§. 06. Verdunstung des Meerwassers

56. Sie wissen, dass in England die Sonne nie im Scheitelpunkte steht. Aber am Äquator und innerhalb gewisser Grenzen nördlich und südlich von ihm steht die Sonne zu gewissen Zeiten des Jahres am Mittag vollkommen im Scheitelpunkte. Diese Grenzen werden die Wendekreise des Steinbocks und des Krebses genannt. Auf den Gürtel, welcher zwischen diesen beiden Kreisen liegt, fallen die Sonnenstrahlen mit ihrer ganzen Macht; denn hier schießen sie gerade herunter und erhitzen Erde und See mehr, als wenn sie schief auffallen.

57. Wenn die Sonnenstrahlen senkrecht auf das Land fallen, so erhitzen sie es sehr, und die Luft, welche in Berührung mit dem warmen Boden ist, wird ebenfalls erwärmt. Aber erwärmte Luft dehnt sich aus, und ausgedehnte wird leichter. Diese leichtere Luft steigt durch die schwerere Luft hindurch in die Höhe wie Holz, das in Wasser geworfen wird.


58. Wenn die Sonnenstrahlen auf das Meer fallen, wird das Wasser erwärmt, obgleich nicht in demselben Grade wie das Land. Das erwärmte Wasser dehnt sich aus, wird dadurch leichter und schwimmt daher auf der Oberfläche. Diese obere Schicht des Wassers erwärmt in einigem Umfang die Luft, mit welcher sie in Berührung steht, aber sie sendet auch eine Menge wässerigen Dampfes in die Höhe, welcher, leichter als die Luft, letzterer das Aufsteigen erleichtert. So haben wir sowohl vom Land als vom Meer aufsteigende Ströme, welche durch die Tätigkeit der Sonne erzeugt werden.

59. Wenn sie eine gewisse Höhe in der Atmosphäre erreicht haben, teilen sich diese Ströme und gehen teils nach Norden, teils nach Süden, während von Norden und Süden ein Strom schwererer und kälterer Luft eintritt, um den Raum der aufgestiegenen warmen Luft auszufüllen.

60. Ununterbrochener Kreislauf ist auf diese Weise in der Atmosphäre hergestellt. Die Äquatorialluft und der Dampf fließen oben gegen die Nord- und Südpole, während die Polarluft unten gegen den Äquator hinfließt. Die beiden so entstandenen Ströme heißen die oberen und unteren Passatwinde.

61. Aber bevor die Luft von den Polen zurückkehrt, sind große Veränderungen mit ihr vorgegangen. Denn als die Luft die Äquatorialgegenden verließ, war sie mit Wasserdampf beladen, welcher in den kalten Polargegenden nicht bestehen konnte. Hier wurde er niedergeschlagen und fiel zuweilen als Regen oder häufiger als Schnee. Das Land in der Nähe des Pols ist mit diesem Schnee bedeckt, welcher weite Gletscher erzeugt; auf welche Art dies geschieht, wollen wir weiter unten erklären.

62. Es ist nötig, dass Sie eine vollkommen klare Vorstellung von diesem Vorgang erhalten, denn es sind große Irrtümer begangen worden in Bezug auf die Art, in welcher die Gletscher mit der Sonnenwärme in Verbindung gebracht worden sind.

63. Man hat vermutet, dass wenn die Sonnenwärme vermindert würde, größere Gletscher als die jetzt bestehenden erzeugt werden könnten. Aber die Verminderung der Sonnenwärme würde unfehlbar die Menge des Wasserdampfes verringern und dadurch die Gletscher an ihrer Quelle abschneiden. Ein kurzes Beispiel wird Ihnen dies vollständig klarmachen.

64. In dem Vorgang des gewöhnlichen Destillierens wird die Flüssigkeit, welche destilliert werden soll, in dem einen Gefäß erwärmt und in Dampf verwandelt und in einem andern abgekühlt und wieder in Flüssigkeit zurückverwandelt. Was vorhin festgestellt wurde, zeigt klar, dass die Erde und ihre Atmosphäre einen großen Destillationsapparat bilden, in welchem der Ozean in der Gegend des Äquators die Rolle des Kessels spielt und die Eisregionen der Pole die Rolle des Verdichters. In diesem Destillationsvorgang spielt die Wärme eine ebenso wichtige Rolle wie die Kälte, und bevor Bischof Heber von „Grönlands Eisbergen“ sprechen konnte, musste der tropische Teil des Ozeans von der Sonne erwärmt werden. Wir werden über diese Frage später noch mehr zu sagen haben.

Erläuternde Versuche.

65. Ich habe gesagt, dass die Luft, wenn sie erwärmt wird, sich ausdehnt. Wenn Sie dies selbst untersuchen wollen, dann verfahren Sie folgendermaßen. Nehmen Sie eine leere Flasche, verschließen Sie dieselbe mit einem Kork; stecken Sie durch den Kork eine enge Glasröhre. Indem Sie die Röhre in einer Spirituslampe erhitzen, können Sie dieselbe nach unten biegen, sodass, wenn die Flasche aufrecht steht, das offene Ende der engen Röhre in Wasser getaucht werden kann. Nun wenden Sie die Flamme Ihrer Spirituslampe gegen die Flasche. Die Flamme erwärmt das Glas, das Glas erwärmt die Luft; die Luft dehnt sich aus, wird durch die enge Rohre getrieben und entweicht durch einen Strom von Blasen aus dem Wasser.

66. Wäre die erwärmte Luft nicht eingeschlossen, dann würde sie in die schwerere kalte Luft emporsteigen. Lassen Sie einen Sonnenstrahl oder irgendeinen andern starken Lichtstrahl auf eine weiße Wand oder weißen Schirm in einem dunkeln Zimmer fallen. Bringen Sie ein erwärmtes Schüreisen, eine Kerze oder eine Gasflamme unterhalb des Strahls. Ein aufsteigender Strom geht von dem erhitzten Körper durch den Strahl und die Wirkung der Luft auf das Licht ist so stark, dass man das Kräuseln und Wehen des Stroms auf dem Schirm deutlich wahrnimmt. Wenn die Luft heiß genug und somit leicht genug ist, kann man sie in einen Papiersack einfangen und sie trägt den Sack in die Hohe; auf diese Weise haben Sie einen Feuerballon.

67. Falten Sie zwei Blatt Papier in zwei Kegel und hängen Sie dieselben an ihren geschlossenen Spitzen oben an das Ende einer feinen Wage. Sehen Sie zu, dass die Kegel einander im Gleichgewicht halten. Dann stellen Sie für einen Augenblick eine Spirituslampe unter die offene Seite des einen; die heiße Luft steigt von der Lampe in die Hohe und stößt augenblicklich den über ihr befindlichen Kegel nach oben.

68. Führen Sie in eine umgekehrte Lampenglocke von Glas ein wenig Rauch ein. Nachdem Sie die Luft haben zur Ruhe kommen lassen, legen Sie die Hand einfach an die Öffnung der Glocke. Es entstehen hierdurch nachgeahmte Sturmwinde, welche von der durch die Hand erwärmten Luft hervorgebracht werden und welche vollkommen sichtbar sind, wenn der Rauch durch ein helles Licht beleuchtet wird.

69. Die Erwärmung der tropischen Luft durch die Sonne geschieht mittelbar. Die Sonnenstrahlen haben nur sehr geringe Kraft, um die Luft, durch welche sie gehen, zu erwärmen; aber sie erwärmen das Land und den Ozean, und diese teilen ihre Wärme der sie umgebenden Luft mit. Die Luft und der Dampf steigen mit der auf diese Weise erlangten Wärme beladen in die Hohe.