Heroische Sagen der Vorzeit.

Derjenige Teil der Geschichte des Nordens, welcher weiter als in das achte Jahrhundert nach Chr. Geb., als die eigentlich unter dem Namen der Wikinger-Züge bekannten Unternehmungen ihren Anfang nahmen, zurückgeht, ist uns nur unvollständig durch einzelne Sagen bekannt, die mehr oder minder mit Mythen durchwebt sind, in denen die Götter selbst an den Begebenheiten Teil nehmen und einen unmittelbaren Einfluss auf deren Gang ausüben. Die heroische Periode des Nordens entspricht in der nordischen Geschichte demjenigen, was in der griechischen den Zeitraum vor der dorischen Wanderung ausmacht. Diese Sagen drehen sich bei uns, wie in der griechischen Geschichte, nicht so sehr um einzelne Völker, als um einzelne Geschlechter und hervorragende Persönlichkeiten; sie können uns wohl ein recht anschauliches Bild von dem großartigen Leben schaffen, welches sich damals in den Völkern zeigte, aber doch kein zusammenhängendes Gesamtbild. Überdies ist es häufig nicht leicht zu bestimmen, was man als eine wirklich historische Persönlichkeit ansehen kann, deren Taten von der Sage nur ausgeschmückt und vergrößert sind, und was man bei reiflicher Erwägung nur als die Personifikation einzelner Nationalitäten oder Kultur-Entwicklungen oder gar als reine Phantasiegebilde betrachten muss. Es ist dabei sehr schwer zu entscheiden, welche Sagen dieser oder jener besonderen germanischen Nationalität zunächst angehören; denn mehrere Sagen, wie z. B. die Wölunds- und Niflunge-Sagen, erstrecken sich über die ganze germanische Welt; andere dagegen sind dem ganzen Norden gemeinsam oder greifen, wenn sie auch ursprünglich einem einzelnen nordischen Lande angehören, doch in die Begebenheiten der übrigen Länder wirksam mit ein. Man müsste annehmen, was an sich auch wahrscheinlich ist, und mit der Darstellung von dem germanischen Volksleben zur Zeit der Völkerwanderung, wie uns die griechisch-römischen gleichzeitigen Schriftsteller sie hinterlassen haben, ganz übereinstimmt, dass einesteils die besonderen Nationalitäten und Stammesunterschiede unter den Germanen selbst noch nicht so scharf ausgeprägt waren, wie dies in späterer Zeit der Fall war, andernteils dass alle germanischen Stämme noch in einer gewissen Unruhe sich befanden, welche ihre abenteuersuchenden jugendlichen Scharen dahin brachtest, sich mit einander herumzutummeln, ohne sonderliche Rücksicht auf die geringen Nationalitäts-Verschiedenheiten zu nehmen. Hiervon scheinen nämlich nicht nur jene uralten Sagen von den Wölsungen und Niflungen, sondern auch der öfter schon erwähnte, beim Procop sich findende Bericht von den Herulern eine ziemlich klare Vorstellung zu geben.

Unter diesen Umständen können wir daher nicht umhin, hier diejenigen Sagen mitzuteilen, deren historische Bedeutung außer allem Zweifel ist, und zwar nach der Reihenfolge der einzelnen Geschlechter und Personen, welche sie zunächst betreffen, um dadurch einigermaßen den Zustand wie die Hauptbegebenheiten in jenem fernen Zeitraume zur Anschauung zu bringen. Wie wir aber so eben angedeutet haben, können wir uns nicht strenge an das halten, was allein und ausschließlich Norwegen betrifft, sondern müssen zugleich jede gemeinsam germanische Sage erwähnen, welche unmittelbar oder auch nur mittelbar auf die Geschichte der Normänner ein Licht wirft. Unter allen diesen Sagen finden sich natürlich einzelne, welche sich leichter als die übrigen auf die ursprünglich historische Form zurückführen lassen, namentlich wenn die Begebenheiten, deren sie erwähnen, sich in den Schriften zuverlässiger Verfasser des Auslandes nachweisen lassen. Solche Sagen aber bilden die eigentlichen Stützen des historischen Baues, für dessen Aufführung man sonst sich mit bloßen Vermutungen begnügen muss.


Das mystische Halbdunkel, worin jene heroische Periode der Vorzeit eingehüllt lag, machte dasselbe zu einem willkommenen und bequemen Hintergrunde für eine Menge Märchendichtungen, welche namentlich auf Island und in Norwegen während der späteren Jahrhunderte des Mittelalters, vom zwölften, vielleicht schon vom elften an und darüber hinaus, ihren Ursprung hatten. Und da zugleich mehrere der wirklichen Sagen der Vorzeit in eben diesen Jahrhunderten ein neues Gewand erhalten hatten und erweitert waren, so wird es oft sehr schwierig, das Ächte von dem Unechten zu unterscheiden. Es fehlt auch nicht an Beispielen, dass spätere Historiker jene Märchendichtungen zugleich mit den ächten Sagen der Vorzeit benutzt und dadurch eine fast unlösbare Verwirrung hervorgerufen haben. Genauere Kenntnis unserer alten Sprache wie der nordischen Altertumsreste, welche durch die Forschungen in unseren Tagen gewonnen sind, haben es möglich gemacht, bei der Beurteilung der mythisch- heroischen Erzählungen eine strengere und gesundere Kritik anzuwenden und besser zwischen den ursprünglichen Sagen und späteren Dichtungen zu unterscheiden.