Russlands System der administrativen Strafen

Es ist ein Axiom der Rechtsordnung, dass niemand bestraft werden kann, ohne zuerst vom Gericht der Schuld überwiesen zu sein. Die Person jedes Bürgers muss vom Gesetze geschützt werden, das genau alle Bedingungen und Formen der Anklage und Bestrafung bestimmt und umschreibt. Die richterliche Behörde ist von der Exekutive verschieden und bildet eine selbstständige Institution, die eine Reihe von Garantien für ihre Unvoreingenommenheit und Achtung vor dem Gesetze bietet. Die gesamte komplizierte, geschichtlich bedingte und bislang noch nicht ganz innerlich befestigte Rechtsordnung ist durch und durch von dem obersten dominierenden Grundsatz durchdrungen: die Wahrung der Rechte des Angeklagten. Und nur eine vom Gerichte auferlegte Strafe kann als eine der Natur des Rechtstaats entsprechende anerkannt werden. Je mehr ein Land dem Ideal eines Rechtstaats sich genähert hat, desto enger wird der Kreis, innerhalb dessen eine außergerichtliche Vergeltung möglich ist. Und umgekehrt — je mehr ein Land vom Ideal des Rechtstaates entfernt ist, desto verschwommener und unmerklicher wird die Demarkationslinie, welche die Willkür der administrativen Maßnahmen vom legalen Gerichtsverfahren trennt. Alle Arten der Willkür sind mit einander organisch verbunden, und es ist undenkbar, dass in einem absolutistisch regierten Staate das Prinzip der Verantwortlichkeit ausschließlich vor dem Gerichte in der Strafprozessordnung eine wirkliche und normale Entwicklung haben könnte.

Das in Russland überwuchernde System der administrativen Strafen kann als konkreter Beweis und als Bestätigung des Obengesagten dienen. Ihrem Wesen nach unterscheiden sich diese Strafen durch nichts von denen, die im Strafkodex festgesetzt sind. Wir finden auch hier wie dort Freiheitsstrafen in der Form von Gefängnishaft, Arrest und Verbannung, auch Geldbußen, aber der Unterschied ist der, dass während die Strafe nach dem Strafprozessverfahren nur infolge einer Gerichtsentscheidung wegen einer bestimmten Handlung verhängt werden kann, die administrative Strafbestimmung ganz von der Willkür der Person, der die Repressalienmacht verliehen ist, abhängt.


Die Aufgabe dieses Aufsatzes ist, die wesentlichsten Züge und hauptsächlichsten Formen dieses außergerichtlichen Strafverfahrens zu skizzieren, das sogar infolge seiner so häufigen Anwendung am allermeisten dazu beigetragen hat, den Glauben zu erwecken, dass in Russland das Gericht der allgewaltigen Administration gegenüber machtlos und nichtig sei, und dass gerade in jenen Rechtssphären, wo die Person des Westeuropäers für die administrative Gewalt unantastbar ist, der russische Staatsangehörige dieser gänzlich preisgegeben und infolgedessen in der Wirklichkeit völlig rechtlos sei. In erster Reihe müssen wir die spezielle Gesetzgebung, die in Russland unter dem Namen „Reglement über die verschärfte Bewachung“ allgemein bekannt ist, ins Auge fassen. Die praktische Anwendung dieser „Gesetze“ stellt, wie wir bald sehen werden, die größte Hälfte des Landes außerhalb des Gesetzes. In dem ganzen ungeheuren Komplex der russischen Gesetze gibt es keinen gesetzgeberischen Akt, der so allgemein verhaßt wäre, wie dieses berüchtigte „Reglement“. Eine Ausgeburt der Epoche der erbittertsten Reaktion, hält sie noch bis jetzt die ganze russische Gesellschaft, alle Einwohner dieses Reiches mit ihren eisernen Fäusten umklammert. Die Abschaffung dieser Gesetze ist das pium desideratum der gesamten Bevölkerung des großen russischen Reiches, die dank ihnen zwanzig Jahre lang das Joch der Willkür und der Un Verantwortlichkeit getragen hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das außergerichtliche Strafverfahren