Das religiöse Verhältnis

Wir haben den Gang des theoretischen Verhaltens da unterbrochen, wo die Philosophie als die Lehre vom all-einen kategorialen Subjekte zur ontologischen Theologie wurde, das heißt, wo sie ihre Beziehungen zu einer abermals veränderten Lebensäußerung des Menschen, zur Religion, enthüllt. Bestünde die Religion nur aus dem theoretischen Verhalten des wissenschaftlichen Erkennens, so fiele sie genau zusammen mit der ontologischen Metaphysik in der Philosophie, und jene wäre als Theologie im Sinne Hegels Religion. In der Tat ist es nicht zweifelhaft, dass die Lehre vom religiösen Objekte, von Gott, in jener Religion, die wir einer zukünftigen Menschheit wünschen, genau identisch sein muss mit dem metaphysischen Wesen der Philosophie. Freilich setzt diese Behauptung einen Fall voraus, der nur einmal im Verlaufe der Menschheitsgeschichte zur Tatsache werden durfte: eine metaphysische Lehre, die in ihrem Prinzip allseitig anerkannt würde als die schlechthin allein richtige und unantastbare. Die Religion der Zukunft, sofern sie in ihrer Gotteslehre die endliche Versöhnung mit der Philosophie feiern soll, muss die Folge einer unwidersprechlichen Metaphysik sein, die in der Geistesgeschichte des dritten Jahrtausends etwa dieselbe Rolle übernehmen würde wie die Dreieinigkeit Plotins im Christentum und in der Mystik des ersten und zweiten: ein Grund, der für das menschliche Denken in seinen wesentlichen Bestandteilen unaufhebbar und unüberdenkbar wäre. Wenn wir, eine Philosophie besäßen, deren Grundgedanken so ewig wären wie die Menschheit selbst, die mit ihr anhuben, um dereinst mit ihr unterzugehen, die infolgedessen auch die Wahrheit aller Philosopheme in sich schlösse, so wäre die Bürgschaft gewonnen, dass sie zum Plotinismus der Religion der Zukunft würde: eine Tatsache, die wir nicht anstehen, in einigen Grundgedanken der Hartmannschen Metaphysik erfüllt zu finden*).

*) Wem diese Ansprüche der Hartmannschen Philosophie in ihren Grundgedanken zu übertrieben erscheinen, der lese genaueres nach über ihre synthesierende Kraft, uralte mythische Gedanken des Menschen, zum mindesten der arischen Menschheit, wissenschaftlich zu gestalten; der „Grundriss“ von A. Drews belehrt hier vorzüglich (vgl. S. 150 f. daselbst).


Indessen ist mit dieser Möglichkeit, dass die Philosophie die Elemente einer religiösen Seinslehre darböte, ihre unmittelbare Bedeutung für die Religion auch vollständig erschöpft. Denn die Religion ist mehr als ein theoretisches Verhalten. Wenn wir als die Triebkraft aller bisherigen Entwickelungen den menschlichen Willen verfolgt haben von seiner Befreiung von der Naturabhängigkeit bis zu seinem befreienden Bewusstwerden in der wissenschaftlichen Erkenntnis, wenn wir die ganze Geschichte des Menschen als den Prozess seiner Emanzipation unter den verschiedensten Veränderungen bestimmen durften, so tritt uns in der Religion dieser Befreiung heischende metaphysische Grundtrieb des Selbstes als der Wille zur Erlösung entgegen. Der Wille zur Bewusstwerdung, nach der Freiheit im Selbstbewusstsein, erweist sich hier als nichts Letztes. Das ganze bisherige Geschehen vom Verlassen des zivilisatorischen Zustandes war ein reiner Erkenntnisprozess. Die Entelechie, der den Dingen immanente Träger ihrer logischen und gesetzmäßigen Beziehungen, ihr intelligibler Archon war zuerst das sinnlich verhüllte Objekt des ästhetischen Verhaltens, die ästhetische Idee *), um in der Wissenschaft und Philosophie nach und nach auch als dem Menschen innewohnendes Subjekt der Kategorien oder als unbewusstes, schöpferisches Selbst erkannt zu werden. Von dem Inhalte und der Realität des Bewusstseins ausgehend, war der Mensch durch zwei Phänomene gezwungen worden, die wirkende Realität jenseits dieses Bewusstseins zu suchen: einmal wissenschaftlich durch die Forschung nach dem Ursprünge und Träger der Kategorien, das anderemal ethisch-praktisch durch das Mysterium der Sittlichkeit, welches auf einen unbewussten, verborgenen Träger der moralischen Gesinnungsumwandlung schließen ließ. Beide Erkenntnisse drängten zu einer überall identischen Einheit: in dem Objekte des ästhetischen Verhaltens, der sinnlich erscheinenden Idee, in dem Subjekte der kategorialen Funktionen und in dem Träger des sittlichen Bewusstseins wurde eine einzige, umfassende Wesenheit erkannt, die als verwirklichendes Prinzip in der Welt tätig war. Die Realität in der Natur und die Realität im Menschen fiel demnach zusammen in ein gemeinsames unbewusstes Reale, welches zur Bewusstwerdung seiner selbst zu drängen schien. Bis hierher konnte sich der Mensch genügen lassen an der zunehmenden Widerspiegelung des metaphysischen Unbewussten, er konnte sein Genüge daran finden, ein immer treuerer Gottesspiegel zu sein, immer mehr Erkenntnisreflexe aus dem Unbewussten in sich bewusst werden zu lassen und dadurch diesem zur Freiheit zu verhelfen.

*) Ich verstehe hier wie überall die Idee weder im Sinne Platons, noch Plotins, noch Kants oder Schopenhauers, sondern nach dem Vorgänge Hegels und Hartmanns als das formale logische Prinzip der überall daseienden kategorialen Gesetzmäßigkeit.

Aber das Unbewusste, welches sich nur im Bewusstsein des Menschen bricht und ideell reflektiert, ist damit noch nicht befreit. Indem es gebrochen in die Form des menschlichen Bewusstseins eingeht, büßt es gleichzeitig seine Realität ein. Wohl gelangt es gleichsam vom untersten und dunkelsten Grunde an die Oberfläche, einer Blase gleichend, die aus dem Kreise eines tiefen und schwarzen Teiches auftaucht und oben eine Weile einsam schillernd und sprühend im Sonnenscheine zittert, bis sie gestaltlos und realitätlos zerplatzt. Das Unbewusste, oder vielmehr sein Inhalt im menschlichen Bewusstsein ist nicht mehr, es wirkt nicht mehr, sondern es hat seine Bewusstwerdung einlösen müssen mit dem Verluste seiner Realität, seiner aktuellen und schöpferischen Wirksamkeit. Das Denken und das Bewusstsein sind nicht eins, der gedachte, vom Menschen vorgestellte Gott ist nicht mehr die göttliche Wirklichkeit. Sofern die Befreiung des Unbewussten identisch ist mit ihrer immer mehr adäquaten inhaltlichen Erkenntnis im Bewusstsein, ist sie unvollendet, weil nur ideell und nur die intelligible Inhaltlichkeit und Logizität passiv in sich auffangend, während das Unbewusste überall durchströmt ist von dem unrastigen Trieb der Realität, vom Willen: ein Beweis hierfür ist eben die Religion als die Sehnsucht nach realer Erlösung, d. h. nach einem heiligen Leben, nicht nach einer Erkenntnis. Wäre im Erkennen die menschliche „Selbst“-Befreiung vollzogen, so wäre die Religion ein überflüssiges Verhalten, denn das Erkennen ist erst der Anfang des religiösen Lebens. Aber Gott will mehr, als nur erkannt sein, Gott will sein, er will sich durchsetzen, er will nicht Freiheit im Sinne der Bewusstheit, sondern er will Erlösung, d. h. die Umgestaltung der Wirklichkeit nach dem Masse seines Erkannt-Seins. Die göttliche Realität, die mit dem Vorgänge des Bewusstwerdens erlischt, will durch die Bewusstwerdung wieder erzeugt und wirksam werden. Die bloße bewusste Erkenntnis lässt in Gott einen heimlichen Rest, der nie zu Gedanken werden kann, der selbst kein Gedachtes und zu Denkendes ist, sie lässt einen Teil Gottes vor den Toren des Menschen stehen, vergeblich um Einlass dringend. Aber dieser göttliche Ungrund will ebenso offenbar werden, wie die unbewusste Idee im menschlichen Bewusstsein. Nirgends war daher die menschliche Sprache tiefer als da, wo sie für diese Erlösung heischende Realität den Namen Gott erfand, der in der arischen Rasse ,,der Verborgene“ bedeutet. Denn was konnte dem menschlichen Bewusstsein so schlechthin verborgen sein als die wirkende Realität des objektiven Geistes?

Dieser göttliche Rest, die Realität, kann im Menschen nicht mehr erlöst werden im Gedanken, sondern nur wieder durch Realität, d. h. durch das Wollen. Hier ist die Erklärung für die Tatsache, dass der Mensch in der absoluten Stille der Betrachtung und des Schauens nicht verharren kann, dass er selbst das Schauen sich nicht ausdenken kann, ohne die stetige Flucht gewollter schauender Augenblicke, die Tätigkeit eines schauenden Willens vorzustellen. Jedes wahre Erkennen ist ein Moment seligen Schauens, und vielleicht tat das menschliche Denken gut, es als zeitloses Schauen zu deuten, um einer höheren Wahrheit dadurch teilhaftig zu werden. Aber das Leben schleudert den reinen Denker in die mahlende Flucht der Zeitlichkeit zurück, eben weil es mehr ist als das reine Denken: nämlich Wollen. Die Ergebnisse des zeitlosen Denkens strömen in die kreisende Zeitlichkeit des aktuellen Werdens zurück und werden von der lebenden Realität gebieterisch gefordert zum Inhalte. Und weil das Unbewusste Wille ist, muss auch der Mensch immer wollen, und weil Gott erlöst werden will, kann der Mensch dessen Wunsch nur erfüllen im Wollen. Diese Erfüllung geschieht, indem der menschliche Wille zum Vollstrecker der im Bewusstsein geoffenbarten Gedanken Gottes sich heiligt.

So bedeutet der Begriff der Erlösung, die Grundtatsache aller Religion: der ohne Bewusstsein wirkende Gott will mit Bewusstsein tätig sein, d. h. im Menschen zu sich selbst gekommen, als Gottmensch die Welt gestalten. Hier liegt der metaphysische Sinn des Christentums, die Idee des Jesus von Nazareth und das geheimnisvolle Dasein der Gottmenschheit. Gott will Mensch, d. i. Bewusstsein werden, um mit Bewusstsein wirken zu können. Das Christentum konnte dieses Phänomen nie erklären, weil es das göttliche Bewusstsein vor die Tatsache der Menschwerdung setzte, statt nach und hinter dieselbe. Der Verlauf des menschlichen Entwicklungsganges ist mithin die Befreiung Gottes — nicht die Freiheit; seine Erlösung, nicht Erlöstheit. Der Kern der Religion ist nicht Gotteserkenntnis, sondern die Lebensgestaltung nach den Ergebnissen dieser Erkenntnis. Metaphysisch liegt der Schwerpunkt alles religiösen Daseins im Willen, in dem im Menschen sich seiner selbst bewusst gewordenen Wollen der bewusstlosen Gottheit. Wenn der Mensch anfängt, die Ziele und Wünsche seines Schicksals zu erraten und fortan sich selber opfernd preisgibt, um jenem zur Wahrheit und Wirklichkeit zu verhelfen, wenn ihm das Dasein seines bewusstlosen Selbstes als der innewohnende Gott zum Bewusstsein gelangt, hat er begonnen, ein religiöser Mensch zu sein. Aber erst wo die ganze Wirklichkeit in jeder ihrer Beziehungen bestimmt ist durch diese religiöse Tatsache, erst wenn das Leben in all seinen Ausdrucksformen zu einem einzigen umfassenden Gottesdienste geworden ist, erst „wann diese Periode sein wird, dann wird auch Gott sein“.

Das Wesen einer solchen Religion, die in Wahrheit eine Kulturreligion sein würde, bestünde demnach in dem Fehlen irgend welcher vermittelnden Personen zwischen dem Geiste des Menschen und dem Geiste Gottes — sei der Vermittler ein Heiliger wie Jesus von Nazareth und Franziskus von Assisi oder der Priester irgend einer Kirche. Die Religion der Kultur, eine solche, die eine Kultur erzeugen könnte, bedürfte keiner Kirche und keines Gottesdienstes, einfach deshalb, weil sie das gesamte Leben in all seinen Ausdrucksformen in den Bann ihrer selbst zu ziehen hätte. Der große Gottesdienst wäre das pflichtbewusst gestaltete Menschenleben selbst, die einfache Erfüllung eines jeglichen Anteils an dem notwendigen Tun der gemeinsamen Kultur-Menschheit. Wenn fast alle historischen Religionen die ganze Kraft der Völker, welche der Verwirklichung der Kultur gehören sollte, in Anspruch nahmen durch ihre dem Leben immer mehr oder weniger entfremdete Besonderheit, so stände diese neue Religion mitten in den Konflikten der Wirklichkeit, den Menschen nicht von der Ausübung seines Werkes entfernend, sondern ihn stündlich durch die Erkenntnis neuer Zwecke und neuer Möglichkeiten zu dieser auffordernd. In diesem Sinne allein ist Religion ein Leben — aber nicht dasjenige einer Persönlichkeit der Historie, wie so Viele heute wähnen, sondern unser eigenes Leben, von uns selbst im schmerzlichen Alltage gelitten. Eine Religion, die deshalb des Mittlers bedarf, die einer Kirche benötigt, kann nie und nimmer diese geforderte Religion der Kultur sein. Darum würde auch hier der Kampf zuerst entbrennen müssen, wenn man sich einmal zur Kultur oder zum Untergang rüsten wollte.

So hätte die Religion den Zauberkreis geschlossen, in welchem sich der Mensch seit seinem Verlassen der Zivilisation befunden hatte. Aber indem sie ebenso mit dem theoretischen Verhalten bricht, wie dieses zu seiner Zeit dem praktischen entsagt hatte, kehrt sie synthetisch zu der ursprünglichen Verhaltungsweise des Menschen zurück, die eine praktische war. Mit der Abstraktion von aller praktischen Bezogenheit zur Realität der Dinge hatte der menschliche Befreiungsprozess begonnen. Im ästhetischen Scheine verzichtete der Mensch sowohl auf die praktischen Beziehungen als auf die Erkenntnis der Realität, indem er anstatt der Dinge ihre sinnliche Erscheinung in seinem Bewusstsein zum Objekt erhob. In der Wissenschaft durfte er wenigstens wieder seine Beziehung zur objektiv seienden Realität herstellen, wenn auch noch unter dem Verzicht aller praktischen Handlungen und Äußerungen. Erst in der Religion hat er sich auf dem weiten Umwege der Abstraktion der Naturtotalität mit Einschluss seiner Beziehungen zur übrigen Menschheit soweit genähert, dass er abermals seinen letzten Zweck in seinen praktischen Beziehungen erkennen darf. Aber diese durch lange Irrfahrt geläuterte Beziehung des religiösen Menschen ist im Vergleich zur Zivilisation die höhere Synthese, eine Beziehung, welche nicht mehr das menschliche Selbst in seinen letzten und höchsten Kundgebungen aus-, sondern einschließt. Erst in der Religion wird der Mensch mithin befähigt, eine neue, eine erlösende Wirklichkeit, nur nach den Gesetzen seiner Selbstheit zu gestalten. Diese neue Wirklichkeit ist aber die Kultur.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur