Das galante Wien. 1. Band

Sittengemälde
Autor: Gross-Hoffinger, Anton Johann Dr. (1808-1873) österreichischer Jurist und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1846
Themenbereiche
Enthaltene Themen: galantes Wien, Sittengemälde, Prostitution, Wollust, Geschlechtssünden, Sittenschilderung, Keuschheitssünden, Zölibat
Einführung

Die geistreichen Publizisten und Staatskünstler, Dichter, Reformatoren, Volksredner, Zeitungsschreiber, Deputierte, — Männer aller Parteien sind in dem Augenblick beschäftigt, die Grundquelle aller Übel, woran die Menschheit sichtlich zu Grunde geht, zu erforschen. Die Einen wollen sie in den Regierungsformen, die Anderen in der Kirche, die dritten in der ungerechten Verteilung der Glücksgüter gefunden haben, die Staatsmänner der absolutistischen Partei wollen sie durch Unterdrückung der Presse und der Gewissensfreiheit, die Volksmänner durch das Gegenteil, die Kommunisten durch Einführung des Fourier’schen Hospitalregimentes [nach Charles Fourier (* 7. April 1772 in Besançon; † 19. Oktober 1837 in Paris) war ein französischer Gesellschaftstheoretiker, ein Vertreter des Frühsozialismus und ein scharfer Kritiker des frühen Kapitalismus] verstopfen. Wir wollen hier nicht untersuchen, welche von Allen mehr Recht haben als die Anderen, nur so viel behaupten wir ohne Anstand, dass wohl Alle ziemlich unaufrichtig in ihren Bestrebungen sind, dass sie weniger den großen Zweck ihrer Ostentation [Zurschaustellung, Prahlerei, Großtuerei], als ihre persönlichen und Korporationsvorteile, weniger die Zukunft als die kurze Spanne der Gegenwart im Auge haben, welche ihr kurzsichtiger und kleinlicher Egoismus auszumessen im Stande ist.
Inhaltsverzeichnis
Glücklicherweise bin ich nicht berufen, hier dieser Urquelle nachzuforschen, — ich habe nur eine Stelle zu zeigen, wo sie bereits ein reißender Strom geworden ist, ein Strom, den jedoch Niemand zu gewahren scheint, obgleich er alle unsere Wohlfahrt überschwemmt, bloß darum, weil Jedermann darin behaglich schwimmt, unbekümmert in der Wollust des Augenblicks, ob man jemals das Ufer wieder zu erreichen im Stande sein wird. Denn Niemand kennt seine Kräfte, und obgleich Jeder das Unglück Anderer sieht, so rührt es ihn doch nicht, er lacht wohl über die Ungeschickten, welche sich vom Strome verschlingen lassen, und glaubt sich durch seine Kräfte wohl gesichert gegen ein so schmähliches Schicksal.

Dieser Strom aber ist die Zügellosigkeit unserer Sitten, ausschweifende Sinnlichkeit, bodenlose Liederlichkeit der Gesinnung und Gesittung unter Hohen und Niederen, Vornehmen und Geringen, Reichen und Armen, Priestern und Laien, Frauen und Männern, Jungen und Alten, — unter Jenen, welche da befehlen, und Jenen, welche ihnen nicht gehorchen, Jenen, welche da lehren und predigen, und Jenen, welche sie verhöhnen.

Dass die Sinnlichkeit in unserem Zeitalter einen so ausschweifenden Charakter annehmen konnte, ist wohl dadurch veranlasst, daß die christlichen Priester, um ihre Macht und ihren Einfluss über die Familien zu verwirken, das Institut der Ehe aus einem naturgemäß freien Verbande der Liebe zu einer strengen kirchlichen Einrichtung erhoben und ihm dadurch den verhassten Charakter eines Zwanges gegeben haben, welcher, von den stärksten Naturgefühlen perhonescirt, mehr als jedes soziale Missverhältnis dazu beitrug, die Begierden bis zur Zügellosigkeit zu entfesseln. Von dem Augenblicke an, wo der sacramentalische Charakter dieses Institutes durch Inquisitionsgerichte und schreckliche Strafen gegen alle Geschlechtssünden auf die Spitze gestellt wurde, begann jener furchtbare Sturz der sittlichen Gefühle, welcher nun fast sein Ende erreicht hat — den Boden des Abgrunds, wo sie vollends versinken und vernichtet werden sollen. Wenigstens spricht jede Seite der Geschichte für diese Annahme. Liebe, Treue und Sittlichkeit gediehen nicht besser als in Zeiten, wo die Ehe ein freier Bund der Liebe war. Jene Zeiten haben die meisten Beispiele von Frauentugend und keuschem Männersinne aufzuweisen. Als Arria [(†42 n. Chr.) war eine Frau im antiken Rom, die durch ihren Selbstmord berühmt wurde], die Gemahlin des Cacinna Pätus, den von ihrem rieselnden Herzblute bedeckten Dolch ihrem Gatten mit den unsterblichen Worten überreichte: Paete non dolet! [„Paetus, es schmerzt nicht.“] da wusste man noch nichts von einem heiligen Sacramente der Ehe — obgleich die Ehe heilig war durch das freie, naturstarke Gefühl der Sittlichkeit.

Was das heutige Europa betrifft, so herrscht, zum Beweise der aufgestellten Behauptung, nirgends eine größere Zügellosigkeit der Sinnlichkeit, als in jenen Gegenden, wo die größte kirchliche Strenge freiwilliger Eunuchen die Ehe zu einer Feuerprobe der menschlichen Jugend und Keuschheit, zu einem lebenslänglichen Kerker für Leib und Seele gemacht hat, in Spanien, Frankreich, Italien und — Österreich! Wir haben es hier nur mit letzterem Lande zu tun, denn die übrigen Länder haben seit langer Zeit ihre Geschichten der Sinnlosigkeit, wozu die wohlgefälligen, bloß auf den Reiz der Sinnenlust berechneten, frivolen Darstellungen erotischer Schriftsteller die bezeichnendsten Beiträge lieferten. Casanova, Boccaccio und die galanten französischen Autoren sind wichtige Beiträge zur Sittenschilderung ihrer Zeiten. Sie wurden nirgends eifriger gelesen als an jenen Höfen, wo man mit Hilfe jesuitischer Beichtväter und jener rechtsgelehrten Büttel, welche zu allen Zeiten bereit waren, für Sold und Rang Gesetze gegen die menschliche Schwachheit zu erdenken und ihren sittlichen Eifer durch recht schaudervolle Erfindungen darzutun, jene Strafen gegen Keuschheitssünden erdachte, welche noch heute so viele Gesetzbücher besudeln.

Das protestantische Deutschland hat noch so viel Sittlichkeitsgefühl gerettet, um der erotischen Literatur keinen Vorschub zu leisten; in Österreich ist längst dieses sittliche Gefühl fast völlig erloschen und nur die Zensur hält — vielleicht nicht ohne ein faunenhaftes Bedauern — die Entstehung einer solchen Literatur zurück, während sie jedoch auf dem Theater, um das Vergnügen nicht völlig zu entbehren, die gröbsten Anzüglichkeiten und Zweideutigkeiten gestattete.

Weit entfernt, mit Boccaccio [Giovanni B. (1313-1375) italienischer Schriftsteller (Decamerone)] und Casanova [Giacomo Girolamo C. (1725-1798), venezianischer Schriftsteller und Abenteurer, er gilt als Sinnbild des Verführers] wetteifern zu wollen, habe ich nur den Zweck, zum Nutzen für den Staat und die Familie ein Bild jener zügellosen Sitten zu entwerfen, worin sehr viele Leser ihre eigenen erkennen werden, um mein Vaterland zum Bewusstsein der auf ihm liegenden Schmach zu bringen. Wenn ich in meinen Schilderungen dem natürlichen Gange der Gefühle nachfolge, so will ich bloß das sittliche Gefühl dahin führen, wo es seine Verirrungen erkennt. Dies soll ohne Prüderie und Affectation, aber auch in keiner Weise geschehen, welche meine Absichten verdächtigen könnte. Ich halte diese Unternehmung für eine höchst ernste für mein Vaterland. Nicht nur ist es hohe Zeit, daß dieser sittenstrenge Hof seine Umgebungen in der Gesellschaft erkenne und sich nicht länger durch jenen nichtswürdigen Schein von Ehrbarkeit. Anstand und Solidität der Aufführung täuschen lasse, womit Diejenigen sich umgeben, welche Macht und Ehrenstellen zu erlangen suchen durch eine staatsgefährliche Heuchelei, um Neigungen zu stöhnen, welche abscheulich sind, sondern auch die Gesellschaft mit der sodomitischen Nemesis [ist in der griechischen Mythologie die Göttin des „gerechten Zorns“ sowie diejenige, die „herzlos Liebende“ bestraft, auch zur Rachegottheit] unserer Zeiten — jenem furchtbaren Feuerregen von schrecklichen, heimlichen Seelenqualen — bekannt zu machen. Es sind der Gottesgerichte in den natürlichen Ereignissen des Lebens, welche aus der allgemeinen Sittenlosigkeit entspringen, so viele, daß man keiner Wunder bedarf, um die Seelen seiner Zeitgenossen zu erschrecken. Der österreichische Hof war seit Maria Theresia bemüht die Unsittlichkeit zu vertilgen, aber er hat die rechten Mittel nicht ergriffen. Die fromme Maria Theresia [von Österreich, (1717-1780) Ehefrau des römisch-deutschen Kaisers Franz I. Stephan] ließ eine Keuschheits-Kommission errichten mit sehr strengen Instruktionen, aber die Herren Kommissäre trieben ihr Geschäft, des Nachts in die Schlafkammern von schönen Frauen und Fräuleins zu dringen, Attrapen [franz. attrape = Falle] zu veranstalten, mit solchem Vergnügen, und gewährten Vergebung und Verborgenheit der entdeckten Sünden um so angenehme Preise, daß die gute Kaiserin genötigt war, durch Aushebung der Kommission dem Skandal, durch welchen viele angesehene Familien kompromittiert worden waren, ein Ende zu machen. Die Ehemänner, welche durch die Wachsamkeit und Indiskretion der Kommission hinter die Schliche ihrer Frauen kamen, die Frauen, welche dadurch die Treulosigkeiten und geheimen Ausgaben ihrer Männer erfuhren, die Väter, welche ihre dichter dem Ärgernisse preisgegeben sahen. Alle wussten der Keuschheitskommission wenig Dank, am wenigsten aber die hohe Geistlichkeit, welche vor dem niedern Klerus gewisse angenehme Privilegien sich reservierte. Einer dieser Keuschheitskommissäre — so erzählten die Großväter — sei in eine äußerst schöne, aber sehr vornehme Dame verliebt gewesen. Da er keine Hoffnung hatte, jemals ihr Herz, noch viel weniger ihre Hand zu erobern, so schritt er zu einer verzweifelten List. Er suchte die Angelegenheiten ihres Herzens zu erforschen und erfuhr, daß ein ungarischer Grenadierlieutenant von ihr geliebt werde. Es gelang einem seiner Agenten sich in das Vertrauen des Offiziers zu schleichen, und er wusste es dahin zu bringen, den heißen Wünschen des hoffnungslos liebenden Lieutenants „Gelegenheit“ zu machen. Das unbescholtene, aber sehr verliebte Täubchen ging in die Falle, — endlich nach einjährigem Schmachten, stillen Seufzern ohne Zahl, verzweifelten Liebesbriefen, erhaschen sie das Glück einer heimlichen Zusammenkunft ohne Zeugen. Die Dame fliegt in die Arme ihres Geliebten, ihr Herz pocht an dem seinigen, es werden Schwüre und Küsse gewechselt, es wird eine Verschwörung gegen eine tyrannische Mutter gemacht — da öffnet sich plötzlich die Tür und ein Kommissär der Keuschheitskommission erscheint, um das bei einer gewöhnlichen Gelegenheitsmacherei ertappte Liebespaar zu inquirieren. Wer schildert den Schreck und die Bestürzung der Unglücklichen! Wohl oder übel — der Herr Lieutenant mußte seinen Namen nennen, eben so die Dame, welche nur dadurch einer öffentlichen Verhaftung entgehen konnte. Der Herr Kommissar setzte sie in einen Wagen, um sie zu ihren Eltern zu bringen, aber statt das hin die in Tränen Schwimmende zu bringen, lässt der Herr Kommissär den Wagen auf die Landstraße fahren. Er erklärt der Dame, daß er sehr beklage, sie in solcher Lage zu sehen! Er tröstete, er lässt Hoffnung blicken auf Befreiung. Kurz, er übereilt in etwas, berauscht von dem Nimbus ihres Zaubers, seine Anträge; aber die Dame war so erzürnt und so außer sich vor Verzweiflung, daß sie die Zärtlichkeit des Kommissärs zu einem originellen Entschluss brachte, auf welchen dieser am wenigsten gefasst war. Es fuhr ihr wie ein Blitz durch den Kopf: wie, wenn ich den Skandal benützte, um Karl zu gewinnen, um sein Weib zu werden? Das Genie der Liebe ist untrüglich, das Mittel, einen Mann zu bekommen, war heroisch, aber konnte nicht fehlschlagen. Was sollte Mama anfangen mit diesem Keuschheitskommissär, dieser in Tränen gebadeten attrapierten Tochter — welche Satisfaktion kennte sie von dem Grenadierlieutenant verlangen, wie die Schande ihres Hauses bemänteln? Sobald die junge Dame diese Gedankenreihe vollendet hatte, und sie war im Augenblick damit fertig, sagte sie sehr ruhig zu dem nun seinerseits bis auf den Tod erschreckten Keuschheitskommissär: ,,Mein Herr, ich bestehe darauf, daß Sie Ihre Pflicht tun, und mich zu meiner Mutter bringen; — sollten Sie einen Augenblick anstehen, mir zu willfahren, so würden Sie es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn ich dann den unverschämten Antrag, welchen Sie mir eben gemacht haben, Ihren Vorgesetzten anzeigen müsste.“ Alle Bitten und Gegenvorstellungen waren fruchtlos, die junge Dame war ordentlich darauf erpicht, kompromittiert werden zu wollen. Er musste sie als Delinquentin ihrer Mutter vorführen, berichten, was er wusste, und einer Familienszene mit beiwohnen, wobei wohl Niemand in solcher Todesangst sich befand, als die hochstrenge Gerichtsperson. Die junge Dame hatte ihre Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht. Binnen sechs Stunden war sie die Gattin des Geliebten und in vierundzwanzig Stunden mit ihm auf dem Wege in eine bömische Garnisonstadt. Der unglückliche Keuschheitskommissär aber kam mit einem gröblichen Verweis und dem Gespötte seiner Kollegen durch, — denn die boshafte Klientin, welcher er allein zu ihrem Glücke verholfen, hatte ihn zwar nicht verklagt, wohl aber geschwatzt und den genäschigen Bock, welchen man zum Gärtner gemacht, völlig preisgegeben.

Solche Vorfälle und ein ordentlicher Aufruhr, welcher unter der dienenden Klasse entstand, welche in jedem Hause gleichwie in einem Kloster bewacht werden sollte, besonders aber die Beobachtung sachkundiger Staatsmänner, daß die Anzahl der Freudenmädchen während des glorreichen Waltens der Commission sich verdoppelt hatte, brachten die gute Kaiserin endlich auf die Vermutung, daß sie nicht die rechten Mittel zur Beförderung der Sittlichkeit ergriffen haben dürfte. Eben so wenig hatte ihre ,,peinliche Halsgerichtsordnung“, wonach der Ehebruch in gewissen Fällen mit dem Feuertode bestraft werden konnte, den erwünschten Erfolg. Am wenigsten schien sich der Herr Gemahl der Kaiserin aus ihrem Gesetzbuche zu machen, denn der schöne Kaiser Franz hatte am Hofe der Kaiserin selbst sein blaues Auge mit einem keineswegs bloß landesväterlichen Wohlwollen auf manche schöne Dame geworfen. Die Kaiserin aber liebte ihn wegen seiner Herzensgüte demungeachtet so sehr, daß sie selbst jenen Personen nicht gram sein konnte, welche als seine begünstigten Freundinnen galten. Als er starb, glaubte Jedermann die Fürstin*), welche Franz besonders ausgezeichnet hatte, verloren, aber Maria Theresia ging mit der ihr eigentümlichen herzlichen Raschheit auf sie zu, ergriff sie gütig bei der Hand und sagte in Tränen ausbrechend: ,,Wir haben viel an ihm verloren!“ Zeitlebens legte sie die Trauer nicht mehr ab und gab so einen gewiss rührenden Beweis von der Wahrheit, daß weder die Natur, noch Gottes Gesetze dem menschlichen Herzen einen Zwang auferlegen, noch ihm jene wilden Schmerzen und Rachegefühle einer durch Nichts zu versöhnenden Eifersucht eingeimpft haben, womit erst die naturwidrigen Gedanken der Priester das weibliche Herz befruchtet haben.

Kaiser Joseph schaffte alle jene strengen und törichten Strafgesetze ab. Er ging, zum Ärgernis für die Geistlichkeit, von der Ansicht aus, daß alle Keuschheitssünden gar nicht vor den Stuhl der weltlichen Gerichtsbarkeit gehörten! Also selbst ein Blutschänder, ein Ehebrecher, ein Sodomit waren nicht straffähig! Welche Ansichten! Es wurde bei diesen Verbrechen nur auf Beschädigungen Strafe gesetzt. Es war also erlaubt, Mädchen zu verführen (Schadenersatz abgerechnet) und Wollust auszuüben, worauf vor wenig Jahren der Feuertod stand! Das Geschrei hierüber war nur durch einige Konzessionen an die erzürnte Gerechtigkeit zu beschwichtigen. Aber im Wesentlichen blieben die Gesetze, wie sie waren — der Ehebruch wenigstens war vor dem Gesetz erlaubt. Jede Ehe konnte ausgelöst werden. Wenig fehlte, so wären die bürgerlichen Heiraten eingeführt worden. Die mariages de conscience wurden abgeschafft, und daran tat Joseph sehr unrecht, denn die Vorurteile der Menschen zwingen selbst den mutigsten Vorurteilslosen, sich ihnen zu unterwerfen. Aber sein Zweck war gut. Man kann zwar nicht behaupten, daß diese gesetzlichen Neuerungen große Fortschritte der Sittlichkeit bewirkt hätten, allein man bemerkte doch keinerlei üble Folgen. Denn an die Stelle des Strafgesetzes trat das sittliche Ehrgefühl. Die Familien suchten sich durch Ehrbarkeit auszuzeichnen, nicht die Furcht vor Strafe, nur das Bewusstsein, daß man an Sittenreinheit ein kostbares Kleinod besitzt, welches Jedermann schätzt, vermag die Sittlichkeit zu erhalten. Eben die Leichtigkeit und Straflosigkeit einer unsittlichen Handlung macht sie doppelt verächtlich. Joseph's Haupt-Augenmerk war darauf gerichtet, die Ehe leicht und frei zu machen, so leicht als möglich, so frei als möglich, das ist ohne Zweifel das rechte Mittel, die Prostitution des weiblichen, und dadurch die entnervendende schändliche Wollüstigkeit und niederträchtige Verführungspraxis des männlichen Geschlechtes zu hindern. Wenn es erst allen Männern im ersten Stadium der Mannbarkeit möglich gemacht würde, sich zu verheiraten, so würde es bald wenige Frauenzimmer geben, welche ihren Leib wechselnden launenhaften und schändlichen Begierden verkaufen. Nur die zahllosen Gelegenheiten bringen im Manne jenen wollüstigen Charakter hervor, welchen jetzt das ganze weibliche Geschlecht zum Opfer gebracht wir. Was Joseph philosophisch dachte und redlich wollte, gab er bei vielen Anlässen kund. Er wollte das Heil beider Geschlechter. Indem er die Ehe erleichterte, ihre Auflösung zuließ, wollte er die Verführung, den Schandtaten der Wüstlinge Einhalt tun. Seine persönliche Herrschaft zeigte die Praxis seiner Gesetze, wie er sie wünschte. Das weibliche Geschlecht begriff zuerst seine wohlmeinenden Gesinnungen. Man erzählt sich zahllose fröhliche und tragische Anekdoten von seiner Intervention in der großen Krisis aller geschlechtlichen Verhältnisse. Hier nur einige. Eine junge Dame, die Tochter eines Offiziers, erhielt durch eine Mittelsperson den Antrag von einem reichen und mächtigen Kavalier, ihm für einen Kaufschilling von 10.000 Fl. ihre Unschuld zu überlassen. Das arme Mädchen, hilflos und verwaist, ohne Aussicht, durch einen Gatten versorgt zu werden, nahm den Antrag an. Als der wollustglühende Seladon [frühere Bezeichnung für einen schmachtenden Liebhaber 17. bis 19. Jahrhundert] zum Rendezvous kam, wusste sie ihm die 10.000 Fl. abzunehmen, ohne für den Augenblick seine Wünsche zu gewähren. Von den Drohungen des Betrogenen verfolgt, warf sie sich dem Kaiser zu Füßen und erzählte ihm den Hergang. Der Kaiser erlaubte ihr, das Geld zu behalten, und verwies dem Kavalier seine Verführungspraktiken. Dieses salomonische Urteil ist zwar nicht über alle Kritik erhaben, aber gewiss tadellos ein anderes in einem ähnlichen Falle. Ein junges, schönes Fräulein aus guter aber verarmter Familie gab sich einem jungen Wüstling gegen Zusicherung einer gleichen Summe preis. Die Erstlinge der Unglücklichen wurden gepflückt, aber der Preis nicht bezahlt. Auch sie wandte sich an den Kaiser, der den nichtswürdigen Wüstling zur Zahlung anhielt, und ihm obendrein eine beträchtliche Buße, an die Armenkasse zahlbar, auferlegte.

Man sieht hieraus, wie die Sache unter Maria Theresia gestanden. Während Frauen und Männer aus dem Volk wegen fleischlicher Sünden die fürchterlichsten Strafen erduldeten, junge Mädchen aus dem dienenden Stande auf der Folter starben, war in den vornehmen Ständen Vergebung der Sünden. Wenn es hoch kam, so gab es eine, von der mütterlichen Kaiserin angeordnete häusliche Züchtigung bei verschlossenen Schüren, wobei die Außenwelt selten Etwas vernahm. Allein das Volk wurde öffentlich ausgepeitscht, in Zuchthäuser und Gefängnisse geworfen, gebrandmarkt und beschimpft wegen derselben fleischlichen Vergehung, welche man nur als ein Privilegium des hohen Adels betrachtete. Vornehme Wüstlinge kauften die Kränzchen der ehrbarsten Bürgerjungfrauen, oder blieben, wie wir gesehen, nach hochadeliger Gewohnheit den Preis für diese Genüsse eben so schuldig wie für andere. Gab es dann etwa eine Klage, so erhielt der Kavalier vielleicht einen Verweis; war es etwa noch ein Jüngling, so wurde er zu Hause ein wenig mit Ruten gestrichen, aber das Mädchen kam ohne weitere Umstände in das Zuchthaus.

Ein Fall dieser Art bezeichnet ganz das damals übliche Verfahren. Ein Herr Baron hatte ein armes, aber höchst tugendhaftes Mädchen, da er sie nicht anders gewinnen konnte, geheiratet. Die Neuvermählten lebten einige Zeit glücklich, der Herr Gemahl aber war zuweilen sehr unruhig, ein Gemütszustand, welcher bald eine furchtbare Erklärung fand. Es erschien nämlich plötzlich eine Dame aus Brüssel im Hause des Barons, welche sich als die Gemahlin desselben auswies, und den der Bigamie schuldigen Eheherrn mit einer furchtbaren Verantwortung bedrohte. Der unglückliche Geängstigte warf sich seiner zweiten Gattin zu Füßen, gestand, daß er schon früher vermählt gewesen sei, und so wurde das unglückliche Geschöpf bewogen, zur Verheimlichung des geschehenen Verbrechens beizutragen, und sich für — die Maitresse des Barons zu erklären. Mit dem Mute einer wahrhaft tugendhaften Liebe entsagte sie dem Besitze, dem Vermögen ihres Gemahls, und erklärte vor Gericht, was man von ihr wollte. Alsbald wurde das legitime Ehepaar wieder vereinigt, der Baron freigesprochen, das unglückliche Opfer aber von den Gerichten zurückbehalten. Man setzte sie mit einem Beamten in einen Fiaker, und brachte sie in ein Haus, welches ihr unbekannt war. Eine gemein aussehende Frau empfing sie hier, und befahl ihr, die Kleider, welche sie an hatte, sogleich abzulegen, da sich solcher Staat für dieses Haus nicht gezieme. Anfangs glaubte die Unglückliche, sich in einem Kloster zu befinden, aber bald wurde sie schrecklich enttäuscht, als man, nachdem sie sich entkleidet, über sie herfiel, und sie einer grausamen Züchtigung unterwarf. Es war der gewöhnliche „Willkomm“ für neu ankommende Züchtlinge, und das Haus, in welchem sie sich befand, war das Zuchthaus. Aber der Heldenmut ihres Edelsinnes wurde durch diesen schändlichen Verrat nicht gebrochen, sie gedachte in ihrer Schande und in ihren Leiden der furchtbaren Strafe, welche den Geliebten durch die Zurücknahme ihrer Erklärung treffen würde. Sie schwieg. Zwei Jahre harrte sie vergeblich der Befreiung — der Baron hatte sie vergessen, man war froh, daß sie geborgen war. Wiederholt war die Unglückliche Züchtigungen unterworfen worden, sie fing an zu siechen. Da erschien eines Tages der Kaiser in dem Hause des Jammers und der Schande. Er befragte jeden einzelnen Züchtling um sein Verbrechen, um die Art ihrer Behandlung, ihre Kost, ihre Beschwerden. Da warf sich plötzlich eine junge Frau zu seinen Füßen. Schluchzen, Krämpfe, Vorboten einer Ohnmacht, überzeugten den Kaiser, daß er es hier nicht mit einer jener gemeinen, abgestumpften Verbrecherinnen zu tun hatte, welche solchen Schmerzes unfähig sind. Man leistete ihr Beistand, und nun erzählte sie ihre Geschichte. Welch' eine Szene für des Kaisers edles Herz! Die Sache wurde untersucht, wahr befunden, die Schuldigen bestraft, die Unglückliche befreit und entschädigt. Aber Alles dies war dem Herzen des Kaisers nicht genug. Er sah, daß er sein Volk nur durch große Reformen vor ähnlichen Misshandlungen von Seiten verruchter Behörden schützen könne, und er ließ keinen Tag vergehen, ohne seinem Volke eine dauernde Wohltat zu erweisen. Aber mit aller Macht seines Geistes war er nicht im Stande, die steche Sittenlosigkeit seines Adels völlig zu unterdrücken, aber er schreckte sie, er schützte ihre Opfer, und stellte Gleichheit vor dem Gesetze her. Unter seiner Regierung nahm die steche Zügellosigkeit der adeligen Verführer wenigstens ab, man horte mehr öffentliche Skandale, aber der heimlichen Verbrechen wurden täglich weniger.

Seine Nachfolger glaubten seinem Geiste wieder entgegenwirken zu müssen. Die Ehegesetze wurden wieder strenger, die Polizeivorschriften hinsichtlich der „fleischlichen“ Verbrechen und Vergehungen verschärft, die Praxis der Gesetzgebung gab wieder „Rücksichten“ für Vornehme Raum, das öffentliche Ärgernis wurde ängstlich vermieden, die Religion, wie man sich ausdrückte, in ihre heiligen Rechte eingesetzt Liguorianer [seltener gebrauchte Bezeichnung für die Mitglieder der Kongregation vom Allerheiligsten Erlöser, nach ihrem Gründer Alfons Maria von Liguori] nahmen es aus sich, die Keuschheit zu befördern, sie errichteten ein Kloster von freiwilligen Büßerinnen, welches der Wiener gerade Verstand ohne Weiteres ihr Serail [wird der Palast bzw. die Residenz eines türkischen Herrschers bezeichnet] nannte; wir wollen sehen, was für Zustände hieraus erfolgt sind.

Wer nur dreißig Jahre denkt, hat Gelegenheit zu Vergleichungen und Beobachtungen, welche schrecklich sind. Noch vor dreißig Jahren war die Mehrzahl des Wiener Volkes ziemlich kräftig gebaut, hoch und schlank gewachsen, von einer der edelsten Menschenrassen halb asiatischen Ursprungs. Das weibliche Geschlecht, wegen seiner Schönheit in ganz Europa berühmt, vereinigte Grazie mit Gesundheit, die Sitten waren zwar schlecht, aber noch sah man die schrecklichen Folgen ihres Verfalles nicht. Jetzt ist das Bild dieser Folgen vollendet! Man besuche die öffentlichen Örter, wo sich große Massen des Volks versammeln. Welche verkrüppelte, armselige, Mitleid erregende Gestalten, welche zwerghafte Generation, welche aschgraue Gesichtsfarbe, welche sieche, skrophulöse, mit Geschwüren, Finnen und Flechten bedeckte Kinder! Welche hektischen, verwachsenen, engbrüstigen Weiber! Ich spreche nicht von Einzelheiten, nur von der Gesammtheit. Es ist eine bekannte Tatsache, daß das Regiment Hoch- und Deutschmeister, dessen Werbbezirk Wien umfasst, das alte Militärmaß herabsetzen musste, um seine Mannschaft komplet machen zu können. Es gibt keine genügende Erklärung dieser traurigen Erscheinung als die Wollust, das Gefolge ihrer Seuchen und Nervenübel und jener furchtbaren Heilmittel, welche schlimmer sind als die Krankheit. Welche schreckliche Gemälde in den Hospitälern, Gebär- und Siechenhäusern, in den Hütten der Armen, welche die Findelkinder aufziehen! Aber noch weit trauriger als die physischen Erscheinungen ist das geistige Bild dieser verderblichen Degradation. Wo ist der Frohsinn dieser lustigen Wiener, deren Schwänke alle Fremden ergötzten? Wo der gesunde, harmlose Mutterwitz dieses Völkleins lachender Philosophen? Wo die harmlose, gemächliche Herzlichkeit, welche Jedermann mit freundlichen Diensten entgegenkommt, dieses heitere Leben und Lebenlassen, welches einst Wien so angenehm machte? Man besuche diese Schauplätze der jetzigen Volksvergnügungen, diese Bierhäuser, öffentlichen Gärten, wo ungeheure Menschenmassen bei einer lärmenden Musik schweigend oder flüsternd, ja fast traurig beisammen sitzen, diese öffentlichen Bälle, wo statt der sonstigen Fröhlichkeit man jetzt Nichts findet, als ekelhaft brünstige Tänze, in welchen sich tierische Begierden in frecher Umschlingung zu Tode keuchen. Man trete auf den Schauplatz des Lebens! Welch' ein Kampf, welche Kabalen, Chicanen, Intriguen, Verleumdungen, gegenseitigen Verfolgungen, welche Treulosigkeit in Wort und Tat, welche giftigen Blicke des Hasses und eiskalte Geberden gefühlloser Gleichgültigkeit. Man lese die lokalen Blätter und Volksschriften: welche Unlust zum Denken, welcher alberne Bilderkram, welche Geistlosigkeit! Jede ernstere und bessere Bestrebung bleibt ohne Teilnahme, die Geister haben keine Freunde. Gleichgültig gegen das Edle und Schöne, gleichgültig gegen die Wahrheit, gleichgültig gegen das Vaterland, ja gegen das eigene wie das fremde Schicksal, lebt dieses Geschlecht nicht mehr, nein, es stirbt. Nur Wollust und immer wieder Wollust reizt die Nerven dieser depravirten Menschheit. Fassen wir die Erscheinungen zusammen; in physischer Hinsicht: Syphilis, Gicht, Skropheln, Epilepsie, Phthisis, Aussatz, Verkrüppelung; in moralischer: Brotneid, Hass, Verleumdung, Verfolgung, Mangel an Gemeingeist, Liederlichkeit, Sodomie, Ausschweifung, Habsucht, Geiz, Spionage; in geistiger Hinsicht gedankenloses, blödsinniges Hinbrüten, einfältige Sucht nach zweideutigen Bonmots, Philisterhaftigkeit, geistige Impotenz. Wer ist die Mutter dieser Kinder? Ich nenne sie Euch — es ist die
Venus vulgivaga! [Göttin der Prostitution]

Bordellbesuch am Ende des 16. Jahrhunderts

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Französische Prostituierte im 17. Jahrhundert

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Sittenbild aus der Zeit Louis XIII.

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Freier und Huren, Frankreich 16. Jahrhundert

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Römisches Bordell, Italien 16. Jahrhundert

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Ein Frauenschicksal im Mittelalter

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Sklavenmarkt in der Antike

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Ein Freier verlässt das Bordell, Antike

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Eine schwere Entscheidung, alles süße Früchte

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