Das Wesen der Zivilisation

Mit dieser fortschreitenden Mittelbarmachung der Naturgesamtheit haben wir eine neue Richtung erkannt, welche der Mensch eingeschlagen hat, und wozu sein Verlassen der Natur unwiderstehlich treiben musste: es ist die menschliche Zivilisation, deren Wesen wir jetzt naher zu bestimmen haben.

Das erste charakteristische Merkmal aller Zivilisation ist, nach dem eben Gesagten, ihre Widernatürlichkeit. Die ganze Natur ist ein System von unbewusst innewohnenden Zwecken, der Mensch ist das erste Geschöpf, welches einen bewussten Zweck erfindet. Da der Mensch außer sich zunächst nichts wahrnimmt, dem er eine höhere Bedeutung einräumen könnte, muss dieser erste bewusste Zweck notwendig er selbst sein. Die Zivilisation ist demnach in ihrem ersten Entstehen ein Verrat, ein Abfall von der gesamten Natur, von allen untermenschlichen Gesetzen: sie ist der Kampf des Bewusstseins gegen das Unbewusste. Unter dem Unbewussten soll hier nichts anderes verstanden werden als die Gesamtheit aller naturimmanenten Zwecke, sofern sie außerhalb des Bewusstseins der Naturindividuen liegen. Hierin liegt die Wahrheit aller derjenigen Ahnungen, welche die Zivilisation als etwas Naturwidriges verurteilt haben. Alle Zivilisation ist Kampf gegen das Unbewusste *).


*) „Der Mensch“, sagt Schiller, „kann sich auf doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen, oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“ Der Mensch der Zivilisation ist demnach der Barbar. Diese Barbarei nimmt notwendig in dem Masse zu, als der Mensch den Zusammenhang mit seinem „Gefühl“, d. h. mit dem untrüglich sicheren Takte seines unbewussten Instinktes, verliert. Wer sich diese notwendige Einheit mit der mütterlichen Fürsorge des eigenen Unbewussten bis jetzt am längsten bewahrt hat, waren die Frauen, die auch hierin größer und tiefer waren als der oberflächliche Verstand des Mannes. Indessen haben auch die Frauen in wachsender Anzahl den Bruch mit ihrem Wesen vollzogen, eine Erscheinung von unheimlicher, furchtbarer Vorbedeutung für die zukünftige Gestaltung unseres Daseins. Der gegenwärtige Emanzipationsprozess bedeutet größtenteils nichts anderes als der endgültige Sieg der Zivilisatorischen Idee, die schrankenlose Verherrlichung des zum Prinzip erhobenen Egoismus. Nichts kann ergreifender den unermesslichen sittlichen Verfall versinnlichen, als diese Bewegung unter den Frauen. Haben die Männer seit dem Beginn des zweiten Drittels des XIX. Jahrhunderts die Initiative zu einem unaufhaltsamen Verfall in jeder Kundgebung sittlichen Lebens ergriffen, so gebührt am Ende des Jahrhunderts den Frauen die Anerkennung, die Führung dieser Entartung übernommen zu haben. Denn wer in unserer Gegenwart die Teilnahme an dieser zerrütteten Zivilisation begehrt, an einer bis ins Mark verdorbenen Öffentlichkeit des Lebens, der macht sich zum Mitschuldigen an der hereinbrechenden Katastrophe — und von dieser wesentlichen Mitschuld sind diese Frauen nicht freizusprechen. Ist es noch Niemanden unter Jenen, die hierfür kämpfen, eingefallen, wie tief unsittlich ihre Befreiung ist? Wahrlich, es wurde doch schon genug in der Freiheit Namen gesündigt.

Alle Wesen lauschen den Eingebungen desselben, überall bestimmt es die Handlungen, das Leben und alle Betätigungsformen der Individuen, nur der Mensch wagt es, sich nicht nur seinen Geboten zu entziehen, sondern die Autonomie des Bewusstseins zu behaupten. Die Natur ist deshalb das Reich der Notwendigkeit, weil kein Geschöpf sich gegen dieses Unbewusste empört, weil hier in Wahrheit alle Geschehnisse vorausbestimmt sind. Hingegen ist die Zivilisation in ihrem Umkreis die Heimat der Willkür, der Anarchie, denn alle Zwecke und Gesetze, welche dort dauernd ordnen und regeln, müssen hier erst erfunden werden.

Die Zwecke und Ziele dieser Willkür sind, wie auch in der Natur, praktischer Art. Der Mensch der Zivilisation verhält sich ausschließlich praktisch — ein Verhalten, welches damit charakterisiert ist, dass es die Realität der Dinge als Mittel zu dem sich Verhaltenden bezieht. Dieses praktische Verhalten, sofern es noch in der Zivilisation durch die bewusste Willkür des Menschen bedingt ist, begründet ein neues bezeichnendes Kriterium, welches den neuen menschlichen Zustand von aller Natürlichkeit entfernt. Wenn wir von einigen bewussten Absichten des Sichernährens u. s. f. absehen, so ist, wie wir schon vorhin bemerkt haben, das ganze Dasein des instinktbegabten Tieres ausschließlich dem ihm unbewussten Zweck der Gattung geweiht. Dieser einzige Zweck bestimmt mit ausschließender Eindeutigkeit alle ihm notwendigen Mittel. Das Instinktwesen verhält sich daher nur insofern zu den Dingen, als es die Rücksicht auf die Gattungsidee erheischt, und auch dann nur auf eine einzige, eben diesem Zweck angemessene Art: d. h. der Instinkt ergreift, wie Hartmann dargelegt hat, nur dasjenige Mittel, welches das absolut Zweckmäßigste ist — ohne Wahl, ohne langwierige und unsichere Versuche, unter dem unsichtbaren Zwang des Genius. Für diesen Instinkt gibt es infolgedessen auch keine Totalität von Dingen, zu welcher er sich verhalten müsste: er nimmt nur dasjenige wirklich wahr, d. h. er apperzipiert nur das, was als Mittel zu diesem Zwecke taugt; die ganze übrige Gesamtheit stört nicht die friedvolle Sicherheit seines Wesens. Aber dieses beschränkte Verhältnis zu den Dingen wird mit einem Male anders, wenn der Zweck ins Bewusstsein tritt, wenn die Wahl der Mittel nicht mehr Sache des Instinktes, sondern der bewussten Reflexion und Überlegung ist. Jetzt verändert die Natur der Dinge ihr Antlitz vollständig, sie verliert ihre Unschuld vor den Augen des Menschen: denn nun existiert in der ganzen Gesamtheit des wahrgenommenen Universums kein Ding, das nicht unmittelbar dem Zwecke einer zu steigernden Glückseligkeit dienlich sein könnte. Alles verwandelt sich zu einem möglichen Mittel, es gibt nichts, dessen sich der unersättliche Wille zur Zivilisation nicht bemächtigen könnte, und der gierige Glaube an die mögliche Eudämonie des Ichs hört nicht auf, nach brauchbaren Mitteln zur Erreichung seines Zieles umherzuspähen. Wie sich jenem Sohn des Dionysos in der antiken Sage alle Dinge in Gold verwandelt, haben, so hier dem Menschen des bewussten Zwecks in Mittel. Es dauert nicht lange, bis der Mensch sich selbst mit einer neuen Totalität von Dingen umgeben hat: mit derjenigen seiner Mittel zur Zivilisation. Eine schier unendliche Fülle von Beziehungen beginnt zu entstehen. Nicht nur die untermenschlichen Objektivationsstufen, nicht nur eine Menge selbst verfertigter Artefakte werden verbraucht, um das vorgestellte Ziel zu erreichen: der Mensch selbst sieht sich in dieses von ihm erzeugte System verstrickt, auch er verliert seine kaum errungene Befreiung von den Naturschranken wieder an Bedingungen und kausale Beziehungen, die ihn viel schmerzlicher fesseln als vorher die Natur. Denn jetzt ist es nicht mehr das blind unbewusste Fatum der Naturgesetzlichkeit, sondern der willkürliche menschliche Zweck, welcher den Menschen quält. Das praktische Verhalten, welches in dem Zustande der Unbewusstheit dem Naturwesen noch angemessen erschien, wird jetzt zu einem Fluch von unerhörter Grausamkeit, den Menschen von Mittel zu Mittel fortreißend, aus jedem erschaffenen und erfundenen Medium andere erzeugend, andere zur Notwendigkeit machend — ja, es bringt eine neue mechanische Ordnung der Dinge hervor, in deren Abhängigkeit sich der Mensch zum ersten Mal bewusst wird, dass er sein Glück nicht nur nicht erreicht hat, sondern einen Zustand erhöhter, vielfach gesteigerter Unfreiheit dagegen eintauschen musste. Hier dämmert die erschreckende Ahnung auf, dass das bewusste Motiv zur Zivilisation eine einzige, ungeheure Illusion war, dass der bewusste Zweck eine grausame Täuschung des Schicksals, eine Mystifikation des Menschengeistes sei. Einen anderen Zweck als sich kann der Mensch nicht ersehen, sein Bewusstsein hat ihn betrogen und das praktische Verhalten stürzt ihn in eine chaotische Welt zu erschaffender Beziehungen, die alle natürliche Schöpfungskraft seiner Seele lähmt: das ungefähr ist der Zustand des zivilisierten Menschen. Damit haben wir aber auch das Wesen der Zivilisation gedeutet: praktisches Verhalten, durch den bewussten Zweck der Glückseligkeit bestimmt.

Aber wir werden uns einen Augenblick jene Tragik vergegenwärtigen, welche in diesem Falle des Menschen liegt. Es ist zweifellos, dass der Mensch im Zustande der reinen Natürlichkeit sein höchstes Glück der vollendeten Einheit mit den tiefen Gesetzen seines Daseins genoss, dass damals für eine kurze Weile kein anderer Schmerz ihn berühren durfte als der einer verhängten Notwendigkeit — gerade damals, wo er von dieser Glückseligkeit kein Bewusstsein haben konnte. Als das Glück aber wie eine lockende Verheißung vor seinen leidenschaftlichen Wünschen aufstieg, sein Bewusstsein bereit, mit allen Fibern zu gemessen, die gespannteste Tätigkeit nur zu willig, nichts anderes als eben dieses Glück zu verwirklichen, da musste ihm langsam bewusst werden, dass jene einzige Möglichkeit seiner Eudämonie in eben jenem Augenblick erloschen war, als er begann, sich auf dieselbe zu besinnen, dass sein Glück nur so lange dauerte als seine bewusstlose Unfähigkeit, es zu gemessen.

Statt der positiven Glückseligkeit wird dem zivilisierten Menschen nicht nur ein Zustand bloß negativen Befreitseins, sondern sogar eine neue Lage voll positiver Unlust gegeben. Der Mensch, welcher der vermeintlichen Unvernunft der Natur gegenüber gehofft hatte, das alles zu verbessern, wenn er erst einmal dazu gelänge, von der Natur frei zu sein, er muss jetzt einsehen, dass „alles gut ist, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht und alles verdirbt unter den Händen des Menschen“. Das bewusste Motiv, auf welchem letzten Endes alle zivilisatorische Arbeit beruht, und welches die dem Menschen allein gegenwärtige Triebfeder darstellt, ist die Illusion, sofern es einen ganz entgegengesetzten Zustand erzeugt, als es versprochen hatte. Die Bedingtheit der Zivilisation durch ein frisch entstandenes Beziehungssystem praktischer Verknüpfungen erweist sich mithin zuletzt als die notwendige Folge des bewussten Motivs, d. h. die Bedingtheit der Zivilisation ist praktisches Verhalten als ein bedingtes durch die Illusion. Zivilisation ist das praktische Verhalten nur insoweit, als es durch die Illusion bedingt ist, d. h. durch den Glauben an die mögliche Verwirklichung der Glückseligkeit, aus dem Grunde, weil eine andere, nicht täuschende Bestimmung erst einer anderen, viel tieferen Erkenntnisart des Menschen entfließen kann — einer Anschauung und Betrachtung der Dinge, welche ihm aus seinem gegenwärtigen Verhalten allein nie offenbar zu werden vermag. Der Mensch, der die Illusion überwinden will, muss auch die Zivilisation erst überwunden haben und er kann diese nur verlassen, wenn er einen anderen Zweck entdeckt als den auf seine Ichheit bezogenen, d. h. auf seine individuelle Glückseligkeit hinweisenden. Aber gerade hierzu bedarf es einer Möglichkeit, über welche der zivilisierte Mensch als solcher nie verfügt. Die Zivilisation bietet mit anderen Worten dem Menschen keine Möglichkeit, aus ihr heraus sich selbst zu überwinden und einen Zustand herbeizuführen, der dem Menschen angemessen wäre. Die Zivilisation wiederholt deswegen auch denselben Vorgang, zu welchem die Natur den Menschen gezwungen hatte: sie führt ihn zu einem Augenblick, wo er mit ihr allein nur den deutlichen Verfall gewahr wird, wo sie ihm selbst keine Rettung, weil keine Steigerung und Befreiung seines Wesen verheißen kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur