Das ästhetische Verhalten als Befreiung

Aber es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, vom Schein und der Schönheit zu reden*). Was uns hier angeht, sind nur die allgemein menschlichen Folgen dieses wichtigen Augenblicks, wo der Mensch den Schein der Dinge auf sich wirken lässt. —

*) Wer Genaueres über diese wichtigste ästhetische Kategorie erfahren will, sei, da die Andeutungen Kants hierüber zu beiläufig sind, auf Schillers „Briefe über die ästh. Erz.“, insbesondere auf den 26. Brief verwiesen, ferner auf Kegels Ästhetik, I. Band, Einleitung und auf Hartmanns „Philosophie des Schönen“, wo auf den ersten 38 Seiten mit unvergleichlicher Klarheit alles über diesen Gegenstand gesagt wird, was sein Verständnis erheischt.


Der Ausweg, welchen der in die dialektischen Widersprüche der natürlichen und Zivilisatorischen Bedingtheit verstrickte Mensch vergebens gesucht hatte, wurde mit dem ästhetischen Verhalten gefunden. Der Schein befreit den Menschen in zweierlei Hinsicht: erstens von der realen Naturbedingtheit, zweitens von der Illusion. Solange der Mensch im Naturzustand verharrte, konnte er sich der Kausalität, die alle natürlichen Dinge und Erscheinungsformen durchwaltet, in keinerlei Sinn entziehen. Solange er sich ausschließlich praktisch verhielt, wurde er ebenfalls unbarmherzig mitbetroffen von jeder realen Veränderung des von ihm gewollten Zustandes. Indem er aber diesem realen Verhältnisse entsagt, stellt er sich im Geiste über die Natur. Die Dinge, welche er in ihren reinen Schein aufgelöst hat, vermögen ihn gerade solange nicht in ihre Beziehungen zu verwirken, als er sich ästhetisch zu ihnen verhält. Allerdings sind auch hier die Beziehungen sowohl der Dinge untereinander als derselben zum Menschen nicht unterbrochen, sie sind nur ihrer Realität entkleidet und zur Scheinhaftigkeit verklärt. Es ist keine reale Befreiung, welche sich über die überall herrschende Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit erheben könnte, sondern eine solche, welche die unverbrüchlichen Gesetze in sich selber aufhebt, indem sie auch für den reinen Schein ihre Unumgänglichkeit anerkennt. Daher haben auch Schiller und Schelling in gleich tiefsinniger und in gleich gültiger Weise den Schein als die Versöhnung und Synthese von Freiheit und Notwendigkeit gedeutet.

Aber das ästhetische Verhalten errettet den Menschen nicht nur aus dem peinlichen Zwange der realen Naturabhängigkeit, sondern es befreit ihn auch von der dämonischen Allmacht der Illusion. Wenn das Wesen der Illusion darin beruht, dass sie den menschlichen Willen durch Vorstellungen motiviert, welchen keine objektiv realen Korrelate in der Wirklichkeit entsprechen, so gründet sich das ästhetische Verhalten gerade darauf, dass es der Illusion den Stachel der Täuschung raubt, indem es von jenem objektiv realen Korrelate der subjektiven Vorstellungsinhalte absieht. Wenn die Illusion deshalb täuscht, weil sie mehr zu sein vorgibt, als ein bloß subjektiver Bewusstseinsinhalt, so ist der ästhetische Schein gerade deshalb wahr, weil er darauf verzichtet hat, etwas anderes zu sein als Schein. Man liebt den Schein, „weil er Schein ist, und nicht weil man ihn für etwas Besseres hält“, sagt Schiller und er schließt hiermit den letzten Unterschied auf, der den Schein von der Illusion trennt. So wird der Glaube an ein unendliches menschliches Glück im verklärenden Glanze dieses schönen Scheins zum Märchen; lächelnd schenkt der Mensch die Anwartschaft auf die Glückseligkeit, ihm selbst versagt, einer Welt von unter- und übermenschlichen Kreaturen. Und hier mag er in den silbernen Gärten eitles ewigen Frühlings lässig wandeln, wo in süßen Nächten der Tau des Mondes auf die Büsche fällt, und ruhend sein Haupt in den Schoss der Geliebten stützen. Der Glaube an die himmlischen Genüsse des ewigen Gottesreichs wird zur Legende, furchtlos darf der Mensch von der Nutznießung des göttlichen Reiches träumen, die ihm in Wirklichkeit versagt ist, zu teilen. „Dort wo du nicht bist, ist das Glück“ — das will heißen: es ist da, wo die Realität aufhört, und es ist eine sehr alte, offenbare Wahrheit, dass es nur zu uns kommen darf im Traum.

      „Selbst das Höchste, was irdischem Los
      Je erreichbar von Glück, es ist
      Doch ein Traum nur des Glückes “
singt Sophokles.

Straflos, ohne Scheu vor einer folgenden Enttäuschung darf der Schein all den zertrümmerten Inhalt der einstigen Illusionen in sich aufnehmen und wieder verlebendigen, und alles, was Gott und die Natur dem Menschen versagte, darf er seinem Kunstwerk geben. Erst dieser Vorgang klärt uns auf über das unendlich Rührende einiger romantischer Kunstwerke, die den Menschen in dem Zustand einer idyllischen Unschuld und Glücklichkeit darstellen. So hat die naive Reinheit der Gestalten des Eichendorff, Lortzings und Nicolais oder Moritz von Schwinds trotz des Hauches bürgerlicher Philistrosität etwas seltsam Erschütterndes: sie atmen eine Atmosphäre, deren köstliche Lauterkeit und Natürlichkeit uns versagt ist und nach der, wenn wir doch ehrlich sein wollten, alle stillen Wünsche in uns gerichtet sind — freilich vergebens. Und auch dieses mag gut so sein. — Was somit früher Gegenstand des Glaubens war, wird jetzt ein Gegenstand des Schauens, dessen rein erdichteter Wahrheit man sich bewusst bleibt.

So wird uns auch hier wieder deutlich, was uns schon oben zum Bewusstsein kam: dass der ästhetische Schein die höhere Wahrheit für sich habe, „denn (der Mensch) kann den Schein nicht von der Wirklichkeit reinigen , ohne die Wirklichkeit von dem Scheine frei zu machen“. Je mehr der Mensch die Forderungen, welche ihm die Wirklichkeit nie erfüllen mag, in den Schein des Kunstwerks verwandelt, desto mehr sondert er das Illusorische seines Daseins von der Realität und schränkt das Herrschaftsgebiet des ersteren immer weiter ein. Der Vorgang, den wir im einzelnen Künstler bis zu voller Sinnfälligkeit entwickelt finden und der in einer ästhetischen Befreiung von allen realen Widerstreiten besteht *), ist somit von mikrokosmischer Bedeutung und kehrt in großem Maßstab im Dasein der Menschen wieder. In diesem Sinne sehen wir in der menschlichen Entwicklung den Schein von der Realität immer schroffer gesondert. Wenn das Volk im Zustande seiner Mythenbildung in unklarer Weise Wahrheit und Schein vermengte, wenn in Griechenland der Unterschied zwischen dem Kunstwerke und dem Leben kaum anzugeben war und beides mit fließenden Grenzen ineinander überging, so bedeutet uns heute das Verharren in dem ästhetischen Verhalten eine vollständig andere Welt. Gerade weil wir die Bedeutung des ästhetischen Scheins zu würdigen wissen als eine Befreiung von der Naturkausalität und der Illusion, müssen wir auf seine Scheidung von der Lebens Wirklichkeit achten. Nichts kann uns daher frivoler dünken als die Hoffnung Nietzsches, das Leben in ein ästhetisches Spiel zu verwandeln, weil der Mensch hiermit die in einem mühseligen Entwicklungsgeschehen vollbrachte Trennung dessen, was Realität und dessen, was Schein ist, wiederum opfern müsste. Nur dann ist „die wahre Kunst die höchste Freiheit“, wie sie durch Richard Wagner bestimmt wurde, wenn ihr Dasein ein dem Leben und seiner Wirklichkeit selbständig Entrissenes sein darf.

*) Man nennt gewöhnlich Goethe, wenn man diesen Vorgang am deutlichsten vor Augen führen will. Allein er ist in jedem Künstler häufig und am wunderbarsten hat er sich vielleicht in Dante geäußert, der sich von dem furchtbaren Schmerz um die Geliebte befreit, indem er seine Liebe künstlerisch umdeutet zu dem tiefsten Symbol des Menschenlebens überhaupt: zu dem der Gnade. Diese Tat Dantes ist um so grösser, als sie das „reale Gesetz“ — hier die Liebe einer Frau, durchaus nicht aufhebt, sondern nur m seinem Wesen sich ausreifen lässt in höchster künstlerischer Freiheit. Die im Schein symbolisierte Liebe ist wesentlich genau identisch mit Ihrem wirklichen Dasein, nur von der Realität losgelöst, d. h. von allen den realen Beziehungen, welche nur das Wesenhafte der Liebe trüben. Die Liebe ist Dante zur Gnade geworden, ohne dass er eine andere Gewaltsamkeit hätte vollbringen müssen als die Realität vom Schein, und diesen von jener zu trennen, d. h. nur durch die Gestaltung des Wesentlichen und Notwendigen. — Der Mensch aber, der das Beglückende dieses Vorganges begriffen hat, bedarf keines Gottes mehr, um die Dinge in Gold zu verwandeln.

Wir haben jetzt erkannt, dass der ästhetische Schein die erste Möglichkeit bedeutet, welche den Menschen dem Dilemma, vor das ihn die Zivilisation gestellt hat, entheben kann. Aber der Mensch kann in dem Zustand der ästhetischen Betrachtung nicht lange ausschließlich verharren. Das von allem praktischen Interesse befreite Anschauen des innewohnenden logischen Gehaltes der Dinge im Scheine kann ihn nur teilweise erfüllen. Wenn er einmal dazu gelangt ist, seine Aufmerksamkeit auf die wesenhafte Beschaffenheit der Dinge als solche zu richten und auf ihr in sich beruhendes Dasein zu achten, aus reiner Freude daran die Natur der Dinge zu begreifen, wird ihm die ästhetische Betrachtungsweise nicht mehr genügen können. Denn der Schein offenbart von dem Wesen der Dinge eben nur soviel, als er gleichzeitig davon verhüllt. Die logische, gesetzmäßige Essenz, die Entelechie ist im Scheine lediglich noch ein Mittel, den Menschen zum ästhetischen Verhalten zu zwingen, um die Sinnlichkeit als ideedurchwirkte der menschlichen Betrachtung wert zu machen. Sobald der Mensch die rein logische Natur des ideellen Gesetzes als den letzten Grund für sein ästhetisches Vergnügen zu ahnen beginnt, nötigt ihn sein Erkenntnistrieb zu einer ungeteilten Anteilnahme an dieser Gesetzmäßigkeit selbst. Daher sagen sowohl Platon als auch Plotin, dass wer einmal das Intelligible erkannt habe, nicht mehr zu der Schönheit zurückkehren möge — es sei denn, dass er sie von neuem als Stufe benutze, um wieder zu Jenem emporzusteigen. Und in der Tat kann die Schönheit nur einmal im Erziehungsgang der Menschheit, sowohl in dem der Gattung als auch in dem des Einzelnen — er sei denn Künstler — die schlechthinige Lebensäußerung selbst bedeuten. Vielleicht rührt von der Ahnung dieser kurzen Dauer die stille Wehmut, die unter der Heiterkeit verborgene Todesgewissheit her, welche einige große Männer auf den Zügen antiker Götterbilder gefunden haben wollen — vielleicht bedeutet sogar der furchtbare Pessimismus, welchen Neuere *) in der griechischen Lebensgestaltung erblicken, das Zeichen für tiefere Zusammenhänge mit der vornehmlich schauenden und künstlerischen Betrachtungsart dieses Volkes — — doch müssen wir uns versagen, hiervon zu reden, ,,denn wer wäre im stände, von der Fülle der Kindheit würdig zu sprechen!“

*) Namentlich Jakob Burckhardt, in dem letzten Kapitel des II. Bandes seiner „griechischen Kulturgeschichte“. Den sprechendsten Beweis für die Existenz eines tief wurzelnden Pessimismus liefern übrigens die griechischen Tragiker, namentlich Aeschylos und Sophokles. Das Verhältnis zum Optimismus von Seiten eines Volkes, dessen Dichter den „Agamemnon“ und den „Ödipos tyrannos“ geschrieben haben, ist kaum mehr zweifelhaft.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur