Das Recht und die Zivilisation

„Es ist zu erwarten, dass schon das erste Entstehen einer rechtlichen Ordnung nicht dem Zufall, sondern einem Naturzwang überlassen war, der durch die allgemein ausgeübte Gewalttätigkeit herbeigeführt, die Menschen getrieben hat, eine solche Ordnung .... entstehen zu lassen“ („System des transzendentalen Idealismus“ S. 408). Mit diesen Worten gibt Schelling eine drastische Anschauung von den Ursprüngen jeder rechtlichen Ordnung. Diese ist zunächst nur als das notwendige Mittel zu begreifen, die mit der Zivilisation erweckten Individualinstinkte in jenen beständigen Gleichgewichtszustand einzudämmen, der zur Gestaltung des zivilisatorischen Gedankens unerlässlich ist. Auch in Ansehung des Rechts tritt an den Menschen die Anforderung heran, die unbewussten Naturgesetze, welche den Bestand der einzelnen Gattung durch eine zweckvolle Bemeisterung der individuellen Willkür zu verbürgen wussten, zu ersetzen durch die Normen der bewussten Vernunft — auch hier war die Übernahme dieser bewussten Ordnung vielmehr ein Gebot des Zwanges als eine Kundgebung der menschlichen Freiheit. Das Recht als Ordnung entspricht im menschlichen Bewusstsein daher zuerst einem notwendigen Mittel, von dessen Verwirklichung alle weitere Entwicklung der Zivilisation als abhängig empfunden wird. Der Zivilisatorische Trieb einer praktischen Glückseligkeit, der im Verlauf seiner Entfaltung selbst wieder zu einem Instinkt des Menschen wird, birgt in sich im höchsten Grade die Möglichkeit der Anarchie, da er auf dem gesteigerten Selbstbewusstsein der einzelnen Persönlichkeit beruht. Würde dieser Trieb keine andere Schranke gewahr als diejenige, welche in der Summe aller anderen inhaltlich ähnlich bestimmten Willenstendenzen besteht, so könnte er niemals positiv die Entstehung einer gesellschaftlichen Zivilisation verursachen, sondern nur ein wirres Durcheinander entfesselter Individualinstinkte — einen Zustand, den am treffendsten die italienische Renaissance versinnlicht.

Dass sich somit der Zivilisatorische Wille des Menschen zu einem lebensfähigen Organismus auswächst, dessen Struktur bestimmt ist durch den Staat, wird allein dem Dasein der Rechtsordnung verdankt, der gemeinsamen Idee des Rechtes. Danach könnte man leicht überzeugt sein, als sei auch das Recht — wie der Staat und das Wissen — nichts anderes als ein Mittel, dazu dienlich, der Zivilisation zum Dasein zu verhelfen. Aber wenn auch nicht zu leugnen ist, dass die Rechtsordnung in ihrer ersten Entstehung keinen anderen Zweck verfolgen kann als diesen, so schließt doch diese Bestimmung eine viel tiefere nicht aus. Die Rechtsordnung ist allerdings dazu berufen, die überspannten Individualtriebe zu bändigen und sie der gemeinsamen Lebensgestaltung einzufügen. Aber indem das Recht als anerkannte Ordnung seine alle umfassende Verbindlichkeit geltend macht, indem sich der Einzelne der allgemeinen Rechtsidee beugt, wird gleichzeitig der Inhalt dieser rechtlichen Bestimmung als ein solcher anerkannt, der über die Instinkte und Triebe erhaben ist, welchen die Zivilisation ihr Dasein verdankt. Gerade weil die Zivilisation erst durch das Recht entwickelt werden kann, indem die Gesamtheit der Individuen dem Rechtsgedanken eine schrankenlos gültige Verbindlichkeit zugesteht, offenbart sich das Recht als die bestimmende Idee und der Gedanke der Gerechtigkeit als den über die Glückseligkeit des Einzelnen triumphierenden.


Das Bewusstsein der Menschen muss sich für eine Zeitlang der Täuschung hingeben, als sei das Recht lediglich ein Regulativ der zivilisatorischen oder staatlichen Ordnung — ohne zu bedenken, dass dasjenige, was im Staate Ordnung heißt, schon dem Rechte zufällt, d. h. ihm sein Dasein verdankt. Das Recht verlangt zum ersten Mal, dem Menschen noch unbewusst, das Opfer der eigenen Eudämonie, welche wir als letztes Bewusstseinsziel aller Zivilisation erkannt haben, und das Recht gibt sich hiermit als der höhere Zweck kund, dem sich der Mensch willig unterordnet. Dadurch, dass der Mensch das Recht über sich anerkennt, dass er es zu einer unbedingt zu achtenden Ordnung erhebt, bekennt er, dass ihm über die Eudämonie die Rechtsidee erhaben ist — dass das Recht nicht um der Zivilisation und des Staates willen da ist, sondern der Staat und die Zivilisation für das Recht bestehen. Der Mensch, der sich des Rechtes bediente, um den Staat zu ermöglichen, gelangt langsam dazu, den Staat als das Gestalt gewordene Recht anzuschauen. Das Recht, das erstmals verwirklicht ward, weil es dem Staate unentbehrlich war, kann sich nicht durchsetzen, ohne den Staat in seinem innersten Wesen neu zu schaffen und zu regenerieren. Der Staat, der den zarten Organismus des nationalen Rechtsbewusstseins ausreifen lasst, ohne mit täppischer und roher Willkür in diesen geheiligten Prozess einzugreifen, erfährt selbst die innerste Umwandlung, wie jeder lebendige Organismus, der mit einem anderen schwanger geht. Es ist die erhabenste Aufgabe des Staates, das Recht, ursprünglich eine notwendige Konstitution zu seiner eigenen Möglichkeit, sich so entfalten zu lassen, dass es ihn selbst von Grund aus erneuert. Die Entwicklung des Rechts ist somit ein einziger Befreiungsprozess von seinem Abhängigkeitsverhältnis vom Staate. Ehemals durch ihn gerechtfertigt, sagt sich das ausgereifte Recht von den fundamentalen Grundlagen des Staates los, um diesen auf einer neuen, versittlichten Basis abermals erstehen zu lassen, wie ein Baum, der nährenden Erde entsprossen und in sie seine Wurzeln versenkend, mit seinem später entfalteten Wipfel den heimatlichen Boden beschattet und ihn neu befruchtet mit seinem trächtigen Samen. Wo der Staat daher darauf verharrt, das Recht als sein Mittel anzusehen, ist entweder dieses noch nicht entwickelt, oder jener schon verfault 1 ). Im Recht allein ist die Möglichkeit gegeben, den Staat in sich selber wiederzugebären, d. h. ihn auf eine andere Grundlage als die eudämonistische zu stellen. Nicht das Recht darf zum Staatsrecht werden, sondern der Staat muss Rechtsstaat sein.

*). Wie das Recht da unbedingt zum Verderben des Staates gedeihen muss, wo es zum technischen Hilfsmittel für denselben entwertet wird, hat Wilibald Hentschel überzeugend nachgewiesen in seinem „Varuna“, im letzten Kapitel des I. Bandes, „das römische Imperium“. Gerade das römische Recht ist zum Mittel der gemeinsamen Eudämonie geworden, weshalb es seine zerstörende Tendenz überall da entwickeln muss, wo es so willig aufgenommen wird wie in Deutschland. Hierüber findet der Leser in demselben Werke ein ergreifendes Kapitel, in welchem der deutsche Industriestaat als das Produkt eines semitisierten Rechtsbewusstseins dargestellt wird. Vgl. Band II. S. 337 ff.

So ist die Idee des Rechts die erste, die sich in ihrer wahren Bedeutung aus dem zivilisatorischen Willen nicht mehr ableiten lässt, weil ihr Inhalt nicht mehr das praktische Glück, die Eudämonie, sondern die Gerechtigkeit ausmacht. Das menschliche Bewusstsein hatte zu seinem Motiv die Eudämonie erkoren, aber indem diese den Menschen sofort der Anarchie zufallen lässt, wenn er sich nicht selbst beschränkt durch das Recht, erweist sich dieses als der höhere Zweck, der ohne des Menschen bewusstem Zutun aus jener ersteht. Wo einmal das Recht, d. h. seine ihm zu Grunde liegende Idee der Gerechtigkeit, zur meisternden Ordnung geworden ist, zu einem Organ der staatlichen Regeneration, bricht es der Zivilisation selbst die drohende Spitze ab, indem es den Menschen begreifen lässt, dass die vereinigende und aufbauende Idee seiner schöpferischen Gestaltungskraft nicht die Glückseligkeit — oder der willkürliche Instinkt des Einzelnen ist, sondern die Überzeugung von einer übermenschlichen Ordnung, die im Menschen zum Ausdruck gelangt. Das Recht will nicht mehr das Glück des Menschen, sondern die verwirklichte Gerechtigkeit, die nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit jedes Standes errichtete Ordnung — woraus schon hervorgeht, dass das Recht nicht abstrakte Gleichheit, sondern nach Ständen und Klassen unterschiedene Gegliedertheit fordert nach dem heiligen Grundsatz der Gerechtigkeit, wonach Jedem das Seine gebührt — der allerdings gegenwärtig so missgedeutet wird, als ob er Jedem das Gleiche verhieße.

Die Idee der Gerechtigkeit gibt dem Menschen zum ersten Mal wieder, seitdem er die Natur verlassen hat, ein Gesetz, das über ihn selbst hinaus weist. In einem höheren Sinne nähert er sich wieder der zurückliegenden Natürlichkeit, indem auch er wieder seine Willkür vor einem der großen Daseinsgesetze beugt. Langsam beginnt er zu begreifen, dass auch er zum Dienen berufen sei, dass der Zweck seines Daseins nicht er selber, sondern ein über ihm Seiendes ist, dessen geheimnisvolle Schwebungen er über sich erzittern fühlt und dem er sich demütig hingibt als einer neuen, fruchtbaren Bestimmung seines Lebens. Der Mensch, der im Rechte die neue Norm auffindet, welche von nun an seine Beziehungen bestimmen soll: die Gerechtigkeit, hat im Grunde auch mit der Zivilisation gebrochen. Soll er sich aber in Zukunft ganz der Verwirklichung des gerechten Staates widmen, soll er wirklich sein Dasein in all seinen Beziehungen gemäß dem aufgefundenen Gesetze läutern, so bedarf er eines immer wieder zu stärkenden Glaubens, einer ewigen Überzeugung an einen objektiven Geist. Damit hat der Mensch einen anderen Weg eingeschlagen, eine Richtung, die wir von jetzt an nicht mehr verlassen wollen und die in ihren wichtigsten Stadien zu verfolgen unsere nächste Beschäftigung sein soll.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur