§. 12. Die Quelle des Arveiron. Eisspitzen, Türme und Klüfte des Gletschers des Bois. Weg auf den Montanvert

105. Unsere Vorstudien sind für jetzt beendet, und so wollen wir uns, auf die Weise unterrichtet, den Alpen nähern. Durch das Dorf Chamouni in Savoyen rauscht ein Fluss Namens Arve. Lassen Sie uns diesen Fluss rückwärts von Chamouni verfolgen. In einer kleinen Entfernung hinter dem Dorfe teilt sich der Fluss; der eine Arm heißt weiter die Arve, der andere wird Arveiron genannt. Indem wir dem letzteren folgen, kommen wir zu der sogenannten „Quelle des Arveiron“ in einer kleinen Stunde Wegs von Chamouni. Hier sind wir, wie schon bei Gelegenheit der Rhone berichtet wurde, einer Ungeheuern Eismasse gegenüber, dem Ende eines Gletschers, und aus einem Gewölbe im Eis entspringt der Arveiron. Man kann dem Bogen im Sommer nicht trauen. Sein Dach fällt von Zeit zu Zeit mit einem schrecklichen Krach zusammen und würde unfehlbar jeden zermalmen, auf den es fiele.

106. Wir müssen jetzt aufpassen. Wenn wir uns umschauen, finden wir vor dem Eise merkwürdige Haufen und Streifen von Geröll, welche mehr oder weniger kreisförmig angeordnet sind. Dies sind die letzten Moränen des Gletschers. Wir wollen sie später untersuchen.


107. Wir wenden uns jetzt nach links und steigen den Abhang neben dem Gletscher in die Höhe. Indem wir steigen, gewinnen wir eine bessere Ansicht und sehen, dass das Eis hier ein enges Tal ausfüllt. Wir kommen zu einer anderen seltsamen Erhöhung, nicht von so frischen Bruchstücken wie diejenigen weiter unten, sondern teilweise mit Bäumen bedeckt und ihrem Aussehen nach so „alt wie die Felsen“. Sie erzählt eine wunderbare Geschichte. Wir sind bald darüber klar, dass die Erhöhung eine alte Moräne ist, und schließen zugleich, dass der Gletscher in einer früheren Periode seines Daseins viel größer war als er jetzt ist. Diese alte Moräne erstreckt sich quer durch den Hauptteil des Tals und endigt an den Bergen der entgegengesetzten Seite.

108. Wenn wir am letzten Teil des Gletschers vorbeigekommen sind, welcher mit Steinen und Schutt bedeckt ist, befinden wir uns neben einer sehr bewunderungswürdigen Eisdarstellung. Der Gletscher steigt in einen steilen Schlund hinunter und wird dabei auf die außerordentlichste Weise gespalten und gebrochen. Hier sind Türme und Spitzen und phantastische Formen von der Einwirkung des Wetters ausgearbeitet, welche uns an rohe Architektur erinnern. Anbei folgt eine Zeichnung eines solchen Eiszackens. Aus den tiefen Abgründen des Gletschers schimmert ein zarter Schein von blauem Licht hervor. Zu Zeiten hören wir einen Ton wie Donner, welcher entweder aus dem Umfallen eines Eisturms oder von dem Fall eines großen Steins in einen Abgrund herrührt. Der Gletscher behält für einige Zeit diesen wilden, chaotischen Charakter, und die besten Gletscherbesteiger sehen sich bei einem Versuch, auf demselben weiter zu gelangen, machtlos.

109. Wir gelangen auf einen Platz, der Chapeau genannt, wo wir auf Verlangen in einer kleinen Berghütte Erfrischungen haben können. Wir übersteigen dann den Mauvais pas, einen steilen Felsen, an dessen Vorderseite Stufen ausgehauen sind, und der ungeübte Reisende wird durch ein Seil unterstützt. Wir verfolgen unseren Weg, teils an der Bergseite entlang, teils an einer Spalte von eigentümlich künstlichem Ansehen — eine Seitenmoräne. Wir erblicken zuletzt ein Haus, welches auf einer Erhöhung an der anderen Seite des Gletschers steht. Es ist dies das Wirtshaus von Montanvert, allen Besuchern dieses Teils der Alpen wohlbekannt.

110. Hier gehen wir über den Gletscher. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass der tiefere Teil, mit samt dem zerklüfteten Teil, über welchen wir gekommen sind, der Gletscher des Boia heißt; während der Platz, über welchen wir jetzt gehen wollen, der Anfang der Mer de glace ist. Sie bemerken, dass dieser Ausdruck nicht ganz geeignet ist, denn der Gletscher gleicht hier mehr einem Fluss von Eis als einem Meer. Das Tal, welches er ausfüllt, ist ungefähr eine halbe englische Meile breit.

111. Das Eis mag zuweilen springen, wo wir auftreten, aber bei gehöriger Vorsicht ist keine Schwierigkeit beim Besteigen dieses Teils der Mer de glace. Die Risse und Klüfte im Eis werden Crevasses genannt; wir werden sie in größerem Maßstab noch später kennen lernen.

112. Sehen Sie diese Seite des Gletschers an und nieder. Er ist sehr zerklüftet, aber je weiter wir vordringen, je weniger solcher Crevasses sind sichtbar, und auf der anderen Seite werden wir nur sehr wenige von ihnen finden. Merken Sie sich dies für spätere Anwendung. Das Eis ist anfangs schmutzig; aber der Schmutz verschwindet bald, und Sie gelangen auf die reine, raue Oberfläche des Gletschers. Sie haben schon bemerkt, dass das reine Eis hier weiß ist und in der Entfernung mehr dem Schnee als dem Eis gleicht. Dieses kommt von der Auflösung auf der Oberfläche durch die Sonnenwärme. Wenn Sie durchsichtiges Steinsalz zu Pulver stoßen, so wird es so weiß wie Speisesalz, und es sind die ungemein kleinen Risse, die auf der Oberfläche des Gletschers durch die Sonnenstrahlen erzeugt werden, welche das Eis weiß erscheinen lassen. Im Innern des Gletschers ist das Eis durchsichtig. Nach einem angenehmen Übergang gelangen wir auf die gegenüberliegende Seitenmoräne und steigen ihren steilen Abhang hinunter zu dem Montanvert-Wirtshaus.