Das Kriterium der wissenschaftlichen Evolution

Hier sind wir soweit gelangt, um das Kriterium für die Entwicklung der Wissenschaften bestimmen zu können. Dasselbe kann nicht die darwinistische Vorstellung eines sich immer reicher gliedernden Organismus sein, denn der Maßstab für die wissenschaftliche Entwicklung liegt nach dem Vorigen überhaupt nicht in der Wissenschaft selbst, sondern im erkennenden Wesen des Menschen, auf welches sie sich relativ bezieht. Wenn es irgendwo den Wahnsinn einer vollbrachten entwicklungsmäßigen Großtat zu zerstören gilt, so ist es hier, wo seit Jahrzehnten ein Merkmal zum Kriterium der wissenschaftlichen Entwickelung erhoben wurde, welches als solches auch rein gar nichts besagt. Die fortschreitende unterschiedliche Gliederung der Wissenschaften kann ebensogut ein Zeichen höchsten Aufschwunges als innerster Entartung sein — denn ob sich die Wissenschaften entwickeln im Sinne einer Aufwärtsbewegung, kann allein durch den Geist des Menschen entschieden werden, der sich ihrer bemächtigt. Eine Entfaltung, welche von einem überreichen menschlichen Geistesleben synthesiert wird, der Reichtum einer in sich mannigfach unterschiedenen Wissenschaft, den ein überlegenes mikrokosmisches Bewusstsein widerspiegelt und einheitlich in sich gestaltet, wird immer als Zeichen höchsten menschlichen Wertes erscheinen — aber eine endlose Materie aufgespeicherten Stoffes, mit der armseligen Hilflosigkeit und Rohheit des gegenwärtigen Geistes unorganisch vermengt, flößt höchstens den Ekel vor machtlosem Verfall ein. Mögen in unseren Tagen einige Wissenschaften gewonnen haben — der Geist, der über sie herrschen sollte, ist stumpf geworden, und ihr großer Zweck, die Befreiung des Subjektes der Erkenntnis, ist längst vergessen. Aber der tiefste Grund des grenzenlosen Zerfalls liegt darin, dass die Wissenschaft ihre Lossagung und ihren Abfall vom menschlichen Selbst vollziehen wollte und sich zum Zweck erhob, in sich das Kriterium ihres Wachstums finden wollte. Und dieses Phänomen leitet uns auf die Spur einer letzten Ursache: das Bewusstsein von dem unbewusst innewohnenden Selbst, vom Subjekte des Erkennens, ist verloren gegangen. Das Ich mit seinen praktischen Zwecken darf nicht Zweck des theoretischen Verhaltens sein, soviel hat man richtig erkannt — folglich musste die Wissenschaft auf sich selbst beruhen und das Maß ihrer Teleologie in ihr zu suchen sein, dies war der falsche Schluss. Die deutsche Philosophie am Anfänge des vorigen Jahrhunderts hatte in jenem unbewussten Schöpfer und Träger die letzten Zwecke der Geistesarbeit erkannt, ihrer Entdeckung, vielleicht der folgereichsten des Menschen, verdanken wir den herrlichen, kurzen Mitsommernachtstraum einer anbrechenden deutschen Kultur *).

*) Die Überzeugung von der Wichtigkeit dieses kurzen Zeitalters scheint just allgemach in weitere Kreise zu dringen. Das Unglück hat es gewollt, dass die pragmatischen Geschichtsschreiber das Andenken an jene Zeit elend verkümmert haben, weil sie sich ja daran gewöhnt haben, das politische Leben als Gradmesser einer Kultur zu betrachten. In meiner Schule war ein Professor, der uns Primanern allen Ernstes weiß machen wollte, dass die geradezu klägliche staatliche Schöpfung der konstitutionellen Monarchie das größte Geschenk des XIX. Jahrhunderts sei! — Indessen schreibt einer unserer gedankenreichsten und feinsinnigsten Gelehrten, ein Mann von seltenster Kultur des Geistes — Erwin Rohde: ,,Betrachtet man die erstaunlichen Befreiungstaten auf geistigem Gebiet am Ende des vorigen (XVIII.) Jahrhunderts: die Abwerfung künstlerischer, faul gewordener Routine durch Winckelmann, die fanatische Predigt eines Rousseau gegen eine unselige, von den Ahnen ererbte, kranke Verbildung in allen Dingen, Kants philosophischen Drachenkampf, seine fast übermenschliche (eigentlich zu verstehen) Erkenntnistat: dazu die positiven Neuschöpfungen, die ersten Boten einer neuen Zeit: Goethes unerhörte, eine neue Welt ankündigende Dichtung und Dichterexistenz, Beethovens, Mozarts Musik, und so vieles andere — so begreift man wohl, dass jene Recken eine abgelebte Zeit zu Markte trugen, eine neue ins Leben führen wollten: und ihr Prophet war vor allem Schiller. Daneben aber empfindet man es schmerzlich, wie seitdem keineswegs, nach vulgärer Meinung, die geistige Erhebung nur immer rüstig weitergegangen ist; vielmehr ist eine schreckliche Erschlaffung eingetreten: wir standen am Morgen einer neuen Weltkultur, die es vielleicht mit der griechischen aufgenommen hätte; aber ein trüber Regen fiel ein und verschleierte Alles. Jene Helden wollten uns eine neue Bildung bringen; und über Nacht haben wir nichts als eine neue Politik daraus gemacht!“ (Vgl. „Erwin Rohde“, von O. Crusius, S. 233/34, mitgeteilt unter „Cogitata“.) — Diesen so schönen und zutreffenden Worten haben wir nichts hinzuzufügen — es sei denn, dass die 30 Jahre, welche seit ihrer Niederschrift verflossen sind, eher noch Schlimmeres gebracht haben, und dass auch die „neue Politik“ ebenso schwankend und charakterlos geworden ist, wie die übrigen Zustände alle.


In der Pflege dieses Selbstes wurzelt unser deutscher Humanismus, der wundervolle Klassizismus Herders, Goethes und Schillers. Wenn der letztere die Frage aufwirft: „Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgend einen Zweck sich selbst zu versäumen?“, so gibt sein ganzes Leben die Antwort, wie wir dieses Selbst als letzten Zweck zu verstehen haben. Wenn wir das Wesen des Menschen je nach Maßgabe unserer Erkenntnisse richtig zu deuten verstünden, so behielte das erzieherische Ideal dieser Art Humanismus seine ewige Gültigkeit, solange überhaupt Menschen leben und schaffen. Aber das folgende Geschlecht, das von den alten Göttern nichts wusste und mit täppischer Brutalität die blühenden Beete zertrat, brachte den Verfall in dem Augenblick, wo es das Dasein eines unbewussten und objektiven Geistes leugnete, in dessen Selbstbewusstwerdung die Geschichte der Wissenschaften inbegriffen ruhte. Denn jetzt war der „Ort der wissenschaftlichen Teleologie“ verloren, jetzt konnte das Zeitalter der absoluten Wissenschaft und der absoluten Entartung aufdämmern, unter sich das junge Leben unseres Geistes begrabend. Von der Annahme und dem Glauben an das Unbewusste ist es daher abhängig, ob wir dem wahnsinnigen Treiben um uns Einhalt gebieten wollen und die Zwecke der Entwickelung abermals in uns suchen dürfen. Unsere deutsche Zukunft ruht ausschließlich auf dem Anschluss an die deutsche Philosophie, in dem Sinne, dass nur diese den Glauben an den objektiven und uns doch immanenten Zweck aller entwicklungsmäßigen Arbeit verbürgen kann durch das Dasein eines Allen innewohnenden und in Allen identischen unbewussten geistigen Selbstes.

Wir brauchen jetzt kaum noch darauf hinzuweisen, dass mit unserer Entscheidung auch der Streit über den Vorrang der Naturwissenschaft und Philosophie geschlichtet ist. Die Philosophie, die das Subjekt der Kategorien zum Objekte ihrer Erkenntnis erhebt, ist die Wissenschaft ... ..., eben weil sie vor allen geeignet ist, dem „Selbst“ das bewusste Spiegelbild seines Wesens entgegen zu halten, weil sie den Menschen zur Einheit und zum Grunde leitet und weil sie allein wahrhaft befreiend wirkt in dem Sinne, dass sie die Selbstbewusstwerdung des vieleinigen Selbstes bedeutet. Wer die Tatsache des Selbstes begriffen hat und die Aufgabe der Wissenschaft mit uns bestimmt, ist mithin jedem Zweifel über die Bedeutung der Philosophie in ihrer Beziehung zu den übrigen Wissenschaften enthoben — auch wenn er nicht die Probe machen dürfte durch einen Vergleich der esoterischen philosophischen Geister der Erde mit den anderen Menschen, zu denen sie sich verhalten wie die echten Gottespriester zu den Laien.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur