Natürliche Bestandteile der russischen Rechtsordnung

Wir haben bisher nur von den mehr oder weniger außerordentlichen Formen der administrativen Normen gesprochen, die zwar jetzt den Charakter normaler Rechtssatzungen angenommen haben, die offiziell jedoch noch immer als“ extraordinäre“ gelten, die durch die absonderlichen Bedingungen des russischen politischen oder sozialen Lebens hervorgerufen worden sind. Wir müssen jetzt jene Formen der administrativen Repression ins Auge fassen, die als natürliche Bestandteile der russischen Rechtsordnung gelten und fast täglich als etwas ganz natürliches gehandhabt werden. Die Träger dieser Gewalt sind die sogenannten „Semskije Natschalniki“ (Landhauptmänner), die in ihren Händen die richterliche und exekutive Gewalt vereinigen.

Die Institution der „Semski je Natschalniki“ ist zur Regierungszeit Alexanders III., im Jahre 1889, geschaffen worden. Damals war Minister des Inneren der reaktionäre Graf D. A. Tolstoi, der Nachfolger des Grafen Ignatjew und berühmte Vorkämpfer des Klassizismus in den Schulen, der von ihm in seiner Eigenschaft als Unterrichtsminister anfangs der siebziger Jahre eingeführt wurde. Wir haben hier nicht die Möglichkeit, die Geschichte des Gesetzes von 1889 genau wiederzugeben und werden daher bloß die wesentlichen Punkte berühren.


Nach den großen Reformen der sechziger Jahre und der Abschaffung der Leibeigenschaft, war die Verwaltung des Bauernstandes sehr unzulänglich organisiert. Es fehlte an örtlichen Verwaltungsorganen; die kollegienmäßige Ordnung der Polizeibehörden raubte ihnen jede Beweglichkeit und verlangsamte ihre Tätigkeit. Die Regierung konstatierte offiziell die immer größer werdende Misswirtschaft und „Ungebundenheit“ der Landbevölkerung und gelangte zum Schlüsse, dass das beste Mittel zur Bekämpfung dieses Übels die Schaffung einer persönlichen lokalen Gewalt sei, einer „starken“ und „dem Volke nahen“ Autorität. Man plante ursprünglich, dieser Behörde einen Standescharakter zu verleihen, und zwar mit dem neugegründeten Amte der „Semskije Natschalniki“ nur die lokalen adeligen Grundbesitzer zu bekleiden. Es stellte sich jedoch in der Folge heraus, dass diese Art der Komplettierung der Zahl der Landhauptmänner etwas zu schwierig sei, und schließlich betraute man mit dieser Würde hauptsächlich Militärs a. D. und kleine Beamte. Die „Semski je Natschalniki“ vereinigten in ihren Händen die verschiedenartigsten Funktionen. Sie verdrängten vor allem beinahe gänzlich die Institution der Friedensrichter, die durch die Gerichtsstatuten Kaiser Alexanders II. ins Leben gerufen worden, da sie beinahe sämtliche Rechtsbefugnisse der Friedensrichter an sich rissen. Während nun die Friedensrichter für die Dauer von drei Jahren gewählt werden und während ihrer Amtszeit die Privilegien der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit genießen, sind die Landhauptmänner von der Regierung ernannte Beamte und bieten gar keine judiziellen Garantien. Dann fallen dem Landhauptmanne die Funktionen administrativen, polizeilichen und kuratorischen Charakters zu, deren gewissenhafte Ausübung die Kräfte eines einzelnen übersteigen und ihn für die ganze Bevölkerung unerträglich machen. Ihm ist die Fürsorge für die öffentliche Ruhe und Ordnung anvertraut, er hat ferner für die Sittlichkeit der Bauern zu sorgen, für ihre Familienangelegenheiten und den wirtschaftlichen Wohlstand. Seine Vollmacht bezieht sich auf alles, er hat alle Seiten des persönlichen und sozialen Lebens des Bauernstandes im Auge zu behalten. Zugleich ist er mit einer Strafvollmacht ausgerüstet. Er hat das Recht, diejenigen Bauern, die seinen gesetzlichen Forderungen nicht entsprochen haben , ohne jede formale Prozeßordnung zu einer Arreststrafe bis zu 3 Tagen oder einer Geldstrafe bis zur Höhe von 6 Rubeln zu verurteilen. Wenn man in Betracht zieht, dass gegen diese Strafen keine Berufung eingelegt werden kann (der Landhauptmann hat sich ihretwegen nur vor seinen Vorgesetzten zu verantworten), dass sie ferner einige Male nach einander über eine und dieselbe Person verhängt werden können, und dass die „Gesetzlichkeit“ der Verordnung, die ja vom Landhauptmann selbst geprüft wird, ein sehr vager Begriff ist, so darf es nicht wunder nehmen, dass die in ihren Händen liegende, in einem solchen Übermaße verliehene Strafgewalt eine kolossale Bedeutung erlangt hat. Ein Landhauptmann, der aus irgend einem Grund einem ihm untergebenen Bauern nicht gewogen ist, kann ihn auf formal-gesetzlichem Wege durch Arrest- und Geldstrafen gänzlich zugrunde richten, ohne dass ihn jemand daran hindern könnte. Welcher Art die Verordnungen und die Forderungen sind, die an die Bauern gestellt werden, zeigen uns einige Fälle aus der Praxis.

Es wird z. B. verlangt, dass man vor dem Landhauptmann den Hut lüfte, dass man ein bestimmtes Blatt abonniere usw. Das Gebiet des Gewaltmissbrauchs ist hier sehr groß, und es ist ja klar, dass nur die besonders schreienden Fälle solchen Unfugs zur Kenntnis der Vorgesetzten gelangen und nach Gebühr, wenn auch allzu spät, geahndet werden. Die Landhauptmannsinstitution ist somit zugleich das Symbol der Rechtlosigkeit der Landbevölkerung. Kein Wunder also, dass das bestehende Regime darin eine seiner stärksten Säulen sieht und über dieser Brut der reaktionären Politik, die seit 15 Jahren von den Liberalen vergebens bekämpft wird, eifrig wacht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass mit der radikalen Reform der gesamten russischen Staats-Ordnung auch diese Institution spurlos verschwinden wird, ohne von irgend einem Menschen beklagt zu werden, außer etwa den letzten Mohikanern der Reaktion und den verkappten Anhängern der Leibeigenschaft, die sich die Bauern nicht anders als wie Knechte irgend einer Macht vorstellen können . . .

Wir können nicht umhin, zum Schluss auch die Kategorie der administrativen Strafen, welche die leidensreiche russische Presse betreffen, mit einigen Worten zu erwähnen.

Hier betreten wir das Gebiet der Willkür par excellence. Es ist wirklich zu bewundern, wie die russische Presse in der dumpfen Atmosphäre der Willkür und der Rechtlosigkeit nicht nur würdig existieren, sondern sogar sich entwickeln und in ihren besten Vertretern mit Selbstaufopferung der Erziehung des Volkes dienen konnte. Die administrativen Strafen, die über dieses oder jenes Organ der russischen Presse verhängt werden können, sind zahlreich und mannigfaltig. Wie bekannt, werden alle diese Organe in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar in solche, die unter Präventivzensur erscheinen und solche, die von dieser Zensur frei sind. Natürlich treffen die Repressionsmaßregeln hauptsächlich die Organe der zweiten Gruppe, da für diejenigen, welche zur ersteren gehören, durch die Präventivmaßregeln bereits reichlich gesorgt ist. Die härteste Strafe ist die völlige Einstellung (für immer) der schuldigen Zeitung oder Zeitschrift, wobei ihre Herausgeber und Redakteure das Recht verlieren, jemals wieder eine periodische Schrift zu redigieren oder herauszugeben. Um eine solche Entscheidung zu treffen, muss eine besondere Konferenz stattfinden, die aus dem Minister des Inneren, dem Justiz-, dem Unterrichtsminister und dem Oberprokurator des heiligen Synods besteht. Natürlich spielt in dieser Konferenz der Minister des Inneren, dem die Hauptverwaltung für Presseangelegenheiten untersteht, die erste Rolle.

Das Gesetzbuch enthält keine Bestimmungen über die Gründe der Einstellung einer Zeitschrift, noch über die dabei zu beobachtenden Formalitäten. Die Gründe können verschiedenartig sein: die unausgesetzte „schädliche Richtung“, gegen welche andere Maßregeln machtlos waren, aber auch einzelne, in dem Blatte enthaltene gefährliche Aufsätze. So ist z. B. die sehr verbreitete Zeitung „Rossija“ gleich nach dem Erscheinen des bekannten Feuilletons von Amfiteatrow: „Die Herren Obmanows“ eingestellt worden. Eine Berufung gegen diese von der speziellen Konferenz getroffene Entscheidung ist nicht zulässig. Es ist einleuchtend, welche Bedeutung dieses Damoklesschwert, das ewig über dem Haupte eines Herausgebers und Redakteurs schwebt, angesichts der sich um ein Blatt gruppierenden materiellen und geistigen Interessen erlangt, und es ist selbstverständlich, dass diese Umstände für die Unternehmungslust auf diesem Gebiete nichts weniger als förderlich sind.

Die Einstellung eines Blattes für immer ist die äußerste, wenn auch nicht ganz so selten angewendete Maßregel. Aber die Administration hat noch andere „mildere“ Repressionsmaßregeln, die sogar vom Minister des Inneren selbständig angewendet werden können. So z. B. die Einstellung von Zeitungen und Zeitschriften für eine längere oder kürzere Zeit. Diese Maßregel ist um so beschwerlicher, als nach den Zeitungsgesetzen eine Zeitung nach Ablauf der Frist des Verbotes unter Präventivzensur gestellt werden kann. Die Gesamtheit all dieser Bedingungen hat natürlich eine verderbliche Wirkung auf das Schicksal der Blätter, indem sie die Zahl ihrer Abonnenten verringert und ihnen die Mitarbeiter entzieht, die bei einem anderen Blatte Aufnahme suchen. Die letztgenannte Maßregel wird um so häufiger angewendet, je öfter das Blatt dem zeitweiligen Verbot ausgesetzt wurde. Eine mildere Strafe ist das Verbot des Einzelverkaufs. Bis vor kurzem hat man diese Maßregel so aufgefaßt, dass das gemaßregelte Blatt bloß an die Abonnenten verschickt werden dürfe. Für die meistverbreiteten Zeitungen musste ein solches Verbot große Verluste mit sich bringen. Diese Maßregel ist auch nicht ganz den Verhältnissen adäquat und proportional, da manche Zeitungen nur auf Abonnenten, andere wieder nur auf Einzelverkauf rechnen. Erst in der jüngsten Zeit, auf Anregung der fortschrittlichen Zeitung „Syn Otjetschestwa“, über die diese Strafe verhängt wurde, ist in einem Beschluß des Ministerkomitees offiziell anerkannt und erklärt worden, dass das Verbot des Einzelverkaufs sich bloß auf Straßen verkauf, nicht aber auf den Verkauf in der Expedition der Zeitung, in Buchhandlungen und Lesekabinetten beziehe. Auf diese Weise ist das Verbot des Einzelverkaufs wesenlos geworden, da die Zeitung gleich nach dessen Erlaß eine Reihe von Geschäften angeben konnte, wo Einzelnummern zu bekommen seien. Es leiden also darunter bloß die Zeitungsausträger. Diese Deutung der Verordnung ist ja im Interesse der Presse höchst erfreulich, es entsteht aber zugleich die Frage, ob es irgend welchen Sinn hat, eine Maßregel aufrechtzuerhalten, die bloß Nebenpersonen schädigt und auch dem Lesepublikum ganz überflüssige Schwierigkeiten bereitet.

Es gibt noch eine andere Strafe, die offen und unverschämt ihr Ziel, die materiellen Interessen der Zeitung zu schädigen, kundgibt — das ist das Verbot der Inseratenaufnahme. Dieses Verbot erfolgt nicht etwa wegen der Aufnahme zweideutiger und unsittlicher Annoncen, sondern als eine eigentliche Zensurstrafe. Auch diese ist eine ungleichmäßige, da manche Zeitungen nur dank Inseraten existieren können, andere dagegen beinahe gar keine annehmen. Es ist somit klar, dass je verbreiteter eine Zeitung ist, je weiter der Kreis der Personen ist, deren geistige Bedürfnisse sie befriedigen muss, je bedeutender die mit ihrer Existenz verbundenen materiellen Interessen, desto größer und mannigfaltiger der Strafenkomplex ist, über welchen die Administration ihr gegenüber verfügen kann . . .

Ich wiederhole es noch einmal: wenn die russische Presse trotzalledem wenigstens in einigen ihrer Vertreter bisher ihrem öffentlichen Beruf mit Würde dienen konnte, so ist es ein Beweis dafür, dass man den Geist nicht töten kann. Spiritus flat ubi vult. Und dieser freie Geist schwebt auch über der russischen Presse und kein Despotismus, keine dunklen Gewalten werden ihn je gänzlich unterdrücken können.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das außergerichtliche Strafverfahren