Die Überwindung der Zivilisation

Wir haben den Menschen in dem Augenblick der Verwirklichten Zivilisation verlassen, als es sich des Illusorischen und Unwürdigen seines Zustandes bewusst zu werden begann. Unfähig, die Dinge anders als unter dem Gesichtswinkel ihrer möglichen Nutzbarkeit anzusehen, konnte der Mensch niemals dazu gelangen, das Wesen der Dinge, noch seiner selbst, noch außerpraktische Beziehungen zwischen beiden Teilen zu erkennen. Solange der Wille des Menschen die Dinge begehrte, stand er ihnen innerlich nicht frei gegenüber, solange konnten sich ihm die Dinge nie offenbaren, nie durch ihre innewohnende Wesenheit auf ihn wirken. Die erste Bedingung, der Zivilisation wahrhaft zu entgehen, muss mithin der Bruch mit dem praktischen Verhalten sein, die Herstellung eines Verhältnisses, welches wohl eine innere Beziehung der Dinge zu dem Menschen zulässt, aber nicht durch die praktische Begehrlichkeit des menschlichen Willens zerstört und getrübt wird. Der Bruch mit der Zivilisation ist der Bruch mit dem praktischen Verhalten, und der erste Schritt, der über die Zivilisation hinaus gewagt wird, bedeutet die Verneinung desjenigen Zustandes, der zu seiner Zeit den Menschen der Natur entfremdet und ihn zur Zivilisation befähigt hatte: die Beziehung zur Natur als zu einem praktischen Mittel. Wir hatten gesehen, dass das Wesen der Zivilisation auf der Selbstzwecksetzung des Menschen beruhte, deren entsprechendes Korrelat die praktische Mittelbarmachung der Natur war. Will der Mensch den verhängnisvollen Folgen dieses Schrittes entgehen, so muss er notwendig zuerst die Wiedereinsetzung der Natur in ihre ehemaligen Rechte vollbringen, d. h. dieselbe wiederum als Selbstzweck zu würdigen lernen.

Der Mensch der Zivilisation vermochte dem reinen Dasein der Dinge, welches von allen realen Äußerungsweisen abgezogen ist und gleichsam beziehungslos in sich verharrt, keine Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Jedes Ding war gerade nur insoweit dagewesen, als es eine praktische Bezogenheit zu den menschlichen Zwecken ermöglichte, und abgesehen von dieser Brauchbarkeit besaß es kein Dasein für ihn. Nicht das Ding, sofern es war, nicht ein wesenhaftes Dasein als ein ruhevoll in sich berechtigtes, durch sich selbst entschuldigtes Leben war von Bedeutung, sondern nur eine seiner physischen Eigenschaften, welche dem Menschen zu irgend einem Behufe nützlich erschien. Die erste positive Aufforderung zu einem neuen, geläuterten Verhalten wird daher das Zugeständnis eines in sich beruhenden Wertes der Dinge voraussetzen, die Anerkennung ihrer eigenen Selbständigkeit und Zweckmäßigkeit. Erst wo der ‘Mensch das Dasein der Dinge als ein ruhiges Spiel sich entfalten lässt, „da die Kräfte miteinander spielen und sich in ihrem Liebesspiel und Ringen also selber offenbaren, finden und empfinden“, wo er somit ihr Mittelbarkeitsverhältnis wieder auflöst, — erst da ist die Möglichkeit eines neu entstehenden Verhältnisses zur Welt gegeben. Der Mensch war in den Zustand der Zivilisation getreten, indem er den Dingen ihre eigene Zweckmäßigkeit entriss — es ist billig, dass er mit der Zurückgabe derselben sich und die Dinge wieder reinige und hierdurch die Zivilisation wahrhaft überwinde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur