Reglement über die Maßregeln zur Wahrung der Staatsordnung und der öffentlichen Ruhe

„Das Reglement über die verschärfte Bewachung“, oder genauer „das Reglement über die Maßregeln zur Wahrung der Staatsordnung und der öffentlichen Ruhe“, ist im September des Jahres 1881 herausgegeben worden, zu einer Zeit, als die Regierung ihre ganze Kraft zum Kampfe gegen die revolutionären Elemente, die soeben ihre Tätigkeit bis zur äußersten Spannung gebracht haben, anstrengte. Der damals allmächtige Minister des Inneren, der bekannte Graf N. P. Ignatjew, der frühere Gesandte in Konstantinopel und der Autor des Vertrags von San Stefano, verfiel auf den Gedanken, es wäre notwendig, „alle provisorischen Maßregeln zur Bekämpfung der sozial-revolutionären Bewegung und Wahrung der Staatsordnung und der öffentlichen Ruhe zu revidieren und in ein System zu bringen.“ Zu diesem Behuf wurde dem Ministerium eine spezielle Kommission beigegeben, in deren Mitte sich u. a. auch v. Plehwe, der damals Direktor des Polizeidepartements war, und Murawjew, der später Justizminister, damals aber Staatsanwalt an dem Petersburger Oberen Gerichtshof war, befanden. Der „alleruntertänigste“ Bericht des Grafen Ignatjew an den Kaiser über die Bildung der Kommission (der Bericht ist unveröffentlicht geblieben) wies darauf hin, dass „die Mordtat vom 1. März (gemeint ist die Ermordung Alexanders II.) die Unzulänglichkeit der zur Ausrottung der Verschwörung ergriffenen Maßregeln bewiesen und die dringlichste Notwendigkeit, einen Ausweg aus dieser schweren und unruheerregenden Situation durch die Beseitigung von deren Ursachen zu suchen, gezeigt habe. Zu diesen Ursachen gehört auch der Mangel an einer Einheitlichkeit aller Maßregeln, die gegen die sozialrevolutionäre Bewegung gerichtet sind und die Unzweckmäßigkeit mancher dieser Maßregeln.“ Nach den damals herrschenden provisorischen Gesetzen waren in 27 Gouvernements die Vertreter der administrativen Behörde mit exzeptionellen Vollmachten versehen, welche die der Zentralorgane der Verwaltung bei weitem übertrafen. In diesen 27 Gouvernements, wie auch in Petersburg, hatten außer den allgemeinen Gesetzen die sogenannten obligaten Verordnungen der Generalgouverneure, die sie im Interesse der Sicherung der öffentlichen Ordnung und Ruhe erließen Gesetzeskraft, sie erschienen aber der Kommission auf Grund der Tatsachen als unzulänglich. Schließlich wies der Kommissionsbericht darauf hin, dass „außer der allgemeinen Prozessordnung bei der Untersuchung und dem Instanzenweg politischer Verbrechen noch andere, besondere Rechtsvorschriften in Kraft sind, welche die einheitliche und streng legale Führung derartiger Prozesse ungemein erschweren, da die Vollmacht der Polizeibehörde bei der Aufdeckung und Untersuchung solcher Verbrechen derartig eingeschränkt ist, dass die Polizei fortwährend gezwungen ist, ihre Machtbefugnisse zu überschreiten.“ Alle diese Mängel und Schwierigkeiten sollte nun eine neue, allumfassende Gesetzgebung aus der Welt schaffen, wobei der zur Ausarbeitung dieser Gesetze gebildeten Kommission eingeschärft wurde, dass „die bevorstehenden Arbeiten, welche die Regelung der bereits bestehenden Gesetze zur Bekämpfung und Ausrottung der sozialistischen Bewegung zum Zwecke haben, nicht nur darin bestehen sollen, die Regierungstätigkeit in dieser Richtung homogen zu gestalten, sondern auch neue Mittel ausfindig zu machen, die zwar den Charakter von provisorischen, für eine bestimmte Zeit eingeführten Maßregeln haben sollen, nichtsdestoweniger aber den festen Willen der Regierung, die verbrecherische Tätigkeit der geheimen Gesellschaften, die unsere teuersten sozialen Interessen bedrohen, zu unterdrücken kundgeben, damit diese Interessen sich normal und legal entwickeln könnten, gemäß den Ansichten S. K. Majestät.“

Somit wurde von Anfang an ausdrücklich betont, dass das neue „Reglement“ bloß als zeitweilige, außerordentliche Maßregel aufzufassen sei, die durch die Verstärkung und immer häufiger werdende Wiederholung der Äußerungen der terroristischen Propaganda hervorgerufen worden sei. Auf den provisorischen Charakter dieser Gesetze hat auch das Ministerkomitee mit Nachdruck hingewiesen. Als das von der Kommision des Grafen Ignatjew ausgearbeitete Gesetzesprojekt dem Ministerkomitee vorgelegt wurde, meinte dieses, dass das Projekt als provisorische Maßregel zu betrachten sei, angesichts des Umstandes, dass es sonst in manchen wesentlichen Punkten der Bestätigung seitens der Legislative bedürfte. „Dadurch,“ hieß es ferner, „wird der Minister des Inneren auf Grund der Erfahrung in die Lage gesetzt werden, in legislativer Ordnung manche Vorschläge über einige im Reglement berührte Punkte wie auch über einige Änderungen der gegenwärtigen Vorschriften über die administrative Ausweisung einzubringen.“ Aus diesem Grunde wurde dieses provisorische Reglement nur für 3 Jahre angenommen. Seitdem ist aber schon über ein Vierteljahrhundert verstrichen. Der damals allmächtige Minister des Inneren ist schon längst und zwar gleich nach dem Erscheinen des „Reglements“ von der politischen Bühne verschwunden, kein einziger seiner Zeitgenossen, mit Ausnahme von Pobjedonoszew, steht mehr am Steuer des russischen Reiches. Das gesamte öffentliche Leben Russlands hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert; die ganze Regierungszeit Alexanders III., zehn Jahre der Regierung seines Nachfolgers sind bereits an uns vorübergegangen, und das berüchtigte „Reglement“, das von Zeit zu Zeit wieder erneuert wird, umklammert wie früher gleich einem eisernen Ringe einen ungeheuren Teil unseres Vaterlandes und übt eine unheilvolle Wirkung auf die übrigen Teile des Landes aus. Es folgt somit daraus, dass in Russland das am längsten währt, was bloß provisorisch eingeführt wird. Eine ganze Reihe von Generationen ist in diesem Milieu der „extraordinären Maßregeln“, in der dumpfen Atmosphäre der Willkür Einzelner und der Verachtung des Gesetzes großgezogen worden. Von außen schien ja alles ruhig und wohlbestellt, aber wer an diese Ruhe einst geglaubt hat, hat bloß einen Beweis seiner Leichtgläubigkeit geliefert. Unter der Asche glomm das Feuer fort. Die Unzufriedenheit häufte sich an, es wurde immer klarer und deutlicher, dass man so nicht weiter leben könne. Die Resultate sind ja bekannt.


Das „Reglement“ berücksichtigt die Möglichkeit, eine Gegend in den Zustand der „verschärften Bewachung“ (der ursprüngliche Ausdruck war: „in den Zustand der gestörten Ordnung“) und der „außerordentlichen Bewachung“ zu versetzen (ursprünglich: „in den Zustand der drohenden Gefahr“) und setzt auch für sämtliche Provinzen des Reiches gewisse Bestimmungen fest für den Fall, dass in irgend einer Gegend eine von diesen beiden Arten der verschärften Bewachung eingeführt wäre. In den Gegenden, über die die „verschärfte Bewachung“ verhängt worden ist, wird den an der Spitze der Verwaltung stehenden Personen (d. h. den Generalgouverneuren, Gouverneuren und Stadthauptleuten) das Recht eingeräumt, über alle Fälle von Übertretung der von ihnen erlassenen obligatorischen Verordnungen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in administrativem Verfahren zu entscheiden; und zwar über die Schuldigen die Arreststrafe bis zur Höhe von 3 Monaten oder eine Geldbuße bis zum Ausmaße von 500 Rubeln zu verhängen; ferner alle öffentlichen und sogar privaten Versammlungen zu verbieten, dann alle kommerziellen und gewerblichen Anstalten für eine bestimmte Frist oder für die ganze Dauer des Ausnahmezustandes zu schließen, bestimmten Personen den Aufenthalt in den in den Ausnahmezustand erklärten Ortschaften zu verwehren. Außerdem haben die Generalgouverneure das Recht — und in den von ihnen unabhängigen Gouvernements steht es dem Minister des Inneren zu — einzelne Prozesse, die den allgemeinen Strafgesetzen unterliegen, unmittelbar an den oberen Gerichtshof zu über weisen, sobald sie es im Interesse der Wahrung der öffentlichen Ordnung als nötig erachten, wobei das für den Kriegszustand bestimmte Strafausmaß, darunter auch die Todesstrafe, über die Schuldigen verhängt werden kann.

In den Gegenden, über welche der Zustand der „außerordentlichen Bewachung“ verhängt ist, haben die Machthabenden außer den angeführten Rechten auch die Befugnisse: bewegliche und unbewegliche Güter und die aus ihnen fließenden Einkünfte zu beschlagnahmen, sobald es ersichtlich ist, dass diese Güter und Einkünfte zu verbrecherischen Zwecken verwendet werden; dann administrative Strafen zu verhängen im Höchstmaße von dreimonatiger Festungsoder Kerkerhaft oder eines Arrestes auf dieselbe Dauer für Übertretungen der von ihnen erlassenen obligatorischen Verordnungen oder für solche Vergehen, die nach vorangegangener Ankündigung der Sphäre der Gerichtsbarkeit entzogen worden sind; Personen, die im Staatsdienste sind, außer denen, die in den ersten drei Rangklassen stehen, von ihrem Amte zu entheben, und schließlich das Erscheinen periodischer Druckschriften zu sistieren und Lehranstalten für einen Monat zu schließen.

Außerdem werden zugleich mit der Verhängung des Zustandes der verschärften oder außerordentlichen Bewachung, was jedesmal auf Grund eines speziellen allerhöchst genehmigten Beschlusses des Ministerkomitees geschieht, auch in einigen genau bestimmten anliegenden Gouvernements und Gebieten, manchmal sogar in allen übrigen Reichsgegenden der Administration folgende Rechte eingeräumt: a) Personen, die im Verdachte „politischer Unzuverlässigkeit“ stehen zu einer Präventivhaft bis zu 7 Tagen zu verurteilen, bei ihnen Hausdurchsuchungen vorzunehmen und sie auszuweisen; b) die Zulassung bestimmter Personen zum Dienste in den Semstwos, Stadtmagistraten und zum Friedensrichteramte zu hintertreiben und sie event. ihrer Stelle zu entheben; c) Personen, die ein Staatsverbrechen begangen haben oder bewaffneten Widerstand oder ähnliche Vergehen gegen Amtspersonen, die ihre Amtspflicht zur Wahrung der Staatsordnung und der öffentlichen Ruhe erfüllten, sich zuschulden kommen ließen, dem Kriegsgericht auszuliefern, wobei auf sie das für den Kriegszustand bestimmte Strafausmaß, einschließlich der Todesstrafe, angewendet wird.

Diese Rechte genießt jetzt die Administration im ganzen Reiche. Die „Gesetze über die verschärfte Bewachung“ aber erstreckten sich am Schluß des Jahres 1903 laut offiziellen Angaben über eine Raumfläche von 850.000 Werst und eine Bevölkerung von mehr als 30 Millionen Menschen.

In letzter Zeit sind diese Zahlen noch angewachsen. Außer den aufgezählten Vollmachten hat die Administration in den Gegenden, über die der Ausnahmezustand nicht verhängt worden ist, das Recht, politisch unzuverlässige Personen auf administrativem Wege auszuweisen. Wir werden noch Gelegenheit haben, bei der Besprechung der administrativen Ausweisung darauf im allgemeinen zurückzukommen. Es wird wohl niemand bestreiten, dass all diese oben zitierten Verfügungen der administrativen Gewalt im Gebiet der Strafverhängung den weitesten Spielraum lassen. Indessen aber hat die Erfahrung gezeigt, dass die administrative Gewalt unausgesetzt hartnäckig darnach strebte, ihre Rechtsbefugnisse noch zu erweitern, und ihnen einen universellen, allumfassenden Charakter zu verleihen.

Im Journal des Ministerkomitees vom 11. Januar 1905, das sich mit der Frage der Revision des Ausnahmsgesetzes befasst, lesen wir diesbezüglich: „Von den übrigen im Reglement der verschärften Bewachung am häufigsten vorkommenden Maßnahmen hat der Gehilfe des Ministers des Inneren die Verhaftungen einzelner Bürger durch Verfügung der lokalen Polizeibehörden und die auf eben dieselbe Weise stattfindenden Hausdurchsuchungen verzeichnet. Die Vorschriften über verschärfte Bewachung lassen nur die Präventivhaft und die Hausdurchsuchung zu und zwar bloß in Fällen, die mit verbrecherischen Handlungen politischen Charakters in Verbindung stehen. Dagegen gebrauchen die polizeilichen und administrativen Behörden diese Vollmacht, trotz des in einem Rundschreiben des Ministeriums des Inneren an sie ergangenen Befehles, sich in dieser Hinsicht genau an den Buchstaben des Gesetzes zu halten, auch in solchen Fällen, die den diesbezüglichen Bestimmungen in den Vorschriften für die verschärfte Bewachung nicht entsprechen, wodurch sie in der Gesellschaft eine Erbitterung gegen die von ihnen ausgehenden Verordnungen hervorrufen. Eine solche Handlungsweise der Administration, die jeden Bürger der Gefahr aussetzt, ohne Grund und Ursache seinerseits einer Hausdurchsuchung oder Verhaftung unterzogen zu werden, kann nicht umhin, die Gemüter in Unruhe zu versetzen. Dagegen züchten solche Hausdurchsuchungen, die meist gar keine vom Standpunkte der polizeilichen Nachforschung wesentlichen Daten zutage fördern, künstlich eine Erbitterung gegen die Regierungsverordnungen, was auf die allgemeine Stimmung durchaus schädlich einwirkt.“

„Nicht weniger häufig, besonders in den großen Städten, sind die Fälle der administrativen Straf bestimmungen im Sinne der Vorschriften über die verschärfte Bewachung wegen Übertretung der Verordnungen der Gouverneure oder Stadthauptmänner, sogar dann, wenn diese Verordnungen sich auf Dinge beziehen, die mit dem Bekämpfen von Störungen der Staatsordnung nichts zu tun haben, wie z. B. allzu rasches Fahren in den Straßen der Stadt, die Nichtbeachtung sanitärer Vorschriften usw. Der allgemeinen Ordnung gemäß müßten derartige Fälle zur gerichtlichen Verhandlung gelangen, was auch sämtlichen Generalgouverneuren, Gouverneuren und Stadthauptmännern im Jahre 1887, infolge einer diesbezüglichen Entscheidung des Ministerkomitees, seinerzeit mitgeteilt wurde. Aber die administrativen Behörden (hauptsächlich in den Residenzen und den übrigen großen Zentren) meinten, dass schon die Prozedur dieser Verhandlung, wie sie bei uns praktiziert wird, in solchen Fällen zu schwerfällig sei und für die rasche, unmittelbar auf die Feststellung einer solchen Rechtsverletzung folgende Bestrafung, die zwecks ihrer Wirksamkeit nicht lange auf sich warten lassen darf, keine Gewähr leiste.“

Somit sind die ipsissima verba des Gehilfen des Ministers des Inneren, der tatsächlich an der Spitze der „Bewachung“ steht, die Bestätigung dessen, dass die Geschichte der Anwendung dieser Gesetze zugleich die Geschichte ihres Missbrauchs ist. Einen überzeugenderen Beweis brauchen wir nicht mehr zu suchen, wir werden der Wahrheit nicht untreu werden, wenn wir behaupten, dass zur Stunde kaum jemand von den Bewohnern des russischen Reiches genau die Schranken der Gewalt der administrativen Behörde ihm gegenüber kennt. Die vom Gehilfen des Ministers angeführten Beispiele sind bezeichnend genug. Ist es nicht monströs, dass ein Apparat, der zum Kampfe gegen den Terrorismus ersonnen und von seinen Urhebern mit Hinweis auf die Fundamentalinteressen des Landes verteidigt wurde, jetzt dazu gebraucht wird, um einen unvorsichtigen Droschkenkutscher oder einen in sanitärer Hinsicht nachlässigen Händler, kurzum all die Leute, die „die amttuende Person“ aus irgend welchem Grunde mit Geldoder Arreststrafe belegen will, zu züchtigen? Wenn man noch dazu erwägt, dass in solchen und ähnlichen Fällen die Berufung gegen das Urteil keineswegs die Ausführung der von der Administration auferlegten Strafe verhindert, und dass die Prozedur der Beschwerdeführung äußerst kompliziert und umständlich ist, so wird man die ganze Rechtlosigkeit der russischen Bürger, die der Wirkung der „Gesetze über die verschärfte Bewachung“ unterworfen sind, klar einsehen. Eine noch traurigere Erscheinung ist die sogenannte „administrative Verbannung“. Geld- und Arreststrafen sind vorübergehende Maßregeln, die in manchen Fällen sehr schädigend wirken können, die aber im allgemeinen eine relativ leichtere Form des Strafverfahrens sind. Die Verbannung dagegen entreißt den Menschen seinem Milieu, zerstört seine sämtlichen Beziehungen und ruiniert ihn gänzlich. Wir werden gleich sehen, welch eine furchtbare Waffe die Administration darin hat, um gegen die ihr unliebsamen Elemente zu kämpfen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das außergerichtliche Strafverfahren