Realität und Wesen im ästhetischen Schein

Wenn der Mensch sich zum ersten Mal die Schönheit der Dinge zum Bewusstsein bringt, bezieht er sich nicht mehr zur Realität derselben, sondern zu ihrem Wesen. Allerdings besteht die Erkenntnis dieses Wesens nicht in der begrifflichen Heraussetzung, sondern sie ist ein gefühlsmäßiges Gemessen, bei welchem die logischen Beziehungen selbst unter der Schwelle des Bewusstseins verharren und nur ihr Dasein als vorhanden empfunden wird. Wir können hier nicht umhin, auf ein wunderbares Begebnis von sehr tiefer Bedeutung aufmerksam zu machen: dass nämlich der Mensch erst dann das Wesen der Dinge ahnt, wenn er von ihrer Realität absieht. Es scheint uns fast eine heimliche Gerechtigkeit zu sein, die Mensch und Welt austauschen, wenn diese sich selbst zu erschließen beginnt, nachdem jener aufgehört hat, sie als praktisches Mittel für seine Zwecke anzusehen. Die Tatsache, dass der Schein das Wesen verkündige, während die Realität nichts von ihm wissen lasse, ist befremdend und fast wunderbar. Aber solange der Mensch sich praktisch zur Realität verhielt, konnte er nur denjenigen dinglichen Formen seine Aufmerksamkeit schenken, welche eine Beziehung zu ihm und zu seinem individuellen Zweck ermöglichten. Gerade dadurch konnte er niemals unbefangen auf das in sich gegründete, selbständige Wesen eingehen, welches immer eine Befreiung von dem Nützlichkeitstriebe fordert. Der Holzfäller wird den Baum nur prüfen, um nach dessen Stärke und Widerstandskraft seine Vorbereitungen zum Fällen zu bemessen, der Tischler nur, sofern er geeignet ist, dauerhafte Gebrauchsgegenstände daraus zu fertigen, der Botaniker nur, sofern er an ihm Merkmale entdeckt, welche seine bestimmte Rubrizierung begünstigen und rechtfertigen. Aber keiner unter diesen wird das Wesen dieses Baumes begriffen haben, weil jeder unmittelbar nur das von ihm wahrnimmt, was ihm dienlich scheint. Alle realen Beziehungen sind notwendig einseitig, weil sie bestimmt sind vom individuellen Zweck und Nutzen. Im Gegensätze hierzu gibt die sinnliche Erscheinung die harmonische Totalität aller in dem Dinge herrschenden Beziehungen, ohne eine zu verschweigen und zu unterdrücken um eines momentanen Zweckes willen. Wer sich dieses ganz deutlich machen möchte, vergleiche den Erkenntnisgrad des Holzfällers, Tischlers und Botanikers mit seinen eigenen Empfindungen, die ihn überkommen, wenn er sich etwa still in das Anschauen einer eben blühenden Kastanie vertieft, wenn er sich die nahezu geometrisch reinen Formen dieses riesigen blühenden Blumenstraußes in seiner prangenden Üppigkeit zum Bewusstsein bringt! Wir finden hier eine der tiefsinnigsten Erkenntnisse der Metaphysik bestätigt: die Realität fügt dem Wesen der Dinge nichts hinzu, wenn wir unter diesem die inhaltliche Logizität verstehen. Das Phänomen der Schönheit, der sich im Schein offenbarenden Wesenheit ist genügend, um die letzten Aufschlüsse über die Realität zu geben: denn es beruht allein auf der Tatsache, dass die Realität nichts Wesentliches, nichts inhaltlich zu bestimmendes, Logisches ist — eine Erkenntnis, die schon Kant ausgesprochen hatte, die aber von Hartmann zu einem Grundsatz seiner Metaphysik erhoben wurde *). Wie könnte der Schein der Dinge schön sein, wenn die Realität ihr Wesen wäre?

*) Vgl. ,,E. v. Hartmanns phil. System i. Grundriss“ von A. Drews. S. 127, f. Wer einigermaßen mit der Geschichte der neueren Philosophie vertraut ist, wird wissen, dass in dieser Erkenntnis das Grundproblem alles Denkens seit Cartesius, oder noch mehr: seit Spinoza ausgesprochen ist. Denn dieser ganze Denkprozess bis heute ist nur verständlich als ein immer wieder gewagter Versuch, auch das Sein und das Dasein mit rein logischem Denken zu erreichen und zu ergründen, der Irrtum, als sei mit dem inhaltlichen Wesen und „Begreifen“ der logisch-immanenten Begriffe das Dasein selbst erfasst. Das ganze Problem wurde zuerst von Schelling historisch deutlich verstanden (vgl. „Münchener Vorlesungen“, Dürr, 1902), um zugleich auch durch ihn gelöst zu werden. Diese Einsicht ist sehr wichtig, weil erst durch sie die Ästhetik als Wissenschaft zur Möglichkeit wurde; denn der ästhetische Grundbegriff des Scheins ist nur haltbar, wenn er einen Gegensatz bedeutet zu einem existierenden Dasein, welches wiederum nur möglich ist als nicht mehr zu denkendes und vorzustellendes, d. h. nicht mehr logisch zu begreifendes Sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur