Das deutsche „Schachdorf“ Ströbeck. Mit drei Bildern

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Christian Röckner, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Schachspiel, Araber, Schachbrett, Schachfiguren, Schachregeln,
Auch das Schachspiel hat seine besondere Geschichte. Unter den Brettspielen ist es das verbreitetste und geistreichste aller Spiele, bei dem nicht glückliche Zufälligkeiten, sondern nur Umsicht und Scharfsinn zum Ziele führen. Das heutige Schach ist nicht von Anbeginn nach den Regeln gespielt worden, die jetzt international gültig sind. Die Anfänge dieses Spiels führen nach Indien in das achte Jahrhundert nach Christus; von dort gelangte es etwa hundert Jahre später durch Buddhisten nach Persien, und von da kam es mit den Arabern nach Europa. In Indien nannte man das Spiel Tschaturanga Kriegsspiel, in verdorbener Form hießen es die Perser Schatrandsch; in Indien ist Radscha der Titel eines Herrschers, des Königs, in Persien Schâh; daraus entstand unsere Bezeichnung Schach - Königspiel. Bei den Arabern war es am eifrigsten gepflegt und entwickelt worden und gelangte durch dieses Volk zuerst nach Spanien und Italien. Vor dem elften Jahrhundert kannte man in Europa das Schachspiel nirgends. Alle anderen Angaben beruhen entweder auf Verwechslung mit anderen Brettspielen oder auf Berichten und Fabeln, die man ohne strenge Prüfung ernst genommen hat. Nachdem es lange Zeit hindurch eifrig gespielt worden war, geriet es während und nach dem Dreißigjährigen Kriege fast in ganz Europa wieder in Vergessenheit; erst um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts lebte es wieder auf.

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Da ist nun merkwürdig, dass dieses edelste aller Spiele in einem deutschen Dorfe immer gepflegt worden ist. In der Nähe von Halberstadt liegt das stattliche Ströbeck, das seit Jahrhunderten den Ruf genoss, das Schachspiel nie vergessen zu haben. Auf der ganzen Welt ist Ströbeck das einzige Dorf, wo Jung und Alt, Männer und Frauen, ja sogar die Kinder beiden Geschlechtes eifrig Schach spielen. Dort gibt es einen Männer- und Frauenschachklub und ein Gasthaus „Zum Schachspiel“, in dem ernsthaft gespielt wird. Im Ströbecker Amtsiegel führt man einen schwebenden Adler und ein Schachbrett, neben dem sich König und Königin befinden, und auf dem Kirchturm und dem von Sandsteinen erbauten, mit Ziegeln gedeckten viereckigen Turm, dem sogenannten „Schachturm“, drehen sich als Wahrzeichen Wetterfahnen im Winde, die gleichfalls als Schachbrett gebildet sind. Wie kam es nun, dass in einem Dorfe das edle Spiel Jung und Alt dauernd in seinen Bann gezogen hat?

Geschichtlich ist aus alter Zeit nichts bezeugt. Aber in zwei Sagen erhielt sich einiges, worüber der Halberstädter Lehrer Karl Elis in seinen 1843 herausgegebenen „Kurzgefassten Nachrichten von Ströbeck“ berichtete. Ströbeck wird zuerst im Jahre 1004 in einer Urkunde des Kaisers Heinrich II.

Die eine Sage lautet: „Der Bischof Arnulf von Halberstadt bekam 1011 vom Kaiser Heinrich II. einen vornehmen Staats- und Kriegsgefangenen, den Grafen Guncellin, überwiesen, damit er ihn, ohne dass es jemand erfahre, in dem alten Turme von Ströbeck, der noch jetzt am Nordende des Dorfes steht, so lange gefangen halte, bis er dem Bischof weitere Befehle erteilen würde. Die Bauern mussten nun immer abwechselnd bei Guncellin Wache halten, und da sie glimpflich mit ihm umgingen, so unterhielt er sich freundlich mit ihnen, schnitzte aus Langeweile Schachfiguren, fertigte ein Schachbrett an und ward, um sich die Zeit besser vertreiben zu können, nun der Lehrer im Schachspiel, worin er Meister war. Mit Lust und Eifer benützten die Bauern diese Gelegenheit, ein so schönes Spiel zu lernen, und bald kannte man im Dorfe kein anderes Spiel mehr.“

Nach einer zweiten Sage verhielt es sich so: „Als Bischof Burchard II., auch Bucko genannt, im Jahre 1068 auf seinem Heereszuge gegen die Wenden einen vornehmen Wenden gefangen nahm, befahl er, ihn in den Ströbecker Turm zu sperren, und ließ den Wenden sagen, er wolle ihn so lange gefangen halten, bis sie die Friedensbedingungen erfüllten und ein ansehnliches Lösegeld schickten. Dieser Gefangene lehrte die Ströbecker das Schachspiel.“

Der geschichtliche Kern dieser beiden Sagen mag in einer von dem Magdeburger Pastor Koch in seiner 1801 gedruckten „Schachspielkunst“ erwähnten Überlieferung enthalten sein. Danach soll ein Kapitular des Halberstädter Domstifts, der zurzeit, als dies noch die Regierung besah, mit dem Bischof zerfallen war und sich nach Ströbeck zurückzog, die Bauern mit dem Schachspiel bekannt gemacht haben. Er ward später selbst Bischof, ermunterte die Ströbecker, das Spiel weiterzupflegen, und befreite sie unter dieser Bedingung von manchen Abgaben. Dieser Bischof scheint nun allmählich mit dem noch in einem Wiegenlied in der Erinnerung lebendig gebliebenen „Bucko von Halberstadt“ verwechselt worden zu sein.

Die Ströbecker besaßen das Recht, jedem neuen Landesherrn, der in ihren Ort kam, auf freiem Felde auf einem Tisch eine Partie Schach anbieten zu dürfen. Der Kurfürst Friedrich Wilhelm schenkte am 13. Mai 1651 den Ströbeckern ein „Schach- und Kurierspiel“ samt silbernen und vergoldeten sowie elfenbeinernen Figuren. Das Brett und die Elfenbeinfiguren sind noch im Besitz der Ströbecker Gemeinde, die silbernen Figuren gingen durch Ausleihen verloren. — Am 20. Februar 1708 schrieb ein in Ströbeck gewesener Reisender R. Hales den „Ehrsamen und wegen des Schachspiels weit berühmten Meistern und sämtlichen Eingesessenen“ des Fleckens Ströpke. Er bedankte sich für die Ehre, einige Zeit mit den Herren im Spiel verbracht zu haben, von denen er als „erfahrenen Leuten, als sie in diesem Spiel sind, nicht wenig habe lernen können“. Herzog Ludwig Rudolf von Braunschweig, der im achtzehnten Jahrhundert lebte, spielte gern mit den Ströbeckern Schach. Einmal spielte er auch mit dem Ortsschulzen Söllig, hinter dem dessen achtjähriger Sohn das Spiel beobachtete und ihn bei bedenklichen Zügen aufmerksam machte. Der Herzog gewann Freude an dem Knaben und ließ ihn studieren.

Dass sich bei den Ströbeckern einige alte Schachregeln bis in die neueste Zeit erhalten haben, lässt sich wohl ohne weiteres begreifen. Sie eigneten sich aber auch die internationale Spielweise an und sind in der Theorie des Spieles ebenfalls gut bewandert. Das Schachspiel wird bei ihnen sogar in der Schule erlernt, ein Unterrichtsfach, das sonst nirgends gepflegt wird. Möge auch künftig das edle Spiel in dem einzigen „Schachdorfe“ der Welt blühen und als Erbe der Vorfahren in gebührenden Ehren gehalten werden.

A. Frankl Der historische Schachturm in Ströbeck.
Die Ströbecker Schuljugend beim Unterricht im theoretischen Schachspiel
Eine Schachpartie während der Arbeitspause beim Hufschmied.

Schach, Die historische Schachturm in Ströbeck

Schach, Die historische Schachturm in Ströbeck

Schach, Die Ströbecker Schuljungend beim Unterricht im theorethischen Schachspiel

Schach, Die Ströbecker Schuljungend beim Unterricht im theorethischen Schachspiel

Schach, Eine Schachpartie während der Arbeitspause beim Hufschmied

Schach, Eine Schachpartie während der Arbeitspause beim Hufschmied