkeit ihm gegenüber.

Man komme uns hier nicht damit, dass Tolstois theoretische Schriften mit allen ihren unmöglichen Übertreibungen, Widersprüchen, Lieblosigkeiten und Massenverdächtigungen doch nur Bedeutung haben als Ausfluss der gewaltigen Persönlichkeit des mit dem Weltall um seinen Gott ringenden Dichters. Natürlich erscheinen auch uns Tolstois kritische Schriften vornehmlich als Zeugnisse seines persönlichen Werdens — und wir werden nachzuweisen haben, dass sie in allen ihren Unvollkommenheiten Notwendigkeiten für ihn bedeuteten, so wie er nun einmal war, und gerade deshalb, weil er aufrichtig war und immer dem Höchsten zustrebte. — Indes — Tolstoi selber glaubte sein Leben lang Allgemeingültiges zu geben in seinen kritischen Schriften. Er wandte sich an die ganze Menschheit und ging darin so weit, selbst seine nächsten Freunde fallen zu lassen, wenn sie sich nicht bedingungslos zu ihm bekannten. Schon darum, aus Achtung vor Tolstoi selber, müssen wir seine Schriften auch ihrem sachlichen Inhalt nach nachprüfen, ganz abgesehen von aller Verführung, die von ihnen ausgehen könnte, und die allein schon der sprachlichen Meisterschaft Tolstois entspringt.

Dem Kritiker fällt hier die undankbare Aufgabe zu, das Alltägliche zu verteidigen gegenüber dem Außergewöhnlichen. Die unschöne Rolle, die wir dabei spielen müssen, würde uns indes verziehen werden, wenn man wüsste, wie unaussprechlich qualvoll es für uns war, uns mit dem kritischen Tolstoi auseinanderzusetzen. Das kam uns so vor, wie wenn wir gezwungen wären, umzugehen mit einem Menschen, der unerschütterlich überzeugt ist davon, dass man nur seiner Überzeugung sein kann, wenn man nicht hoffnungslos beschränkt oder aus Schlechtigkeit interessiert ist daran, eine andere Meinung zu haben wie er. Inquisitionsluft weht aus diesen Schriften. Man foltert Menschen auch durch Verachtung, und die Drohung mit ihr ist vielleicht die unerlaubteste aller geistigen Vergewaltigungen! —

Lange und oft habe ich mich prüfend gefragt, weshalb mich denn stets ein so unaussprechliches, sich bis zu körperlichem Leiden steigerndes Unbehagen erfasst, wenn ich Tolstois kritische Schriften auch nur in Händen halte. Anfangs dachte ich, ich ertappe mich hier auf Selbstsucht, ich fürchte, man möchte mir einige kindliche Spielzeuge verbieten. Bald aber sah ich ein, dass dem nicht so ist. Mein Unbehagen dem kritischen Tolstoi gegenüber entspringt — ich fühle das jetzt klar und deutlich — nichts anderem, als tiefinnerster Empörung über ganz offenbare und wahrhaft grenzenlose Ungerechtigkeiten. Und nicht das allein. Ich erlebe in dem Unbehagen, das mich erfasst, wenn ich auch nur denke an den kritischen Tolstoi, auch so etwas wie brennende Scham darüber, dass ich keinen Einspruch erhob, als man abwesende Freunde verhöhnte, und das mit Füssen trat, was mir immer heilig gewesen ist — und ohne sich dabei die geringste Mühe gegeben zu haben, es überhaupt zu begreifen! Und doch hielt mich in aller Scham und Empörung bei dem kritischen Tolstoi der Zweifel zurück, ob ich nicht sonst die Gelegenheit ungenutzt vorbeigehen lasse, das zu lernen, was ich nirgends anderswo zu lernen vermöchte.

Oft habe ich dabei zweifelnd die Feder beiseite gelegt und mich gefragt, ob ich wirklich bestehen könne in meiner Liebe zur Wahrheit und zu den Menschen, der förmlichen Welle des Hasses gegenüber, die mir aus diesen Seiten entgegen wogte.

Bevor ich dann wiederum die Feder eintauchte, bat ich Gott, er möge mir Gerechtigkeit schenken; es möge kein Rachegefühl zurückgeblieben sein in meiner Seele!

Ich hoffe, mein Gebet ward erhört.

Sollte ich aber dennoch ungerecht gewesen sein dem Denker Tolstoi gegenüber, so entspringt das wohl einer unbewussten Furcht davor, ich möchte mich unterjochen lassen von diesem Feuergeist. Und ich glaube dabei, wenn ich das wirklich fürchtete, so fürchtete ich das nicht, weil mir vor irgendwelchen Opfern graute, die ich dann bringen müsste. Ich glaube vielmehr, ich fürchtete dann nur das eine: ich möchte im Anblick der unübersehbaren sozialen Nöte unserer Zeit (an denen ich mich selber durchaus mitschuldig erlebe, und in deren ständigem Aufzeigen Tolstoi seine feste Stellung inne hat) mich verführen zu lassen von ihm zu jenen maßlosen Ungerechtigkeiten, die allenfalls ihm zu Gesichte stehen!

Eines ward mir ja völlig klar, als ich mich mit dem kritischen Tolstoi auseinander setzte: die höchste Gefahr, womit die sozialen Nöte der Zeit uns heute drohen, liegt darin, dass, wer immer auf sie hinweist, in uns ein solches Vertrauen auslöst, dass wir uns ruhig von ihm die Schranken vor die Stirne schlagen lassen, die er selber trägt — vielleicht nur, um leben zu können mit einer überverwundbaren Seele im Angesichte unfassbaren Volksleidens. Wir aber, wir anderen, wir hungern schließlich doch nicht nach Brot allein! Wir wissen zudem längst: jede Bande, die wir vor der Stirne tragen, wird mit Notwendigkeit auch zu einer Schranke für unser Herz! Jede Unwahrheit muss ja irgendwie zu einem Unrecht werden, sobald sie nur unter Menschen tritt!

Der Sozialprophet Tolstoi, der aus Mitleid mit der Menschheit zu einem Verdächtiger der Menschen ward und zu ihrem Verächter gerade da, wo er sie fraglos zu lieben glaubte, der Sozialprophet Tolstoi zeigt uns in seiner furchtbaren Tragik, welche Seelenerkrankungen uns allen heute drohen durch die sozialen Nöte unserer Zeit, die wir bald hemmungslos werden widerspiegeln lassen müssen in unserer Seele! — Und vielleicht sind es gerade die gesundesten Seelen, die krank werden an dem Ungesunden in unserem Zusammenleben und -wirken!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi