Das Gesetz der „administrativen Verbannung“

Das Gesetz der „administrativen Verbannung“ besteht in Russland in zwei Formen: a) als Ausweisung auf administrativem Wege von Personen, die als politisch unzuverlässig gelten, und b) als Ausweisung von Bauern, deren ferneren Aufenthalt die Dorfgemeinde als gefahrbringend für die allgemeine Wohlfahrt und Sicherheit betrachtet. Die erste Art tangiert alle Einwohner Russlands, die zweite nur die Bauern. Die Ausweisung wegen politischer Unzuverlässigkeit wird auf Grund folgender Regeln vollzogen: Die zuständige örtliche Behörde, die sich von der Notwendigkeit der Ausweisung einer in politischer Hinsicht unzuverlässigen Person überzeugt, hat darüber an den Minister des Innern zu berichten und genau die Gründe dieser Maßregel anzugeben, wie auch die Mutmaßung über die Dauer der Ausweisung auszusprechen. Derlei Berichte werden einer besonderen Beratungskommission überwiesen, die sich zu diesem Behuf im Ministerium des Inneren bildet, unter dem Vorsitze eines der Ministergehilfen. Die Kommission besteht aus vier Mitgliedern; zwei vom Ministerium des Innern und zwei vom Justizministerium. Die Beschlußfassungen dieser Kommission werden dem Minister des Inneren zur Bestätigung vorgelegt. Bei der Beratung über einen Ausweisungsantrag darf die Kommission ergänzende Aufklärungen verlangen, ja sogar eventuell die in Betracht kommende Person zur persönlichen Rücksprache vorladen, was übrigens, soweit es bekannt ist, nie praktiziert wird. Die Verbannung wird auf die Dauer von einem Jahr bis zu fünf Jahren bemessen und als Verbannungsort kann eine der Ortschaften des europäischen oder asiatischen Russlands bestimmt werden. Die Verbannung ist gleichfalls mit einer sehr peinlichen Polizeiaufsicht verbunden.*) Die unter Aufsicht stehende Person muss in einem bestimmten Orte leben, darf sich von dort nicht ohne Erlaubnis der zuständigen Behörde entfernen, und muss zu diesem Behuf eine eigens zu diesem Zwecke ausgestellte Paßkarte erhalten. Der Betreffende muss auf die Polizei kommen, sobald man ihn ruft und diese hat das Recht, zu jeder Zeit in seine Wohnung einzudringen und dort Hausdurchsuchungen und Nachforschungen vorzunehmen. Er darf ferner keinerlei Amt bekleiden, keine Stelle als Gründer, Vorsitzender oder Mitglied von Privatgesellschaften und Assoziationen annehmen, jede öffentliche Tätigkeit ist ihm untersagt, sogar die, welche sich auf das Privatleben bezieht, z. B. die Lehrtätigkeit, die Teilnahme an öffentlichen Sitzungen und gelehrten Gesellschaften, der Buchhandel, die Schankwirtschaft usw. Die „Beaufsichtigten“ können nur durch eine spezielle Erlaubnis des Ministers des Inneren schriftliche Arbeiten in Staatsoder sonstigen öffentlichen Institutionen gegen Lohn zuerteilt bekommen, oder zur Ausübung der ärztlichen Praxis zugelassen werden. Der Minister des Inneren kann dem „Beaufsichtigten“ auch verbieten, direkte briefliche oder telegraphische Korrespondenz zu führen, so dass sowohl für ihn bestimmte, wie von ihm abgesandte Briefschaften von den Behörden geöffnet und revidiert werden können. Bei Übertretung dieser Vorschriften unterliegt er einer polizeilichen Arreststrafe, die von den Administrativbehörden bestimmt wird, und zwar: vom örtlichen Kreis- oder Stadtpolizeichef bis zu 3 Tagen, vom Gouverneur bis zu 7 Tagen und vom Minister des Inneren bis zu einem Monat.

*) Vgl. Taganzew: Vorles. über russ. Strafrecht, Bd. II, p. 831 ff.


Die Lage des „Beaufsichtigten“ ist somit furchtbar prekär. Er ist durch eine ganze Reihe von Beschränkungen der Möglichkeit beraubt, seine Arbeit frei auszuüben, oder überhaupt sich Existenzmittel zu erwerben; er ist in irgend ein dürftig bevölkertes abseits gelegenes Krähwinkel verbannt; auf Schritt und Tritt fühlt er den Druck der Administration, die mit unbegrenzter Willkür ausgerüstet ist, und gegen die keine Berufung hilft, und ist keine Minute vor irgend einer neuen rohen Einmischung in sein Leben, vor neuen Strafen sicher. Bei jeder Äußerung seiner Individualität stößt er auf die kleinlichste Kontrolle der Polizei, die ihn oft in die unerträglichsten Situationen bringt.

Wird nun wenigstens das Ziel, das sich das „Reglement“ von 1881 gesetzt hat, erreicht? Auch darauf erteilt uns die Erklärung des Gehilfen des Ministers des Inneren, die er im Januar 1905 im Ministerkomitee abgegeben hat, genügende Antwort.

Es heißt dort: „Die unliebsamen Folgen der Anwendung der Verbannung aus irgend einer Gegend hat sich bereits gleich nach der Einführung der Gesetze über die verschärfte Bewachung in einigen Gouvernements bemerkbar gemacht. Den Personen nämlich, die auf die angegebene Weise ausgewiesen wurden (damals lauter Bürger, die als politisch unzuverlässig galten) wurde nicht gestattet, sich in einer der Gegenden, die gleichfalls unter verschärfter Bewachung standen, niederzulassen. Angesichts dessen blieb den Ausgewiesenen nichts übrig, als sich nach solchen Rayons zu begeben, die sich nicht im Ausnahmezustande befanden, wobei sie zwecks Erwerb von Existenzmitteln sich hauptsächlich in den Gouvernements-Residenzen ansiedelten, wo sie oft mit Gesinnungsgenossen, die die gleiche administrative Strafe erlitten hatten, zusammentrafen. Das Endergebnis war daher häufig, dass die Einwohnerschaft solcher Gouvernementsstädte, in deren Mitte früher keine unzuverlässigen Elemente zu bemerken waren, nun unter dem unheilvollen Einfluß besagter Personen standen, die in ihre neuen Niederlassungsorte die regierungsfeindliche Propaganda einschleppten. Besonders hielt es der Geheimrat Durnowo nicht für möglich, in der Frage der Verbannung nach Sibirien zu verschweigen, dass die Personen, die sich zur Abbüßung dieser Strafe in Kreisstädten oder sogar Dörfern niederlassen, durch ihre Bildung und manchmal auch durch ihren materiellen Wohlstand auf die Masse der autochthonen Einwohner einen großen Einfluss gewinnen. Hier sind die Gründe, die gegen die Niederlassung von politisch unzuverläßigen Personen in solchen Gegenden, die von der Propaganda noch ganz unberührt geblieben, sprechen, in einem noch höheren Maße ausschlaggebend, so dass es nach der Ansicht des Geheimrats Durnowo im Interesse des Staats erwünscht wäre, die Verbannung von der Liste der administrativen Strafen für politisch unzuverlässige Personen wenn nicht ganz zu streichen, so doch wenigstens in ihrer Anwendung einzuschränken.“

Somit hat diese äußerst grausame Maßregel, die oft ganze Existenzen zerstört, die mit unendlichen Drangsalierungen verbunden ist und dazu noch ohne gerichtliches Urteil, sondern einfach auf Grund eines Gutdünkens der Administration angewendet wird, nach dem Geständnis des höchsten Chefs der Polizei nicht einmal den einfachen Polizeizweck, den sie verfolgte, erreicht. Kann man irgendwo ein analoges Beispiel einer solch entschiedenen Selbstverdammung finden?

Die zweite Form der administrativen Verbannung, die Ausweisung lasterhafter oder gefährlicher Bauern, ist teilweise ein Überbleibsel des Leibeigenschaftsrechts, teilweise die Folge der äußerst unzureichenden Resultate der Anwendung der Freiheitsstrafe. Zur Zeit des Leibeigenschaftsrechts stand es den Gutsherren zu, diesen oder jenen ihrer Leibeigenen der Regierung behufs Besiedelung Sibiriens zur Verfügung zu stellen. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft wurde dieses Privileg den Dorfgemeinden überlassen. Zugleich räumte man ihnen das Recht ein, ihre Dorfgenossen, die eine Zuchthausstrafe abgebüßt, nicht wieder aufzunehmen, da sie bereits die Schule des Zuchthauses durchgemacht und also a priori eine Gefahr für ihre Dorfgenossen bedeuten könnten. Im Falle einer solchen erfolgten Aufnahmeverweigerung wurde der betreffende Bauer in Sibirien interniert. Eine solche administrative Verbannung war mit keiner Rechtsbeschränkung verbunden. Die der Regierung übergebenen Bauern wurden mit Weib und Kind nach Sibirien verschickt. Man bestimmte ihnen als Wohnorte die Gouvernements Tobolsk und Tomsk, wobei ihnen die Rückkehr nach Russland untersagt wurde. Diese Verbannung war eine zeitweilige, da die Personen, welche fünf Jahre in ihren Internierungsorten gelebt und sich gut aufgeführt hatten, das Recht erlangten, in andere Gegenden und Gouvernements überzusiedeln, mit Ausnahme der Gegend, aus der sie verbannt waren.

Nach den statistischen Daten, die offiziell vom Justizministerium im Jahre 1900 veröffentlicht wurden, betrug die Zahl der Personen, die auf diese Art in die Verbannung gingen, in der Zeit von 1874 — 79: 1.300 pro Jahr, ohne die mitgegangenen Weiber und Kinder der Verurteilten, von 1882 — 1891 betrug die Gesamtzahl der Verschickten 11.422 Personen, im Jahre 1892: 1.208, 1893: 2.469, 1894: 2.674, 1895: 2.938.

Im Jahre 1900 ist das Recht der Bauern, die Mitbewohner ihres Dorfes der Regierung behufs Verschickung nach Sibirien auszuliefern, wesentlich eingeschränkt worden. Ihr Recht, die Bauern, die eine Zuchthausstrafe erlitten haben, nicht in ihre Gemeinde aufzunehmen, ist gänzlich aufgehoben worden. Das Recht der „Entfernung“ der Mitglieder der Dorfgemeinde, die das Gemeinwohl des Ortes gefährden könnten, ist ihnen zwar belassen, aber mit vielen Klauseln versehen worden, um die innere und äußere Gesetzlichkeit dieser Maßregel zu wahren und den Umfang ihrer Anwendung einzuschränken. Es ist hier nicht der Platz, all diese formalen Bedingungen und Verklausulierungen auseinanderzusetzen, wir wollen bloß bemerken, dass sie infolge ihres rein formalen Charakters kaum eine praktische Bedeutung erlangen können.

Das administrative Verbannungsrecht der Bauern — gleichsam ein Vorbild für die französische „relegation“ — ist eine ganz autochthone Erscheinung. Man konnte eine Zeitlang mit ihr auskommen, ohne dass ihr Schaden besonders aufgefallen wäre. Aber mit der Entwicklung der freien Kolonisation Sibiriens einerseits und dem immer bewußter werdenden Verhältnis der Regierung zu den Aufgaben der kriminalistischen Tätigkeit anderseits ist die Bedeutung der administrativen Verbannung gesunken und nur die gewöhnliche Zaghaftigkeit und Unentschlossenheit der Regierungsorgane erhalten diese Institutionen noch am Leben. Es ist jedenfalls schwer anzunehmen, dass diese Verbannungsart noch lange in unserem Kodex weiter existieren wird.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das außergerichtliche Strafverfahren