§. 10. Atomische Pole

93. Was habe ich damit gemeint, wenn ich vorhin von „anziehenden und abstoßenden Polen“ sprach? Ich will versuchen, diese Frage zu beantworten. Sie wissen, dass die Geographen und Astronomen von den Polen der Erde sprechen, und Sie haben auch von den magnetischen Polen gehört, und Sie wissen, dass die Pole eines Magnets diejenigen Punkte des Magnets sind, an welchen die Anziehung, beziehlich die Abstoßung sich vereinigt zeigt.

94. Jeder Magnet besitzt zwei solcher Pole; und wenn Eisenfeilspäne auf einen Magnet gestreut werden, so erhält jedes Teilchen der Späne dadurch gleichfalls zwei Pole. Nehmen wir an, solche Teilchen würden ihrer Schwere beraubt und flögen in unserer Atmosphäre umher, was müsste geschehen, wenn sie sich einander nähern? Offenbar würden die sich abstoßenden Pole einander fliehen, und die sich anziehenden Pole sich nähern und sich zuletzt aneinanderschließen. Und nehmen wir an, die Teilchen hätten statt eines einzigen Paares mehrere Paare solcher Pole, welche an bestimmten Punkten ihrer Oberfläche angebracht sind, so können Sie sich vorstellen, dass sie sich infolge ihrer gegenseitigen Anziehung und Abstoßung zusammenordnen und Massen von bestimmter Form und bestimmtem Bau bilden werden.


95. Stellen Sie sich vor, die Moleküle des Wassers in ruhiger kalter Luft seien mit Polen dieser Art versehen, welche die Teilchen nötigen, sich in einer bestimmten Ordnung aneinanderzulegen, so haben Sie vor Ihrem geistigen Auge den unsichtbaren Aufbau, welcher zuletzt die sichtbaren und schönen Schneekristalle erzeugt. Unsere ersten Begriffe und Vorstellungen haben wir durch die sichtbaren Wirkungen des Magnetismus erlangt; und wir haben dann unsere Begriffe und Vorstellungen auf Teilchen übertragen, welche nie ein Auge gesehen hat. Die Kraft, durch welche wir uns auf diese Weise Wirkungen vorstellen, welche außer dem Bereich der Sinne liegen, nennen die Philosophen Einbildungskraft, und das Streben des Geistes, den unsichtbaren Aufbau der Kristalle zu erfassen, ist ein Beispiel für die wissenschaftliche Anwendung dieser Fähigkeit. Ohne Einbildungskraft würden wir wohl Kritik üben, aber die Wissenschaft nicht schöpferisch weiterbilden können.