Das gefangene Lüchtemännchen im Havelland

Autor: Ueberlieferung
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Einst wollte ein Hirt abends seine Herde von der Weide heimtreiben. Als er nahe bei seinem Dorfe Ferchesar im Westhavellande war, bemerkte er, daß ihm eine Kuh fehle. Sofort kehrte er um und suchte, konnte sie aber nicht finden. Ermüdet setzte er sich auf einen Baumstumpf und zündete seine Pfeife an. Da schwirrte plötzlich eine Schar von Lüchtemännchen (Irrlichtern) heran und umringte ihn von allen Seiten. Anfangs sah er ihnen ruhig zu; als sie ihn aber gar zu dicht umschwärmten, fürchtete er, sie würden ihm das Haar versengen, und schlug mit seinem Stock um sich. Aber je heftiger er dareinhaute, desto ärger trieben sie es. Als er sich ihrer gar nicht mehr erwehren konnte, griff er mit der Hand in den Schwarm und haschte eins von den Lichtlein.

In demselben Augenblick war die ganze leuchtende Schar verschwunden, und der Hirt hatte kein Lüchtemännchen, sondern einen Knochen in der Hand, den er mit nach Hause nahm. Andern Tags fand er auf der Weide die verirrte Kuh wieder. Als er aber abends heimkehrte, war die ganze Dorfstraße voll von Lüchtemännchen, die ihn umringten wie am Tag vorher. Aber es waren ihrer noch viel mehr, und sie riefen ihm zu: „Gib uns unsern Kameraden wieder, sonst stecken wir dir dein Haus in Brand.“

Vergebens beteuerte der Hirt, er habe nur einen Knochen mitgenommen; sie drohten ihm noch ärger. Da eilte der Hirt ins Haus und hielt den Knochen auf der flachen Hand zum Fenster hinaus. Mit einemmal war es wieder ein Lüchtemännchen, das sich, von den andern umringt, ins Freie schwang, und bald war die ganze Schar hüpfend und springend zum Dorfe hinaus.

Der Hirt aber hat von dieser Zeit an keine Hand mehr gegen ein Lüchtemännchen gehoben, so viele er ihrer auch fernerhin antraf.