Das ästhetische Verhalten

Aber diese Selbstzwecksetzung der Dinge ist nicht mehr als eine negative Bedingung für das Entstehen eines veränderten Verhaltens. Indem der Mensch den Dingen die eigene Selbständigkeit zuerkennt, bricht er wohl alle die ehemaligen Nützlichkeitsbeziehungen ab — aber zunächst ohne neue an deren Stelle zu setzen. Der Mensch soll sich indessen nicht gleichgültig und leidenschaftslos zu seiner natürlichen Umgebung verhalten, es soll kein „interesseloses Wohlgefallen“ sein — dieser Widerspruch in sich selbst — welches er den Dingen widmet, sondern eine liebevolle Zuneigung zu ihrem Dasein, ein spannendes Interesse an ihrem in sich beschlossenen Wesen und Leben. Hier wird, der durchaus sinnlichen Natur des ursprünglichen Menschen angemessen, die rein sinnliche Seite der Dinge zuerst zu ihm sprechen. Aber wenn der Mensch die Sinnlichkeit der Dinge loslöst von all ihren realen Beziehungen zu ihm, vollzieht er unbewusst eine Abstraktion, deren nachhaltige Bedeutung er selbst erst viel später erkennen mag. Denn alle sinnlichen Qualitäten sind rein subjektiv, wie die Erkenntnistheorie seit Cartesius immer unwidersprechlicher erkannt hat, und die Dinge in ihrer reinen Sinnlichkeit sind nicht mehr als die subjektiven Bilder im Menschen — es ist nicht mehr das Ding als reale Ursache der wechselnden Beziehungen, zu welchem sich der Mensch verhält, sondern die Erscheinung, nicht mehr die Wirklichkeit, sondern der Schein. Wer sich der Betrachtung der sinnlichen Natur der Dinge mit ausschließendem Interesse hingibt, bezieht sich nicht mehr zu ihrer objektiven Realität, zu dem Etwas, was die Dinge bewegt und sie aufeinander und auf den Menschen wirken lässt, sondern zu deren Bewusstseinsbild, der als subjektiver Schein jene Realität vertritt. Es ist jetzt nicht mehr die Frage, wie sich die Dinge verhalten, sondern nur noch, welche Vorstellungen sie im Menschen auslösen und welche sinnlichen Eindrücke sie in ihm bewirken.

Indessen würde auch dieser sinnliche Schein in seiner Abgelöstheit von der wirkenden Realität noch keine tiefere Neigung erwecken und jenen starken Willen erregen, der sich ausschließlich der reinen Betrachtung hinzugeben begehrt, wenn er nicht eine geheime Verbindung ermittelte mit einem dem Menschen und dem Schein in gleicher Weise wesenhaft Identischen, wenn, durch die sinnliche Form des Scheins gebrochen, nicht eine ähnliche Beschaffenheit spräche, als wie sie auch im Kern des Menschen verborgen ist. Wir wissen ja längst, dass jede außerpraktische Beziehung zwischen dem Menschen und den Dingen nur entstehen kann durch eine gefühlsmäßige Ahnung oder eine begriffliche Erkenntnis einer grundliegenden Gleichheit ihres beiderseitigen Wesens, ohne welche eine Affektion von Seiten des Menschen gar nicht zu denken wäre. Wenn wir daher verlangen, dass der Mensch wahrhaft beschäftigt und erregt werde durch das sinnliche Dasein des reinen Scheins, so sprechen wir gleichzeitig die Existenz einer beiden innewohnenden Gleichheit und Einerleiheit aus, auf Grund derer die neuen Beziehungen geknüpft werden können. Soll dieser Schein ein mehr als oberflächliches und nur sinnliches Behagen im Menschen hervorrufen, soll er sich an den Menschen mit seiner ganzen inhaltlichen Gesamtheit wenden, so muss er auch mit derselben Inhaltlichkeit erfüllt sein, wie der Mensch selber: d. h. er muss logisch bestimmter, mit gesetzmäßiger Konkretheit durchwirkter sein. Wollen wir das Phänomen begreifen, von dem wir ausgehen: die Gefangennahme des vollständigen Menschen durch den sinnlichen Schein der Dinge, so darf dieser keine inhaltslose, leere Sinnlichkeit sein, sondern er muss von eben derselben konkreten Vernünftigkeit und Gesetzlichkeit sein, wie sie das Wesen des Menschen in all seinen mannigfachen Funktionen durchzieht. So erst wird uns das Geheimnis des neuen Wohlgefallens offenbar: die Gemeinschaftlichkeit der logischen Beziehungen ist das identische Glied der Vermittlung, auf Grund dessen überhaupt ein tieferes Verhältnis angebahnt werden kann. Jetzt erst ist ein wirklich neues Verhalten entstanden, und nicht nur ein passives Erleiden: es ist das ästhetische, d. h. die durch den Sinnenschein vermittelte Ahnung der identischen Logizität.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur