§. 01. Wolken, Regen und Flüsse

1. Jeder Erscheinung in der Natur gehen andere vorher, welche ihre Ursachen bilden, und folgen andere, welche ihre Wirkungen sind. Der menschliche Geist begnügt sich nicht mit der Beobachtung und der Untersuchung irgendeines natürlichen Vorganges allein, sondern wünscht jede natürliche Tatsache in Verbindung zu bringen mit dem, was vorhergegangen ist, und mit dem, was folgen wird.

2. So wird, wenn wir auf die Untersuchung von Flüssen und Gletschern eingehen, unsere Teilnahme sehr vermehrt werden, wenn wir nicht nur ihre gegenwärtigen Erscheinungen, sondern auch ihre Ursachen und Wirkungen ins Auge fassen.


3. Lassen Sie uns einen Fluss bis zu seiner Quelle verfolgen. Beginnen wir da, wo er sich in die See ergießt, und verfolgen ihn rückwärts, so finden wir, dass sich ihm von Zeit zu Zeit Nebenflüsse zugesellen, welche sein Wasser anschwellen. Der Fluss wird selbstverständlich hinter jedem solcher Nebenflüsse kleiner. Er schrumpft zuerst zu einem Flüsschen, dann zu einem Bach zusammen; dieser teilt sich wiederum in eine Anzahl kleinerer Bächlein, die dann in kleinen Wasserfäden endigen. Letztere bilden die Quelle des Flusses und werden gewöhnlich zwischen Bergen gefunden.

4. So hat der Severn seine Quelle in den Bergen von Wales; die Themse in den Cotswold-Hügeln; die Donau in den Bergen des Schwarzwaldes; der Rhein und die Rhône in den Alpen; der Ganges im Himalaja; der Euphrat nahe dem Berge Ararat; die Garonne in den Pyrenäen; die Elbe im Riesengebirge; der Missouri im Felsengebirge und der Amazonenstrom in den Anden von Peru.

5. Es ist aber ganz klar, dass wir bis jetzt noch nicht den wirklichen Anfang der Flüsse erreicht haben. Woher entlehnen die allerersten Bächlein ihr Wasser? Ein kurzer Aufenthalt in den Bergen würde Ihnen beweisen, dass sie vom Regen gespeist werden. Bei trockenem Wetter würden Sie die Bäche schwach, zuweilen sogar ganz ausgetrocknet finden. Bei nassem Wetter würden Sie reißende Ströme in ihnen sehen. Gewöhnlich verlieren sich diese Bäche als kleine Wasserfäden auf den Bergabhängen; aber zuweilen können Sie einen Fluss bis zu einer wirklichen Quelle verfolgen. Der Fluss Albula in der Schweiz z. B. stürzt bei seinem Ursprung in bedeutendem Umfang von einem Bergabhang. Aber Sie werden sich bald überzeugen, dass auch solche Quellen vom Regen gespeist werden, welcher durch die Felsen oder den Boden hindurchgesickert ist und welcher durch irgendeine Öffnung, die er gefunden oder gebildet hat, an das Licht des Tages kommt.

6. Aber wir können hier nicht endigen. Woher kommt der Regen, welcher die Bergbäche bildet? Beobachtung wird Sie in den Stand setzen, diese Frage zu beantworten. Regen fällt nicht aus klarem Himmel. Er kommt aus Wolken. Aber was sind Wolken? Gibt es nichts Ihnen Bekanntes, dem sie ähnlich sind? Sie entdecken sogleich eine Ähnlichkeit zwischen ihnen und dem verdichteten Dampf einer Lokomotive. Bei jedem Stoß der Maschine wird eine Wolke in die Luft geschleudert. Beobachten Sie die Wolke genau: Sie bemerken, dass sie sich erst in einer kleinen Entfernung von der Kappe des Schornsteins bildet. Geben Sie genau Acht und Sie werden zuweilen einen vollkommen klaren Raum zwischen dem Schornstein und der Wolke sehen. Durch diesen klaren Raum muss dasjenige, was die Wolke bildet, hindurchgehen. Was ist denn nun das Ding, das in einem Augenblick durchsichtig und unsichtbar ist und im nächsten Augenblick sichtbar wie eine dicke undurchsichtige Wolke wird?

7. Es ist der Wasserdampf aus dem Dampfkessel. Innerhalb dieses Kessels ist der Dampf durchsichtig und unsichtbar; um ihn aber in diesem unsichtbaren Zustande zu erhalten, ist eine ebenso große Hitze erforderlich wie diejenige in dem Kessel. Wenn der Dampf sich mit der kalten Luft oberhalb des heißen Schornsteins vermischt, hört er auf Dampf zu sein. Jeder Teil des Dampfes schrumpft durch die Abkühlung zu einem viel kleineren Teilchen Wasser zusammen. Die so entstandenen flüssigen Teilchen bilden eine Art Wasserdunst von außerordentlicher Feinheit, welcher in der Luft schwimmt und eine Wolke genannt wird.

8. Beobachten Sie die Wolkenfahne, die von dem Schornstein einer fahrenden Lokomotive ausgeht; Sie sehen sie allmählich weniger dicht werden. Zuletzt zerschmilzt sie vollständig, und wenn Sie Ihre Beobachtungen fortsetzen, so kann es Ihnen nicht entgehen, dass die Schnelligkeit ihres Verschwindens von der Beschaffenheit des Tages abhängt. Bei feuchtem Wetter hängt die Wolke lange und träge in der Luft; bei trockenem Wetter ist sie schnell aufgesogen. Was ist aus ihr geworden? Sie ist wieder umgewandelt worden in wirklichen unsichtbaren Dampf.

9. Je trockener und je heißer die Luft ist, desto größer ist die Menge von Wolken, welche auf diese Art in ihr aufgelöst werden können. Wenn die Wolke zuerst entsteht, ist ihre Menge viel größer als die Luft in einem unsichtbaren Zustande erhalten kann. Aber wenn sich die Wolke allmählich mit einer größeren Menge Luft vermischt, so wird sie mehr und mehr aufgelöst und geht zuletzt ganz und gar aus dem Zustand einer fein verteilten Flüssigkeit in denjenigen eines durchsichtigen Dampfes oder Gases über.

10. Machen Sie den Deckel eines Teekessels luftdicht und gestatten Sie dem Dampf aus der Röhre zu entweichen, so wird eine Wolke ausgestoßen werden, welche in jeder Beziehung derjenigen aus dem Schornstein einer Lokomotive ähnlich ist.

11. Gestatten Sie dem Dampf, wenn er aus der Röhre ausströmt, durch eine Spiritusflamme zu gehen, so wird die Wolke augenblicklich von der Hitze aufgelöst und nicht wieder niedergeschlagen. Mit einem eigens dazu gefertigten Kessel und Rohr kann man das Experiment schlagender machen, aber nicht lehrreicher als mit dem gewöhnlichen Kessel.

12. Betrachten Sie Ihre Schlafzimmerfenster, wenn das Wetter draußen sehr kalt ist; sie strömen dann zuweilen über von Wasser, das aus der Verdichtung des wässerigen. Dampfes Ihrer eigenen Lungen herstammt. Die Fenster von Eisenbahnwagen zeigen im Winter diese Verdichtung noch auf schlagendere Weise. Gießen Sie kaltes Wasser in ein trockenes Trinkglas an einem Sommertag: die äußere Oberfläche wird augenblicklich getrübt werden durch den Niederschlag von Feuchtigkeit. An einem warmen Tage bemerken Sie keinen Hauch vor Ihrem Munde, aber an einem kalten Tage bilden Sie eine kleine Wolke, welche von der Verdichtung des Wasserdampfes der Lungen herrührt.

13. Sie können in einem Ballsaal beobachten, dass, solange die Türe und Fenster geschlossen sind und das Zimmer heiß ist, die Luft klar bleibt; aber wenn die Türen oder Fenster geöffnet werden, wird eine Trübung sichtbar, welche durch den Niederschlag des wässerigen Dampfes des Ballsaales in Form von Nebel verursacht wird. Wenn das Wetter intensiv kalt ist, so kann der Eintritt von frischer Luft sogar Schneefall verursachen. Dies wurde in russischen Ballsälen beobachtet; und auch in den unterirdischen Ställen zu Erzerum, wenn die Türen geöffnet werden und der kalten Morgenluft der Eintritt gestattet ist.

14. Selbst am trockensten Tage fehlt dieser Dampf nie in unserer Atmosphäre. Der Dampf, welcher in der Luft dieses Zimmers aufgelöst ist, kann in Ihrer Gegenwart in Reif verwandelt werden. Dieses geschieht dadurch, dass man eine Schüssel mit einer Mischung von gestoßenem Eis und Salz füllt, welche kälter ist als Eis allein, und welche daher den wässerigen Dampf verdichtet und gefrieren macht. Die Oberfläche der Schüssel wird zuletzt mit einem gefrorenen Pelz bedeckt sein, welcher so dick ist, dass er abgekratzt und zu einem Schneeball geformt werden kann.

15. Um die Wolke zu erzeugen in dem Fall der Lokomotive und des Wasserkessels, ist Hitze notwendig. Wir verwandeln das Wasser zuerst durch Erwärmung in Dampf, und dann den Dampf durch Abkühlung in eine Wolke. Gibt es irgendein Feuer in der Natur, welches die Wolken unserer Atmosphäre erzeugt? Ja, es gibt ein solches: das Feuer der Sonne.

16. So gelangen wir, indem wir unsern Fluss von seinem Ende bis zu seinen wirklichen Anfängen rückwärts verfolgen, ohne irgendeine Unterbrechung in der Kette der Vorgänge, zuletzt zur Sonne.