§. 09. Gefüge des Schnees

85. Wir gleichen jetzt den Leuten, welche einen schweren Gipfel erstiegen und das Vergnügen einer weiten Aussicht genossen haben. Nachdem wir uns die notwendigen Bedingungen zur Herstellung des Bergschnees klargemacht haben, sind wir fähig, eine verständige und einsichtsvolle Ansicht von den Erscheinungen zu gewinnen, welche die Gletscher darbieten.

86. Wenige Worte sind jedoch noch nötig in Bezug auf die Bildung des Schnees. Die Moleküle und Atome aller Substanzen setzen sich bei freiem Spielraum in bestimmten und zum größten Teil schonen Formen, Kristalle genannt, zusammen. Eisen, Kupfer, Gold, Silber, Blei, Schwefel zeigen beim Schmelzen und allmählichen Abkühlen diese kristallisierende Kraft. Das Metall Wismut zeigt sie in besonders auffallender Weise, und wenn es richtig geschmolzen und verdichtet wird, bilden sich von selbst Kristalle von großem Umfang und großer Schönheit aus diesem Metalle.


87. Wenn Sie Salpeter in Wasser auflösen und die Lösung langsam verdunsten lassen, so können Sie große Kristalle erlangen, denn kein Teil des Salzes wird in Dampf verwandelt. Das Wasser unserer Atmosphäre ist ungesalzen, trotzdem es dem Seewasser entnommen ist. Zucker in Wasser aufgelöst, das man verdunsten lässt, liefert Kristalle von Zuckerkandis. Alaun kristallisiert auf dieselbe Art. Aufgelöste Kieselsteine, wie sie zuweilen in der Natur vorkommen, denen man gestattet zu kristallisieren, ergeben Prismen und Pyramiden von Bergkristall. Aufgelöster und kristallisierter Kalk liefert isländischen Spat. Der Diamant ist kristallisierte Kohle. Alle unsere wertvollen Steine, der Rubin, Saphir, Beryll; Topas, Smaragd sind Beispiele für diese Kristallisationsfähigkeit.

88. Sie haben von der Schwerkraft gehört und wissen, dass sie in der Anziehung jedes Stoffteilchens auf jedes andere Teilchen besteht. Sie wissen, dass die Planeten und Monde durch diese Anziehungskraft in ihren Bahnen gehalten werden. Die Schwerkraft ist aber nur eine sehr einfache Sache im Vergleich zu der Kraft, oder besser zu den Kräften der Kristallisation. Denn hier zeigen sich die unendlich kleinen Teile der Materie, so unbegreiflich klein wie sie sind, im Besitz von anziehenden und abstoßenden Polen, durch deren wechselseitige Tätigkeit der Bau und die Form des Kristalls bestimmt werden. In dem festen Zustand sind die sich anziehenden Pole fest aneinandergeschlossen; aber bei genügend angewandter Wärme wird das Vereinigungsband gelöst, und in dem Zustande des Schmelzens werden die Pole so weit auseinandergetrieben, dass einer aus dem Wirkungsbereich des andern kommt. Die natürliche Neigung der Moleküle, sich aneinanderzuheften, wird auf diese Art aufgehoben.

89. Dies ist der Fall mit Wasser, welches als eine Flüssigkeit, allem Anschein nach, formlos ist. Wenn es genügend abgekühlt wird, werden die Moleküle dem Spiel der kristallisierenden Kraft unterworfen und reihen sich zu Formen von unbeschreiblicher Schönheit zusammen. Wenn Schnee in ruhiger Luft erzeugt wird, so setzen sich die Eisteilchen zu schöner Sternenform zusammen; jedes Sternchen hat sechs Zacken. Es gibt keine Abweichung von diesem Typus, obwohl in anderer Beziehung die Erscheinungen der Schneesternchen sehr verschieden sind. In den Polargegenden wurden diese ausgezeichneten Formen von Dr. Scoresby beobachtet, welcher zahlreiche Zeichnungen von ihnen machte. Ich habe sie im Winter beobachtet, wenn sie die Luft erfüllt und die Abhänge der Alpen bedeckt hatten. Aber in England kann man sie auch sehen, und keine meiner Worte können einen so lebendigen Eindruck von ihrer Schönheit hervorbringen, als es die beigefügten Zeichnungen einiger derselben von Herrn Glaisher in Greenwich tun (S. 38).

90. Es lohnt sich einen Augenblick halt zu machen und darüber nachzudenken, welch ein bewundernswürdiges Werk sich in der Atmosphäre während der Bildung und dem Herunterkommen eines jeden Schneefalls vollzieht; welch eine aufbauende Kraft treibt ihr Spiel, und wie im vollkommen erscheinen die Erzeugnisse von Menschengeist und Menschenhand, wenn man sie mit jenen vergleicht, welche durch die blinden Kräfte der Natur gebildet werden!

91. Aber wer wagt es, die Kräfte der Natur blind zu nennen? In der Tat, wenn wir dies sagen, beschreiben wir unsern eigenen Zustand. Die Blindheit ist auf unserer Seite, und was wir wirklich sagen und gestehen sollten, ist, dass unsere Kräfte vollkommen unfähig sind, weder den Ursprung noch das Ende der Naturvorgänge zu verstehen.

92. Aber indem wir so unsere Grenzen anerkennen, haben wir auch Grund, den Umfang zu bewundern, in welchem die Wissenschaft das System der Natur bewältigt hat. Von Zeitalter zu Zeitalter, von Geschlecht zu Geschlecht ist eine Tatsache an die andere, ein Gesetz an das andere gefügt worden, und hierdurch der wahre Plan und die Ordnung des Weltalls mehr und mehr enthüllt worden. Indem sie dies tat, ist die Wissenschaft vielerlei Arten von Vorurteil und Ränken, Leichtgläubigkeit und Betrügereien begegnet und musste sie bewältigen. Aber die Welt erzeugt fortwährend schwache Menschen und böse Menschen, und solange als diese nebeneinander fortleben werden, wie sie es heutigen Tags tun, solange werden auch verderbliche Meinungen fortfahren, die Welt zu belästigen.