§. 15. Die Gletscherfrage

124. Ich möchte Sie jetzt bitten, einen Augenblick die Tatsachen in Betrachtung zu ziehen, in deren Besitz wir durch diesen Ausflug gekommen sind. Der Schnee, welchen wir in Gedanken durchwatet haben, ist der Schnee des letzten Winters und Frühlings. Hätten wir im vergangenen August ein geeignetes Zeichen auf der Oberfläche des Schnees gemacht, so würden wir es in diesem August in einer bestimmten Tiefe unter der Oberfläche finden. Ein guter Teil ist von der Sommersonne weggeschmolzen worden, aber ein ansehnlicher Teil vom Schnee bleibt zurück und wird fortdauern, bis der Schnee des kommenden Winters fällt und ihn bedeckt. Dieser wird wiederum zum Teil bis zum darauffolgenden August erhalten bleiben, und ein beträchtlicher Teil bleibt, bis er vom Schnee des folgenden Winters bedeckt wird. Wir kommen auf diese Weise zu dem sichern Schluss, dass auf dem Plateau des Col du Géant die Menge des jährlich fallenden Schnees die geschmolzene Menge übersteigt.

125. Wären wir im Monat April oder Mai gekommen, so würden wir den Gletscher unterhalb des Eisfalls ebenfalls mit Schnee bedeckt gefunden haben, welcher jetzt durch die Sommerhitze vollständig weggeräumt ist. Noch mehr, das Eis ist auf dieser Stelle sichtbar im Schmelzen und bildet laufende Bäche, welche Kanäle in das Eis schneiden und sich hier und da zu kleinen blaugrünen Seen ausdehnen. Hieraus können Sie mit Sicherheit schließen, dass unterhalb des Eisfalls die Menge der fallenden gefrorenen Masse geringer ist als die Menge der schmelzenden.


126. Und dies zwingt uns noch einen anderen Schluss auf: zwischen dem Gletscher unterhalb des Eisfalls und dem Plateau über demselben muss eine Linie bestehen, wo die Menge des fallenden Schnees genau gleich kommt der Menge des jährlich schmelzenden. Dies ist die Schneelinie. Auf einigen Gletschern ist sie ganz deutlich, und sie würde hier auch deutlich sichtbar sein, wenn das Eis weniger geborsten vmd verworren wäre als es gegenwärtig der Fall ist.

127. Der französische Ausdruck névé dient zur Bezeichnung der Eisregionen über der Schneelinie, während das Wort Gletscher (glacier) für das Eis unterhalb derselben gebraucht wird. So bilden die Schneefelder des Col du Géant das névé für den Gletscher du Géant und zum Teil auch für die Mer de glace. *)

128. Aber wenn jedes Jahr einen Rest Schnee ungeschmolzen auf dem Plateau des Col du Géant zurücklässt, so folgt daraus, dass das Plateau jährlich höher werden muss, vorausgesetzt, dass der Schnee auf demselben liegenbleibt. Ebenso sicher ist der Schluss, dass die ganze Länge des Gletschers unterhalb des Falles allmählich geringer werden müsste, wenn der Verbrauch des jährlich schmelzenden Schnees nicht ausgeglichen würde. Nehmen wir an, zwei Fuß Schnee blieben jährlich auf dem Col zurück; dies würde in fünftausend Jahren eine viel bedeutendere Höhe als die des Montblanc erzeugen. Eine solche Anhäufung würde stattfinden, wenn der Schnee auf dem Col liegen bliebe; aber die Anhäufung findet nicht statt, folglich bleibt der Schnee nicht auf dem Col. Die Frage ist nun, wo kommt er hin?

*) Dem französischen „névé“ entspricht das deutsche Wort ,,Firn“, welches in einigen Teilen der Schweiz üblich ist, während in Tirol der Gletscher selbst Firner oder Ferner genannt wird. Anmerkung des Herausgebers.