Das theoretische Verhalten

Wenn das Wesentliche des ästhetischen Verhaltens darin beruhte, dass der Mensch von der realen Natur der Dinge absah, um in der reinen Scheinhaftigkeit derselben ihre Gesetzmäßigkeit und wesentliche Teleologie zu erkennen, so muss die begriffene Logizität des Scheins zum Ansporn dienen, nun auch in der Realität der Dinge eine solche zu finden. Damit erweist sich das ästhetische Verhalten als eine Übergangsstufe vom rein praktischen, welches die individuellen Eigengesetze der Gesamtheit verkennt, zum theoretischen Verhalten, welches durch den Schein mittelbar verursacht worden ist, auch an die Logizität der Realität zu glauben. Wenn sich im Zustande der Zivilisation das menschliche Interesse angeekelt von dem realen Sein abgewandt hatte, um sich ganz der sinnlichen Erscheinung der Naturtotalität zuzuwenden, so findet es jetzt seine verlorenen Beziehungen zur dinglichen Realität wieder, um das Vermögen einer neuen Freiheit, d. h. der Abstraktion vom praktischen Nutzen, bereichert. Auf der Stufe einer höheren Synthese wagt es der Mensch, sich wieder auf das reale Dasein der Dinge zu beziehen, nachdem er erst von ihr absehen lernen musste, um dem Wesen derselben gerecht werden zu können. Dieses neue, theoretische Verhalten hat mit dem ästhetischen das gemein, dass es auf praktische Beziehungen Verzicht leistet, und es findet sich zum zivilisatorischen Verhalten insofern zurück, als es sich, wie dieses, in Relation zur objektiven Realität der Dinge zu bringen versucht. So hat der Mensch, befreit von den Fesseln des praktischen Verhaltens, den Weg langsam wieder zurückgefunden zu der wirklichen Natur und er beginnt, gereinigt durch sein Verweilen im reinen Schein, sich abermals der Realität zu nahen, die er jetzt als die Behausung in sich zweckvoller Entelechien oder innewohnender Ideen kennen gelernt hat.

Das Wesen der Dinge ist ihr logischer Gehalt, die Sämtlichkeit der in ihnen vorhandenen Gesetze. Konnte sich das ästhetische Verhalten noch damit begnügen, dieses Wesen als die innewohnende Form zu ahnen und deren Inhalt nicht von der sinnlichen Erscheinung getrennt zum Bewusstsein zu erheben, so hat im theoretischen Verhältnis der abstrakte Aneignungstrieb des Menschen soweit die Oberhand gewonnen, dass die bewusste Heraussetzung der immanenten Beziehungen als die höhere, gleichsam esoterische Aufgabe erscheint gegenüber dem sich widerstandlos dem sinnlichen Eindruck hingebenden Traum des künstlerischen Genießens. Eben hiermit beginnt sich aber der Mensch eine unendliche Aufgabe zu stellen. Die allgemeine Logizität voraussetzend, deren bewusste Auseinandersetzung und Entwicklung in der Form menschlicher Begriffe zu versuchen nunmehr den eigentlichen Zweck der Wissenschaft darstellt, sucht er diese auf die letzten, abstrakten, gemeingültigen Ausdrücke zurückzuführen. Die Frage, welche der Mensch hierbei an die Dinge stellt, ist diejenige nach ihrem „Warum“, nach ihrem kausalen Auseinanderhervorgehen und der gegenseitigen Bedingtheit, die überall gesuchte Erkenntnis des zureichenden Grundes einer natürlichen Erscheinung, die wir als Wirkung anzusehen genötigt werden durch eine apriorische Funktion der immanenten Kausalitätskategorie. Indessen vermag die Antwort auf dieses „warum“ durch das Aufzeigen der einer bestimmten Wirkung unmittelbar vorausfolgenden Ursachen den Menschen allein nicht zu befriedigen. Mit dem Hinweis auf die bloße Tatsächlichkeit der vorhandenen Bedingungen ist das folgende Ergebnis durchaus noch nicht eindeutig bestimmt: es genügt nicht, zu wissen, dass Wasserstoff und Sauerstoff vereinigt die zureichenden Bedingungen führt das Zustandekommen des Wassers bedeuten, denn beide Elemente können auch die Erscheinung des Knallgases hervorrufen. Dies führt nun zu der näheren Bestimmung durch die Art und Weise der Beziehungen, durch die Modalität, das „wie“ der aufeinander bezogenen Faktoren.


Erst wo das theoretische Verhalten einen Einblick erhält in die zureichenden Bedingungen für das Zustandekommen eines Phänomens und in die Modalität der waltenden Beziehungen, erst wenn das „warum“ und das „wie“ in gleicher Weise beantwortet wird, bietet es dem Menschen eine Erkenntnis realer Vorgänge. Abstrahiert die Wissenschaft von der Realität kausaler Vorgänge vollständig und widmet ihre Aufmerksamkeit ausschließlich der Beziehungsmodalität, so ist sie eine rein formale, wie die Logik und die Mathematik. Je mehr der kausalen und logischen Beziehungen in der Welttotalität von der Wissenschaft begrifflich reproduziert werden, desto reicher und ausgedehnter wird diese selbst. Wie jeder sich entwickelnde Organismus unterscheidet sie sich daher in eine Menge von Einzelwissenschaften, deren jede in einer gewissen, nur ihr gemäßen Beziehungsart zu den Dingen steht. So fragt die Geometrie nur nach den räumlichen Beziehungen, die Physik nur nach den dynamischen, die Biologie nach den organischen. Infolgedessen entwickelt jede Wissenschaft nur eine bestimmte, für sie in Betracht kommende Folge von Beziehungen, unter der Abstraktion von allen andern möglichen. Die Mathematik sieht von aller Inhaltlichkeit ab, wogegen die Historie ganz inhaltlich ist. Jede besondere Wissenschaft entnimmt dem unendlich kleinen Bruchteil logischer Beziehungen, welche dem menschlichen Bewusstsein überhaupt gegönnt sind zu entwickeln, wieder nur einen sehr geringen Teil, und zwar gerade denjenigen, welcher sich ihrer prinzipiellen Voraussetzung einordnet. Je mehr die Wissenschaft ihrem eigensten Berufe nachgeht, um die Wesenheit der Dinge mit all ihren logischen Beziehungen begrifflich nachzudenken, desto mehr muss sie sich gliedern und in sich selbst zersplittern. Jede Einzelwissenschaft muss demnach in eben dem Masse von einer größeren Summe möglicher Beziehungen in den Dingen absehen, als die Zahl der Einzeldisziplinen zunimmt. Je mehr die Wissenschaft sich selbst gerecht wird, je reicher und je ausgedehnter sie das Netz der den Dingen innewohnenden Gesetze begrifflich festhalten will, in desto mehr prinzipielle Abteilungen muss sie sich spalten und von der wahren Gesamtheit aller Beziehungen entfernen. Jede Wissenschaft verfolgt schließlich als ihr ideales Ziel den einzigen unerreichbaren Zweck, eine einzige Beziehungsmodalität zu erschöpfen unter der wissentlichen und beabsichtigten Abstraktion von allen übrigen Modalitäten, die doch erst in ihrer Gesamtheit ein Bild des kosmischen Beziehungsnetzes ergeben. Mit anderen Worten: die Wissenschaft, davon ausgehend das Wesen der Dinge zu explizieren und nachdenkend zu ernennen, entfernt sich mit ihrer fortschreitenden Entwicklung mit sicherer Notwendigkeit von diesem Ziel, denn je näher ihre Gesamtheit einer adäquaten Darstellung der logischen Gesetze kommt, desto ferner steht sie als Einzelne diesem Wesen, ein desto unmöglicheres Werkzeug bedeutet sie als Totalität für den Menschen, um die Dinge sinnreich zu begreifen.

Der Mensch, der den schönen Schein verließ, um das Wesen der wahrgenommenen Dinge näher und bewusster zu ergründen, treibt bald auf dem weiten Ozean abstrakter Wissenschaften, deren jede ihn von der heimatlichen Erde des wahren Wesens mehr entfernt und deren Gesamtheit er sich doch nicht zu bemächtigen vermag. Die Wissenschaften, die aber als solche aufgehört haben, ein Mittel für den menschlichen Aneignungstrieb zu sein, überliefern den Menschen ebensosehr dem Chaos, wie die nie ruhenden Begehrungen seines Willens, welche durch die Illusion aufgeregt wurden. Wenn die Wissenschaft daher nichts Anderes wäre als die Summe der Einzelwissenschaften, dann müsste der Mensch nicht nur verzweifeln, jemals eine Idee von dem wahrhaften Wesen der Natur zu erhalten, sondern er müsste dem gefährlichen Spiel seines Erkenntnistriebes mit aller Energie zu entfliehen suchen, damit er durch dasselbe nicht abermals dem Chaos überantwortet würde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur