§. 14. Eiswasserfall und Schneefelder auf dem Col du Geant

119. Anstatt auf die Höhe, wo wir jetzt stehen, zu klettern, hätten wir unsern Weg auf der Mer de glace fortsetzen, um das Vorgebirge von Trélaporte herumgehen und den Gletscher du Geant gerade hinaufsteigen können. Wir würden Eis unter unseren Füßen bis zur höchsten Spitze des Wasserfalls gefunden haben. Es ist nicht so fest wie das Eis weiter unten, aber Sie würden sich nicht bedenken, es doch auch Eis zu nennen.

120. Während wir uns dem Fall nähern, verändert sich das glatte und ungebrochene Aussehen des Gletschers mehr und mehr. Wir begegnen querlaufenden Erhöhungen, die mit zunehmender Steilheit aufeinanderfolgen. Das Eis wird mehr und mehr gespalten und liegt verworren umher. Wir winden uns durch gekrümmte Schluchten, erklimmen ungeheure Eiswände und klettern vorsichtig an abbröckelnden Kämmen vorbei, während wir rechts und links von Rissen (crevasses) umgeben sind. Die Verwirrung nimmt zu, bis weiteres Vordringen in der Mitte des Gletschers unmöglich wird.


121. Aber mit Hilfe einer Axt, welche Stufen in die steileren Eiswände und Abhänge einhaut, können wir durch Abschweifen bald nach dieser, bald nach jener Seite des Gletschers uns bis auf die Spitze des Wasserfalls durcharbeiten. Wenn wir rechts hinaufsteigen, müssen wir uns vor den Eislawinen schützen, die zuweilen die Abhänge herunterdonnern; steigen wir links hinauf, so müssen wir uns vor den Steinen in Acht nehmen, welche sich von der Aiguille noire loslosen. Wenn wir den Wasserfall verlassen haben, müssen wir uns vor den Crevasses hüten, welche in einiger Entfernung über dem Fall fürchterlich gähnen. Aber mit Vorsicht können wir um sie herumkommen und sie zuweilen auf Schneebrücken überschreiten. Hier sind Geschicklichkeit und Kenntnis, welche nur durch lange Übung erlangt werden können, von Wichtigkeit, und hier ist die Anwendung des Alpenseils von selbst geraten. Denn nicht genug, dass die Schneebrücken oft schwach sind, so sind auch zuweilen ganze Crevasses bedeckt, und der unglückliche Reisende entdeckt erst ihr Dasein, wenn der Schnee unter seinen Füssen zusammenbricht. Viele Menschen haben auf diese Weise ihr Leben verloren, und zwar einige erst ganz kürzlich.

122. Sind wir erst auf dem Plateau oberhalb des Eisfalls, so finden wir die Oberfläche vollkommen verändert. Unter dem Fall gingen wir auf Eis; hier sind wir auf Schnee. Nach einem angenehmen, aber langen Aufsteigen erreichen wir einen Einschnitt in der Erhöhung, welcher die Grenze zwischen Schneefeld und Spitze bildet, und nun haben Sie Italien vor sich. Wir stehen auf dem berühmten Col du Géant.

123. Nicht unnütze Ausreißer, die in die Berge flüchteten, haben diesen wilden Schlupfwinkel zuerst bekannt gemacht; auch war es nicht das Bedürfnis nach Gesundheit, welches jetzt einige herlockt, oder die Freude an Großartigkeit und Schönheit, welche andere herbringt; noch der Wunsch, sagen zu können, dass sie einen Berg erklommen oder einen Gipfel erstiegen haben, welcher, wie ich fürchte, einen großen Teil anlockt; sondern es war der Drang nach Kenntnis, welcher die ersten Kundschafter hierher brachte, und auf diesem Col lebte der berühmte de Saussure siebzehn Tage, um wissenschaftliche Beobachtungen zu machen.